Aus der Hochschule

Rudolf Virchow – gestern und heute

Anlässlich der 200. Geburtstage der beiden großen Wissenschaftler Rudolf Virchow (13.10.1821) und Hermann von Helmholtz (31.08.1821) stand die Jahrestagung der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin im Jahr 2021 unter der Überschrift „Rudolf Virchow & Hermann von Helmholtz: Ihr Wirken in und für Berlin – Impulse für die Gesundheitsstadt Berlin.“ Vortragsort war das geschichtsträchtige Langenbeck-Virchow-Haus in Berlin-Mitte in direkter Nachbarschaft zur Charité und zur Humboldt-Universität.

Nach der Begrüßung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch die Präsidentin der Leibniz-Sozietät Gerda Haßler, der Einleitung durch den Alt-Präsidenten der Leibniz-Sozietät Gerhard Banse und der Begrüßung durch Ivar Roots, den Vorsitzenden der Berliner Medizinischen Gesellschaft und gleichzeitig Hausherrn des Langenbeck-Virchow-Hauses, begannen die wissenschaftlichen Fachvorträge zu Virchow und von Helmholtz.

In fünf Vorträgen wurden die Leistungen von Virchow als Pathologe und Universalgelehrter, als erfolgreicher Gesundheitspolitiker, streitbarer Wissenschaftspolitiker und anerkannter Anthropologe gewürdigt. Dabei spielte auch die mit seinem Namen verbundene Zellpathologie eine wichtige Rolle.

In drei Vorträgen zu Hermann von Helmholtz wurde dessen außerordentlich erfolgreiches Wirken zu den physikalischen Grundlagen der Physiologie und seine Rolle bei der Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin sowie deren Bedeutung für die industrielle Revolution und die Wissenschaftsentwicklung gewürdigt. Zu Recht wurde von Helmholtz deshalb in seinen letzten Lebensjahren als „Reichskanzler“ der Physik bezeichnet.

Foto: Peter Oehme

Bronzebüste Rudolf Virchows der Berliner Medizinischen Gesellschaft im Langenbeck-Virchow-Haus.

Am Ende der Veranstaltung konnte Detlev Ganten, Founding President des World Health Summit, das außerordentlich hohe Niveau der Vorträge und der Diskussion würdigen. Zugleich stellte er fest, dass die Tagung einen wichtigen Beitrag in Richtung Gesundheitsstadt Berlin geleistet hat. Dazu gehört auch die schwerpunktmäßige Entwicklung einer zellbasierten Medizin (Virchow 2. 0) in der Hauptstadt. Die Vorträge der Tagung werden gemeinsam in einem Band der Abhandlungen der Leibniz-Sozietät publiziert.

Rudolf Virchow suchte stets eine enge Verbindung der Pathologie zu anderen medizinischen Disziplinen. Deshalb richtete er 1856 in dem neu erbauten Pathologischen Institut der Berliner Universität eine größere chemische Abteilung zur Herstellung von Hilfsstoffen für seine mikroskopischen Untersuchungen ein, die als Ausgangsbasis für potenzielle Arzneimittel sehr gut geeignet war. In diese Abteilung trat 1867 der Mediziner Oscar Liebreich (1839 – 1908) ein, der dort zunächst Arbeiten zur schlafinduzierenden Wirkung von Chloralhy­drat durchführte. Bereits ein Jahr ­später konnte Liebreich für das Fach „Arzneimittellehre“ habilitieren. 1869 stellte er in der Berliner Medizinischen Gesellschaft mit dem Chloralhydrat das erste synthetische Sedativum und Hypnotikum vor, welches in der Folge ein Welterfolg wurde.

Zu dieser Zeit vertrat an der medizinischen Fakultät Prof. Karl Gustav Mitscherlich (1805 – 1871) das Fach „Arzneimittellehre“. Liebreich schrieb nach Mitscherlichs Tod an den zuständigen Minister und bat ihn, ihm die Vorlesungen zur Arzneimittellehre zu übertragen. Der Minister entsprach dieser Bitte und Liebreich wurde kurze Zeit später ordentlicher Professor und Mitglied der Fakultät. Er schrieb erneut an den Minister und konnte schließlich den Bau eines neuen Institutsgebäudes durchsetzen. Dieses stand ab 1883 mit idealen Bedingungen für Forschung und Lehre zur Verfügung, hatte historischen Bestand und wurde die Wirkungsstätte weiterer erfolg­reicher Pharmakologen. All das wäre ohne die „Geburtshilfe“ Virchows nicht zu erreichen gewesen. Deshalb kann man ihn mit Recht als Geburtshelfer der Berliner Pharmakologie und Wirkstoffforschung bezeichnen.

Zurückführend auf diese traditions­reiche Berliner Pharmakologie wurde 1976 in Berlin-Friedrichsfelde das Akademieinstitut für Wirkstoffforschung (IWF) gegründet. Leitfigur wurde Oscar Liebreich. Das von Virchow intensiv bearbeitete Thema „Zelle“ wurde ein Schwerpunkt der Arbeiten am Institut. Das betraf sowohl die Nutzung von Zellen als pharmakologische und toxikologische Untersuchungsobjekte als auch die Untersuchung zellregulatorisch wirkender Peptide. 1991 wurde das IWF vom Wissenschaftsrat zur Fortführung empfohlen.

Foto: Gerhard Pfaff

Virchow-Denkmal am Karlplatz in der Nähe der Berliner Charité

Die Gründung des IWF-Nachfolgein­stituts erfolgte zum 1. Januar 1992 als Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP). Der Pharmakologe Prof. Walter Rosenthal wurde 1996 Institutsdirektor. Im Jahr 2000 konnte ein moderner Neubau auf dem Berlin-Bucher Medizincampus in der Nähe des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC) bezogen werden. 2013 übernahm der Zellbio­loge und Biochemiker Prof. Volker Haucke das Direktorat. Zum FMP gehört auch eine vom MDC unterstützte Screening Unit, die auf hohem Niveau systematische Wirkstoffsuche betreibt, mit zunehmender Nutzung von Erkenntnissen aus Virchows Zellpathologie.

Virchows Idee, dass sich Krankheiten in der Morphologie von Zellen widerspiegeln können, erlebt aktuell weltweit eine Renaissance. Das betrifft die Grundlagenforschung ebenso wie die Arzneimittelforschung. Hintergrund hierfür sind die revolutionären Technologieentwicklungen auf dem Gebiet der Mikroskopie vom einfachen Carl Zeiss Mikroskop von 1854 mit Tageslichtbeleuchtung durch einen Spiegel bis zum heute aktuellen, automatisierten High-Tech-Mikroskop mit Laser-Anregung, hochempfindlichen simultan aufnehmenden Kamerasystemen und komplexen Filtersystemen für spezifische Analysen fluoreszenzmarkierter Zellstrukturen. Hinzu kommen die Entwicklungen auf dem Gebiet der Computertechnik mit automatischer Bildanalyse, zum Beispiel durch ultraschnelle Prozessoren, sodass eine simultane Dokumentation und Analyse von mehr als 1000 morphologischen Parametern sogar auf Einzelzell-Basis auch für Wirkstoffsuchen eingesetzt werden kann. Diese Parameter betreffen die Größe und Symmetrie der Zelle und des Zellkerns, die Länge und Anordnung von Aktin-Filamenten sowie andere Messgrößen. Darüber hinaus kann der Computer durch künstliche Intelligenz und Maschinen-Lern-Prozesse heute signifikante Muster von morphologischen Parametern erkennen (Fingerprints), die dem Betrachter ansonsten aufgrund ihrer geringen Abweichung von den Normgrößen verborgen bleiben würden. Diese umfangreiche Analyse produziert schon mit 384 Proben auf einer Testplatte (Standardformat von Mikrotiter-Platten im Wirkstoffscreening) Terabyte an Daten und erfordert eine computergesteuerte, automatisierte Auswerte-Routine, da diese Datenmengen allein mit dem Auge des Betrachters nicht mehr analysiert werden können.

Somit ermöglicht diese technische Revolution, dass Virchows Zellpathologie systematisch und computergestützt bei der Suche nach neuen Wirkstoffen in Bibliotheken mit mehreren 100.000 Substanzen eingesetzt werden kann (Virchow 2.0). Hierbei wird mit Zellkulturmodellen, die Krankheiten durch morphologische Besonderheiten widerspiegeln, nach Substanzen gesucht, die den morphologisch gesunden Zustand wiederherstellen. Eine besondere Option dieser Methode ­besteht in der Möglichkeit zur Vorhersage des wahrscheinlichen Wirkmechanismus (Mode of Action, MOA) für eine unbekannte Testsubstanz, bei einer Übereinstimmung mit dem morphologischen Muster einer Referenzsubstanz, die eine genau beschriebene spezifische Funktionsstörung aufweist.

Foto: Peter Oehme

Gedenkstein für Rudolf Virchow in seiner Geburtsstadt Swidwin (Schivelbein).

Der große Vorteil dieser breiten morphologischen Profilierung von Änderungen in der Struktur von Zellen und deren Organellen gegenüber spezifischen Reporterzellen mit beispielsweise einem Reportergen (Grünfluoreszenz-Protein, GFP), das von einem Krebszellfaktor aktiviert wird, besteht in der unbeschränkten Erfassung vieler – auch unbekannter – Zellprozesse, die Einfluss auf Zellstrukturen haben. Deshalb wurden in der Vergangenheit auch viele „first in class“ Arzneimittel-Wirkstoffe mit automatisierten Mikroskopen in Screens dieser Art identifiziert. In diesem Sinne arbeitet die Screening Unit des Leibniz-Forschungsinstituts für Molekulare Pharmakologie (FMP) seit 2019. Ein weiterer Ausbau dieser Richtung ist vorgesehen.

Diese uneingeschränkte Betrachtung von Zellstrukturen in gesunden und in kranken Zellen ist die vereinende Grundlage der Arbeiten von Virchow vor 160 Jahren und der High-Tech-Labore von heute. Damit schließt sich der Kreis von Virchows Zellpathologie hin zur modernen Wirkstoffforschung und Medizin von heute. |

Gerhard Pfaff, Peter Oehme und Jens P. von Kries

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