Rezension

Five points go to …

OTC-Therapieoptionen nach Evidenz bewertet

Mit der Evidenz ist das so eine Sache: Auf der einen Seite ist sie über jeden Zweifel erhaben, auf der anderen Seite lässt sie an vielem zweifeln, und nicht selten lässt sie einen verzweifelt zurück. Denn was tun, wenn ein Kundenwunsch auf dünnem wissenschaftlichem Eis und wackeligen Daten steht und im schlechtesten Fall evidenzbasierte Alternativen fehlen?

Gerade die Selbstmedikation ist gespickt mit Wirkstoffen, deren Markteinführung lange zurückliegt und die sich nie einer kritischen Prüfung ihres therapeutischen Nutzens (nach heutigen Standards) stellen mussten. Heute sind sie so lange im Geschäft, dass sie allein schon aus diesem Grund in der Sichtwahl in Stein gemeißelt sind. Die als Schleimlöser Bekanntheit erlangten Arzneistoffe Bromhexin und Ambroxol sind solche alten Schätzchen. Dr. Monika Neubeck deckt in ihrem Buch „Evidenzbasierte Selbstmedikation“ schonungslos auf, dass weder Bromhexin noch sein wirksamer Metabolit bei akuten Atemwegsinfektionen überzeugen können und eine Empfehlung zur Behandlung einer akuten Bronchitis oder einer Erkältung daher nicht erfolgen kann. Die Apothekerin war schon als Gutachterin für Arzneimittel und Übersetzerin von Zulassungsdossiers zuständig. Durch zahlreiche Projekte beim Deutschen Apotheker Verlag, unter anderem den monatlich in der DAZ erscheinenden Beitrag Neue Arzneimittel, ist sie einem breiten Fach­publikum bekannt.

Ihr Werk zur Selbstmedikation ist mittlerweile in der fünften Auflage erschienen und hat seit mehr als acht Jahren die Fortschritte auf dem Gebiet der evidenzbasierten Pharmazie dokumentiert. Heute sollte es zur Standardliteratur einer jeden Apotheke zählen, die in ihrer Unternehmensphilosophie auf eine qualitativ hochwertige Beratung setzt. Kapitelweise werden die häufigsten Indikationen mit den sich in der Selbstmedikation bietenden Möglichkeiten vorgestellt. Zu jedem Arzneistoff bzw. Nährstoff gibt es wichtige Infos über Wirkung, Dosierung und pharmakokinetische Eigenschaften sowie besondere Hinweise. Am Ende jedes Kapitels wird die Abgrenzung zu verschreibungspflichtigen Arzneimitteln und anderen ärztlichen Therapieverfahren vorgenommen und eine Auswahl an Handelspräparaten geboten. Doch das Herzstück des Buches bildet das Punktesystem, nach dem die Therapieoptionen auf Basis der verfügbaren Evidenz bewertet werden. Diese Art der Bewertung lässt die Kernaussage schnell erfassen und ermöglicht auch ein diskretes „Spicken“ im Apothekenalltag.

Monika Neubeck

Evidenzbasierte Selbstmedikation

5., überarbeitete und erweiterte Auflage

XXII, 430 S., 1 s/w Abb., 44 farb. Tab., 17,0 × 24,0 cm, kartoniert, 39,80 Euro,
ISBN 978-3-7692-7556-8
Deutscher Apotheker Verlag 2021

 

 

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Seit der letzten Auflage (2019/2020) hinzugekommen sind die frisch aus dem Rx-Bereich entlassenen H1-Antihistaminika Desloratadin und Levo­cetirizin, der Migräne-Blockbuster Sumatriptan sowie neue Erkenntnisse über Nahrungsergänzungsmittel. Um der aktuellen Pandemie-Situation gerecht zu werden, hielt das Kapitel „Desinfektion“ Einzug ins Buch.

Einigermaßen deprimierend war für mich das Kapitel über Lippenherpes: Hier liegen am Ende alle verfügbaren Therapieoptionen, egal ob „chemische Keulen“ wie Aciclovir und Penciclovir, natürliche Mittel wie Melissen-Extrakt und Zink sowie Exoten wie Docosanol am Ende gleich auf. Alle erreichten nur drei Punkte und können aufgrund schlechter Datenlage nur ein­geschränkt empfohlen werden. Unter „Anmerkungen“ findet sich der Hinweis, dass die Kombination von Aciclovir und Hydrocortison, in die Betroffene große Hoffnungen setzen, in klinischen Studien immerhin zu einer Verkürzung der Erkrankungsdauer und einer geringeren Rückfallrate führte, hinsichtlich der Heilungsdauer aber keinen signifikanten Nutzen brachte. – Ein äußerst ernüchterndes Ergebnis, das einem im Apothekenalltag mangels besserer Alternativen wenig nützt. Deutlich wird, dass die Evidenz in unserem Beratungsalltag zwar unverzichtbar ist, aber eben auch nicht alles. Im Sinne der evidenzbasierten Pharmazie müssen individuelle Lösungen gefunden werden, idealer­weise „wasserdicht“ unter Einbeziehung der eigenen Erfahrungen und gleichzeitig vom Patienten akzeptiert oder gewünscht. Und so haben auch Expektoranzien wie Bromhexin und Ambroxol durchaus ihre Berechtigung, wenn sie subjektiv der Genesung des Hustengeplagten dienen. Im Zweifel entscheidet nämlich sowieso der Kunde. |

Apothekerin Rika Rausch

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