Kongresse

Der Erdrutsch im Markt

BVDAK-Gipfel: Ausnahmezustand, Ausgabeautomaten, ABDA-Pläne und Aussichten

diz | Für Dr. Stefan Hartmann, dem Vorsitzenden des Bundes­verbands Deutscher Apotheken­kooperationen (BVDAK), ist der Point of no ­Return überschritten. Die Corona-Pandemie und die Digitalisierung zwingen auch den Apothekenmarkt, über neue Strukturen nachzudenken und neue Wege zu beschreiten. Der 13. BVDAK-Kooperationsgipfel, dieses Mal in digitaler Form, suchte nach Auswegen und Lösungen.

Die Pandemie und die Digitalisierung haben im vergangenen Jahr im Apotheken- und Pharmamarkt ihre Spuren hinterlassen, für Hartmann gab es einen Erdrutsch im Markt: Der Versandhandel erlebte einen Schub, er stieg von 16 auf 20 Prozent, und im kommenden E-Rezept sieht Hartmann einen Gamechanger, es wird zum Beschleuniger des Versandhandels werden. Der Vor-Ort-Apotheke gibt Hartmann eine Chance, wenn sie sich zur „hybriden Apotheke“ weiterentwickelt, „sie braucht zwei Eingänge, einen stationären und einen Online-Eingang“, so Hartmann, „und wenn die Apotheke lernt, aus Kundensicht zu denken, dann haben wir eine gute Chance“. Es werde uns in Zukunft auch interessieren müssen, über welche Plattform uns die Kunden ihre E-Rezepte schicken können.

Screenshot: DAZ

Der digitale Erdrutsch

Das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungs­gesetz erlaubt den Apotheken, automatisierte Ausgabestationen an und in Apotheken einzurichten. Solche Ausgabeautomaten ermöglichen es den Kunden, ihre Arzneimittel, die z. B. beim Apothekenbesuch nicht vorrätig waren, auch nach Geschäftsschluss der Apotheke rund um die Uhr an ­einem Pick-up-Terminal ab­zuholen. Bjoern Schleheuser von BD Rowa erklärte, was heute mit solchen Automaten möglich wird: Diese Automaten, deren Preis sich zwischen rund 22.000 Euro (Indoor-Lösung) und 24.000 Euro (Outdoor-Lösung) bewegt, können IT-technisch z. B. ins Kassensystem und mit dem Kommissionierer ein- und verbunden werden und mit einer Pick-up-Cloud vernetzt werden, über die z. B. eine automatische Abholbenachrichtigung des Kunden erfolgt. Bei der Abholung durch den Kunden wird die vorbereitete Ware dann über Förderbänder und Rutschen zum Terminal gebracht. Voraussetzung für den Betrieb eines Ausgabeautomaten ist, dass er mit einer stationären Apotheke verbunden ist, dass die nachzuliefernden Arzneimittel für den Kunden einzeln verpackt und mit einem Adressauf­kleber versehen werden. Außerdem muss zuvor eine Beratung des Kunden stattgefunden haben. Diese Bestimmungen und Vorschriften sollen dazu beitragen, Konstrukte, wie sie ein EU-Versender in Hüffenhardt etablieren wollte, zu verhindern. Ob dies ausreicht, Abgabeautomaten außerhalb von Apotheken zu verhindern, wird sich zeigen, gegebenenfalls, so die Diskussionsbeiträge, müsse das Gesetz nachgebessert werden.

Dr. Hermann Sommer, Vorstandsvorsitzender der Noventi Health SE, fühlt sich von DocMorris und Amazon an­gegriffen, wie er auf dem BVDAK-Kongress sagte, er sehe hier eine große Bedrohung für die Vor-Ort-Apotheken. Auch für ihn ist das E-Rezept ein Gamechanger. Sein Appell: Apotheken dürfen keine Versandzentren von Versandhändlern werden. Für Sommer liegt die Antwort auf solche Veränderungen in der digitalen Vernetzung der Heilberufler vor Ort, also in der neuen Gesundheitsplattform „gesund.de“, an der neben der ProAvO (Noventi, Gehe, Sanacorp, BD Rowa, Wort &  Bild-Verlag) seit Kurzem auch Phoenix beteiligt ist. Dieses Gemeinschafts­unternehmen „Gesundheit für Deutschland“ will seine Plattform „gesund.de“ noch im zweiten Quartal an den Start bringen. „Neu ist“, so Sommer, „dass wir diese Plattform vom Verbraucher aus sehen.“ Er soll auf dieser Plattform alles an Dienstleistungen und Ware finden, was für seine Gesundheit von Belang ist: z. B. Ärzte, Apotheken, Physiotherapeuten, Krankenkassen und „eine elektronische Gesundheitsakte als Nukleus für alle Leistungen rund um und für Patienten“, so Sommer. Und: „Es ist die einzige vom Verbraucher zu 100% in Eigenverantwortung gesteuerte Gesundheitsplattform.“ Auf die Frage, wann es mit dieser Plattform dann tatsächlich so weit ist, sagte der Noventi-Chef: „Im zweiten Quartal vor dem Start des E-Rezepts bringen wir die Plattform an den Start. Dann wird in diesem Jahr geübt. Wir kommen auch in die Apotheken um zu helfen, wie man Dienstleistungen verbessert.“

Erfahrungen mit einer Gesundheitsplattform hat dagegen bereits der Zukunftspakt, eine Partnerschaft von Noweda, Burda, Pharma Privat, Netdoktor und Apostore, außerdem mit den Kooperationspartnern apotheken.de und Pharmatechnik. Diese Plattform ist bereits seit dem vierten Quartal 2019 online, mittlerweile haben sich 7000 Apotheken angeschlossen. Wie der Projektleiter des Zukunftspakts, Dr. Jan-Florian Schlapfner, erklärte, sei man mit dieser Plattform auf dem Weg zu einem vernetzten Gesundheitsökosystem. Darunter versteht er u. a. die Online-Terminvereinbarung beim Arzt, die Video-Sprechstunde und bald auch das E-Rezept auf der Clickdoc-App und die digitale Rezepteinlösung in der Vor-Ort-Apotheke. Selbstverständlich kann der Kunde auch eine Gesundheitsakte auf dieser Plattform anlegen. Er machte deutlich: „Wir haben gelernt: Die Plattform und ihre Angebote werden nie fertig sein. Wir haben seit dem Start bereits mehr als 5000 Verbesserungen und Änderungen eingebracht.“

Für Hartmann stellt sich angesichts dieser beiden Plattformen die Frage: Wie vielen Plattformen muss sich eine Apotheke anschließen? Und in welche Abhängigkeiten begebe ich mich?

Steffen Kuhnert, Gründer von „#Die Digitale Apotheke“, ging der Frage nach, was die Apotheke tun kann, um digitaler zu werden: Wie kann man Beratung digitalisieren, wie den Mehrwert ins Digitale transportieren? Er plädiert dafür, eine E-Apotheke aufzubauen, die allerdings nicht weniger sozial sein muss. Was genau er unter der E-Apo­theke versteht und wie er die digitalisierte Beratung sieht, ließ er noch offen.

Der Erdrutsch in der Vor-Ort-Apotheke

Deutliche Spuren hat das Corona-Jahr auf dem Pharmamarkt hinterlassen, vor allem im OTC- und Kosmetikmarkt. Wie Thomas Heil, IQVIA, berichtete, war erstmals seit Jahren der Umsatz im Bereich Consumer Health rückläufig. Verloren haben vor allem die Erkältungs-, Reise- und Beauty-Produkte (Sonnenschutz-Produkte waren deutlich rückläufig, ebenso die Entlausungsmittel). Bei den Erkältungspräparaten hat die Vor-Ort-Apotheke besonders gelitten und fast 50 Prozent des Umsatzes verloren. Gewinnen konnten „Corona-Produkte“ wie z. B. Hautdesinfektionsmittel, Immunstimulanzien. Fieberthermometer. Deutlich zugelegt hat der Versand­handel, von 16 auf 20 Prozent, d. h. jede fünfte OTC-Packung wird heute über den Versandhandel verkauft. Das E-Rezept, so seine Prognose, wird die Marktanteile des Versandhandels weiter erhöhen auf 30 bis 35 Prozent. Doch die Apotheke könne gegensteuern. Lösungsansätze sieht Heil darin, dass die Apotheke ein leistungsfähi­geres Angebotsspektrum bietet mit mehr Warengruppen. Außerdem sollte das pharmazeutische Personal sein Fachwissen breiter und tiefer ausbauen. Und nicht zuletzt sollten sich die Apotheken Gedanken machen über eine innovativere Vermarktung: Dazu gehört auch der Einsatz digitaler Instrumente. Heil nannte hier beispielsweise die Projektions-Floorprints – hier wird per Lichtprojektion im Wartebereich vor der Apotheke z. B. ein QR-Code auf den Boden geworfen, den der vor der Apotheke wartende Kunde scannen kann. Mit dem Code erhält der Kunde dann beispielsweise Infos oder Angebote auf sein Smartphone.

Dr. Frank Diener, Treuhand Hannover, betrachtete in seinem Vortrag Markttrends (z. B. neue Dienstleistungen, die Digitalisierung, Personalknappheit), Spahns Apothekenpaket mit vergütetem Botendienst, GKV-Gleichpreisigkeit, E-Rezept – und Tsunamis, mit denen niemand rechnen konnte, wie z. B. die Corona-Pandemie, aber auch die AvP-Insolvenz. Diener ist überzeugt, dass Mitte 2021 ein neues Branchensetting beginnt. Die Apotheke werde es bald mit neuen Kundentypen zu tun haben mit mehr Botendienstwünschen; mit dem E-Rezept wird es auch Rezept-Einlöser geben, die nicht am Ort wohnen, auch die Zahl der Click&Collect-Einlöser werde zunehmen. Und die Apothekeninhaber(innen) werden sich um eine virtuelle Eingangstür kümmern müssen: Wie sieht es mit der digitalen Sichtbarkeit meiner Apotheke aus, mit der digitalen Erreichbarkeit und mit digital gestützten Services?

Kluft zwischen ABDA und fortschrittlichen Vor-Ort-Apotheken

Eine Talkrunde unter Moderation von Dr. Benjamin Wessinger (DAZ-Herausgeber) mit Dr. Kerstin Kemmritz (Präsidentin der Apothekerkammer Berlin), Ralf König (Mitglied im Health Inno­vation Hub des BMG) und Dr. Stefan Hartmann sparte nicht mit Kritik an der ABDA. So habe die Standesvertretung nach Meinung von Ralf König bei der Möglichkeit für Modellprojekte zur Grippeschutzimpfung, bei Corona-Tests und neuen Services für Patienten zu viele Chancen vertan: Man habe zu wenig aktiv gestaltet. Er machte auch deutlich, dass es unter Gesundheits­politikern eine gewisse Irritation gebe hinsichtlich des Eindrucks von der Apothekerschaft. Einerseits träfen die Politiker bei ihren Reisen durchs Land auf sehr fortschrittliche und engagierte Apothekerinnen und Apotheker, andererseits stießen sie nach ihrer Rückkehr in die Hauptstadt auf die aus­geprägte Blockadehaltung der ABDA. Nach Ansicht von König habe dies inzwischen zur Folge, dass nur noch wenige Politiker mit der ABDA kommunizieren. Auch Stefan Hartmann nannte „drei wertvolle Tools, gegen die sich die ABDA schon immer gewehrt hat“, die aber der Gesetzgeber im vergangenen Jahr einführte: die Impf­modellprojekte in Apotheken, den liberalisierten Botendienst und die Erlaubnis zum Betrieb von Abhol­stationen. Kerstin Kemmritz konnte die Kritik nachvollziehen, wies aber darauf hin, dass die gefühlte Blockadehaltung den standespolitischen Strukturen geschuldet seien. So habe die ABDA keine Basislegitimation, sondern baue vielmehr auf einer repräsentativen Demokratie auf. Das schließe aber nicht aus, auf Visionen und Expertise von der Basis zurückzugreifen: „Wir brauchen eine Art Thinktank für den ABDA-Tanker“, so Kemmritz.

„Digital ist ein neues Produkt für den Außendienst“

Eine weitere Talkrunde befasste sich mit der Frage, ob sich der OTC-Außendienst auf dem Rückzug befindet. Apothekerin Dr. Ina Lucas, Lichtenberg-Apotheke in Berlin, sieht zwar, dass sich beim Außendienst etwas verändert, aber sie wünscht sich unterschiedliche Konzepte für ihre Apo­theken – „da müssen sich die Außendienste noch umstellen“. Dr. Ines Bohn, Klinge Pharma, betonte, dass man sogar mehr in den Außendienst investiere: Mehr Frequenz beim Kunden heißt nicht nur persönlich, sondern auch telefonisch und per E-Mail – das alles sind Kontakte.“ Und Unternehmensberater Robert Bielmeier sieht eine Herausforderung für den Außendienst darin, dass er sich noch mehr und individueller auf die Apotheke einstellen muss. Bevorzugt sie z. B. eher den digitalen Weg oder nicht: „Digital ist ein neues Produkt für den Außendienst.“

Apotheken wichtiger Partner für BionTech

„Es wird Monate dauern, bis ein nennenswerter Teil der Bevölkerung geimpft ist“, prognostizierte Dr. Michael Boehler, Geschäftsführer bei Biontech. Der Impfstoff sei als „Projekt Lightspeed“ quasi mit Lichtgeschwindigkeit entwickelt und zur Marktreife gebracht worden, nicht zuletzt auch durch die Zusammenarbeit mit Pfizer, was Boehler als einen Erfolgsfaktor dieser Entwicklung bezeichnete. Ein weiterer Erfolgsfaktor sei sicher die ­effiziente Zusammenarbeit der Entwickler und Forscher mit den Behörden gewesen, wobei es keine Kompromisse bei der Qualität gegeben habe, aber „viele kurze Drähte“. Was Boehler deutlich machte: Apotheken sind ein wichtiger Partner für Biontech – auch wenn sich der Impfstoff bisher noch nicht über Apotheken vertreiben lässt, aber „wir arbeiten daran“. Dennoch, es gebe schon heute zahlreiche Service-Angebote für Apotheken und Pflegeeinrichtungen wie Handlungshilfen für den Transport des Impf­stoffes und für die Impfvorbereitung, außerdem eine spezielle Website und Fachinformationen online und Web­seminare. Auch für Apotheken seien spezielle Online-Veranstaltungen geplant. Was die Impfstoffproduktion betrifft, so sei es das Ziel, zwei Milliarden Impfdosen bis Ende 2021 her­zustellen. |

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