Arzneimittel und Therapie

„Was kann ich neben meiner Chemo noch tun?“

Leitliniengerechte Beratung zur Komplementärmedizin in der Onkologie

Der Wunsch vieler Krebspatienten nach integrativen oder komplementären Heilmethoden ist ungebrochen, und nicht wenige von ihnen suchen Rat und Information in der Apotheke. Dieser Aufgabe nachzukommen, ist nicht immer einfach, da evidente Informationen oftmals schwierig aufzufinden und noch schwieriger zu bewerten sind. Mit der S3-Leitlinie zur Komplementärmedizin steht nun ein Nachschlagewerk zur Verfügung, in dem die unterschiedlichsten Sparten der Komplementärmedizin aufgeführt und nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin bewertet sind.
Foto: JPC-PROD/AdobeStock

Schätzungsweise jeder zweite Tumorpatient greift auf Methoden der alternativen oder komplementären Medizin zurück. Dennoch gibt es nur relativ wenige evidenzbasierte Informationsquellen, um die große Anzahl verschiedener Verfahren der komplementären und alternativen Medizin zu erfassen und zu bewerten. Hinzu kommt eine nur rudimentäre Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärzten und Apothekern zu diesem Themenkreis. Diese Wissenslücke soll nun mit der neu erstellten Leitlinie geschlossen werden (s. Kasten „Eckdaten zur Leitlinie“). Im Vergleich zu anderen Leitlinien fällt auf, dass für einige Schlüsselfragen trotz sorgfältiger Evidenzaufarbeitung nur wenige Daten gefunden wurden. Dies ist unter anderem dem Fehlen randomisierter klinischer Studien geschuldet; eine Beurteilung der klinischen Wirksamkeit ist demzufolge nicht möglich. Ferner weisen viele Studien nur eine geringe Probandenzahl auf, und häufig fehlt eine adäquate Vergleichsgruppe. Solche Studien sind methodisch kritisch zu betrachten, und die Interpretation der Ergebnisse ist damit eingeschränkt.

Eckdaten zur Leitlinie

Die S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“ wurde unter Federführung der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG), der Deutschen Ge­sellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) und der Deutschen Gesellschaft für Radioonkologie (DEGRO)“ erarbeitet. Dabei wurden 155 Empfehlungen bzw. Statements formuliert und in die Leitlinie aufgenommen. An ihrer Erstellung waren insgesamt 72 Experten - darunter auch Apotheker - aus 46 Fachgesellschaften und Organisationen beteiligt. Neben der Langversion mit 630 Seiten gibt es eine Kurzfassung, den Leitlinienreport zum Erstellungsprozess der Leitlinie sowie den Evidenzbericht mit Evidenztabellen.

Die Leitlinie trägt die AWMF-Registernummer 032/055OL; sie wurde veröffentlicht mit dem Stand 22. Juli 2021 und ist gültig bis 21. Juli 2026.

Inhalt der Leitlinie

Die Leitlinie ist in mehrere große Abschnitte gegliedert. Sie beginnt mit allgemeinen Angaben und Informationen zur Methodik des Vorgehens und einer Übersicht zu evidenzbasierten komplementären Therapien im Hinblick auf eine Symptombesserung und der Lebensqualität unter einer Tumortherapie. Dem schließen sich Themenblöcke an, die sich mit verschiedenen Verfahren befassen. Darunter fallen:

  • Medizinische Systeme: Akupunktur, Akupressur, anthro­posophische Medizin und Homöo­pathie sowie die fünf Säulen der klassischen Naturheilverfahren (Phytotherapie, Hydrotherapie, Ernährungstherapie, Bewegungstherapie und Ordnungstherapie)
  • Mind-Body-Verfahren: Meditation, Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, Tai Chi und Qigong sowie Yoga
  • Manipulative Körpertherapien: Bioenergiefeldtherapien (z. B. Reiki), Chirotherapie, Osteopathie, Cranio-Sacral-Therapie oder Hyperthermie, Reflextherapie, Schwedische Massage, Shiatsu/Tuina, Sport
  • Biologische Therapien: Einsatz von Vitaminen, Mineral­stoffen, sekundären Pflanzenstoffen und Phytotherapeutika, spezielle Ernährungsweisen (z. B. ketogene Diäten)

Symptomgerechte Behandlung

Die Übersicht zur Verbesserung der Symptome ist tabellarisch aufgebaut. Für über 30 Symptome wird für eine komplementäre Intervention eine bestimmte Empfehlungsstärke ausgesprochen. In weiteren Spalten werden die adressierten Patientengruppen sowie mögliche Anmerkungen aufgeführt. Die Empfehlungen beschränken sich auf „soll“, „kann“, „keine ausreichenden Daten für eine Empfehlung“, „soll nicht“ und „sollte nicht“. Es finden sich viele Kann-Empfehlungen, aber nur sehr wenige Soll-Empfehlungen. Unter Soll-Empfehlungen fallen körperliche Aktivität und Sport bei Fatigue und zur Verbesserung der Lebensqualität. Eine Kann-Empfehlung ist beispielsweise die Einnahme von Ingwer gegen Übelkeit und Erbrechen (zusätzlich zur leitliniengerechten Antiemese). Beispiele für eine Soll-nicht-Empfehlung sind die Einnahme von Vitamin E und Betacarotin während einer Radiotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren oder die Anwendung Aloe-vera-haltiger Externa zur Vorbeugung einer strahleninduzierten Dermatitis. Für anthroposophische Behandlungen wie die Einnahme natürlicher Präparate, Kunsttherapie, Musik- und Sprachtherapie, Heileurythmie, Diät, therapeutische Massage, Hydrotherapie und teilweise auch Misteltherapie zur Ver­besserung der Lebensqualität liegen keine ausreichenden Daten für Empfehlungen vor.

Die zahlreichen Hinweise, dass zu einer bestimmten Methode oder zu einem bestimmten Heilmittel keine ausreichenden Daten für das Aussprechen einer Empfehlung – egal ob negativer oder positiver Natur – existieren, zeigt das Dilemma der komplementären Medizin. Für die meisten Methoden liegen nur wenige wissenschaftliche Daten und nur selten Daten mit einem hohen Evidenzgrad vor. Anders ist die Situation bei der körperlichen Aktivität. Hier gibt es eine umfassende Datenlage, die den Benefit körperlicher Aktivität im Hinblick auf die Lebensqualität und teilweise im Hinblick auf das Überleben zeigt (s. Kasten „Wunderwaffe Sport“).

Wunderwaffe Sport

Für Sport und Bewegung werden die meisten positiven Empfehlungen ausgesprochen. So rät die Leitlinie onkologischen Patienten, unter und nach Abschluss der Krebstherapie körperliche Inaktivität zu vermeiden und so bald als möglich moderat bis anstrengend körperlich aktiv zu werden. Die Patienten sollten eine Anleitung zum Ausdauer-, Kraft-, Koordinations- und Beweglichkeitstraining erhalten. Durch körperliche Aktivität und Sport soll einer Fatigue vorgebeugt beziehungsweise diese gelindert werden. Ferner soll der Erhalt der Lebensqualität durch Bewegung und Sport unterstützt werden.

Foto: AlenKadr/AdobeStock

Biologische Therapien

Für die Beratung in der Apotheke dürfte das Kapitel zu den biologischen Therapien am wichtigsten sein, das aus drei Blöcken besteht. Block I bewertet Vitamine, Spurenelemente, Enzyme und Diäten, Block II befasst sich mit 16 Phytotherapeutika und Block III mit sekundären Inhaltsstoffen. Im Folgenden einige Beispiele:

Cimicifuga: Die Leitlinie verweist auf Daten aus randomisierten klinischen Studien zur Wirksamkeit von Cimicifuga racemosa zur Senkung der Therapie-assoziierten Morbidität bei Brustkrebs-Patientinnen. Hierunter fallen menopausale Symptome wie etwa Hitzewallungen. Die Studienergebnisse sind allerdings heterogen. Es gilt als gesichert, dass Cimicifuga keine phytoestrogenen Wirkungen aufweist, der Einsatz bei Hormon-abhängigen Tumoren folglich nicht kontraindiziert ist. Die Leitlinie kommt daher zum Schluss, dass die Gabe von Cimicifuga zur Senkung menopausaler Symptome erwogen werden kann.

Proteolytische Enzyme: Bromelain, Papain, Trypsin und Chymotrypsin wirken entzündungshemmend bei Therapie-assoziierten Nebenwirkungen. Die Studienergebnisse zur Verminderung der Strahlen-induzierten Mukositis sind widersprüchlich, Gleiches gilt für den Einfluss der Enzyme auf den Krankheitsverlauf und das Überleben. Die Leitlinie gibt daher keine Empfehlung zur Einnahme ab.

Granatapfel: Granatapfelextrakt enthält mehrere sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, darunter auch Estrogen-artige Stoffe. Prostatakarzinom-Patienten nehmen relativ häufig Granatapfelpräparate ein, da zwei Studien eine Verdoppelungszeit für den PSA-Wert ermittelten. Beide Studien sind indes klein und haben nur ein kurzes Follow-up; Daten zum Überleben liegen nicht vor. Daher spricht die Leitlinie keine Empfehlung für die Einnahme von Granatapfel aus.

Wann können Selen und Mistel empfohlen werden?

Selen: Bei Patienten mit fortgeschrittenen Kopf-Hals-Tumoren und bestehendem Selen-Defizit kann die Gabe von Natriumselenit erwogen werden, um einer Radiotherapie-assoziierten Mukositis vorzubeugen. Ebenfalls liegen Daten aus einer randomisierten kontrollierten Studie zur protektiven Wirkung von Natriumselenit bei Patientinnen mit Gebärmutter- oder Gebärmutterhalskrebs vor. Bei Selen-Defizit kann bei diesen Patientinnen zur Protektion Radiotherapie-assoziierter Nebenwirkungen eine Selen-­Gabe erwogen werden.

Mistel: Aus drei Übersichtsarbeiten oder Metaanalysen sowie einzelnen randomisierten klinischen Studien, in denen die Wirksamkeit von Mistel­extrakten zur Verlängerung der Gesamtüberlebenszeit von Krebspatienten mit unterschiedlichen Tumoren untersucht wurde, liegen keine einheitlichen Ergebnisse vor. Die Studien zeigen teilweise positive Ergebnisse, teilweise aber auch keine statistisch signifikante Wirksamkeit. Der Leit­linie zufolge reichen die Daten nicht für eine klare abschließende Bewertung aus. Somit kann keine Empfehlung für oder gegen eine Verordnung von Mistelextrakten mit dem Ziel der Verlängerung der Überlebenszeit gegeben werden. Hingegen kann die subkutane Gabe von Mistelgesamtextrakt zur Verbesserung der Lebensqualität bei Krebspatienten mit soliden Tumoren erwogen werden.

Ketogene Diät besser meiden

Unter einer ketogenen Diät versteht man einestark kohlenhydratreduzierte Ernährungsform, die häufig von onkologischen Patienten angewandt wird. Dahinter steht die Vorstellung, dass durch die verringerte Aufnahme kohlenhydratreicher Lebensmittel weniger Glucose als „Treibstoff“ für das Krebswachstum zur Verfügung steht. Das Risiko dieser Diät liegt in der verminderten Aufnahme von Energie, Makro- und Mikronährstoffen. In allen vorliegenden Studien (systematische Reviews und drei randomisierte klinische Studien) kam es zu einem Gewichtsverlust, der einer Mangelernährung gleichkommt. Das Fazit der Leitlinie: Eine ketogene Ernährung soll normalgewichtigen und untergewichtigen Patienten nicht empfohlen werden.

CAVE: Interaktionsgefahr!

Während einige Studien zeigen, dass sich die Anwendung komplementärmedizinischer Methoden günstig auf bestimmte Nebenwirkungen der onkologischen Therapie oder auf die Lebensqualität der Betroffenen auswirken kann, gibt es nur wenige Studien mit systematisch erfassten Daten zu potenziellen Schäden in Form von Nebenwirkungen und Interaktionen. Die Einnahme von Mitteln der Komplementärmedizin hat in nicht seltenen Fällen einen Einfluss auf das Ergebnis einer Tumortherapie. Die Wirkung der Onkologika kann verstärkt oder vermindert werden. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Bortezomib und grüner Tee: Das im Tee enthaltene Epigallocatechingallat, das eigentlich antikanzerogen wirken soll, antagonisiert gleichzeitig die antitumoralen Effekte des Proteasomeninhibitors Bortezomib. Hinzu kommen Nebenwirkungen, wie etwa durch einige Phytotherapeutika, die sich an bestimmten Organen manifestieren. Diese Nebenwirkungen werden möglicherweise nicht als primäre Folge der komplementären Therapie, sondern als Folge der Tumortherapie gedeutet. All dies kann zu Therapieentscheidungen führen, die für die Krebskranken erhebliche Konsequenzen haben, wenn etwa Tumortherapien geändert, reduziert oder abgesetzt werden.

Zu Interaktionen zwischen Onkologika und Mitteln der komplementären Medizin gibt es nur wenige systematische Erfassungen. Man schätzt aber, dass Wechselwirkungen bei einem Drittel aller Tumorpatienten wahrscheinlich sind. Hinzu kommt ein weiteres Drittel, bei denen eine Interaktion zumindest möglich erscheint. Um mögliche Wechselwirkungen zu erfassen, enthält die Leitlinie im Anhang einen Fragebogen, den Ärzte und Apotheker für einen Interaktionscheck nutzen können. In diesem Fragebogen sind Methoden der komplementären Medizin mit Hinweisen auf mögliche Interaktionen aufgeführt. Finden sich Hinweise auf eine Wechselwirkung, wird der Patient gebeten, diese dem behandelnden Arzt mitzuteilen.

Warnung vor Vitamin B17

Amygdalin (fälschlicherweise als „Vitamin B17“ bezeichnet) soll aufgrund der potenziell lebensbedrohlichen Nebenwirkungen nicht empfohlen werden. Bei Amygdalin (Laetrile/Aprikosenkerne) handelt es sich um eine cyanogene Glykosid-Pflanzenverbindung, die im Verdauungssystem in Benzaldehyd und Cyanid umgewandelt wird. Trotz seiner Toxizität wird Amygdalin von Befürwortern als ein „natürliches Krebsheilmittel“ beworben. Amygdalin- oder Laetrile-haltige Arzneimittel sind in Deutschland nicht zugelassen und werden vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als bedenklich eingestuft. Die Behauptungen, dass Laetril oder Amygdalin positive Auswirkungen auf Krebserkrankungen haben, werden nicht durch solide klinische Daten gestützt. Darüber hinaus besteht ein erhebliches Risiko für eine Cyanidvergiftung nach Laetril oder Amygdalin; dies nach intravenöser Applikation und oraler Einnahme.

Praktischer Anhang

Im Anhang finden sich unter anderem Empfehlungen zu komplementären Verfahren und Methoden; hier werden tabellarisch Positiv- und Negativ-­Empfehlungen zu unterschiedlichen Heilverfahren gelistet (s. Kasten ­„Warnung vor Vitamin B17“). Des Weiteren werden – ebenfalls in tabellarischer Form – positive und negative Empfehlungen zu Tumor-bedingten Symptomen und komplementären Verfahren und Methoden mit Angaben zur Empfehlungsstärke aufgeführt. Dieser ­Anhang kann als Ergänzung zu dem bereits im vorderen Teil der Leitlinie aufgeführten Kapitel zu der Wirksamkeit komplementärer Therapien bei einzelnen Symptomen gesehen werden. |

Literatur

Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen. S3-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), Deutschen Krebsgesellschaft e. V. (DKG). Stand: September 2021. AWMF-Registernummer: 032/055OL

Hübner J et al. Zentrale Empfehlungen und Statements der S3-Leitlinie zur komplementären Medizin für Patient*innen mit onkologischen Erkrankungen – Teil 1. Onkologe 27, 795–801 (2021). doi: 10.1007/s00761-021-00989-6

Hübner J et al. Zentrale Empfehlungen und Statements der S3-Leitlinie zur komplementären Medizin für Patient*innen mit onkologischen Erkrankungen – Teil 2. Onkologe 27, 917–921 (2021).doi: 10.1007/s00761-021-00990-z

Apothekerin Dr. Petra Jungmayr

Das könnte Sie auch interessieren

Leitlinie gibt Hilfe zur Beratung

Komplementärmedizin in der Onkologie

Aktualisierte S3-Leitlinie empfiehlt Cannabinoide

Komplementärmedizin in der Onkologie

Heterogene Datenlage erschwert die Bewertung ergänzender Behandlungsmethoden bei Krebs

Evidenz in der Komplementärmedizin

Supplemente interagieren häufig mit Onkologika

Eine unterschätzte Gefahr!

Gefahr einer Cyanid-Intoxikation

Bedenkliches Amygdalin

Ein Plädoyer für die integrative Onkologie

(K)ein Spiel mit der Hoffnung

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.