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„Von der digitalen Transformation massiv profitieren“

Ehemaliger Chef des Health Innovation Hub zieht Bilanz und blickt nach vorn

cm | Zum Jahreswechsel hat sich der Health Innovation Hub (hih) des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) wie geplant aufgelöst. Für die Apotheker saß Ralf König im Beratergremium. Der Manager und Radiologe Jörg Debatin leitete das 14-köpfige Team, das vor allem den ehemaligen Minister Jens Spahn (CDU) zur Digitalisierung des Gesundheitswesens knapp drei Jahre lang beraten hat. Im Gespräch mit der DAZ zieht er Bilanz und erklärt, wie die Apothekerschaft von der digitalen Transformation massiv profitieren kann.
Foto: Jan Pauls Fotografie/hih

Jörg Debatin

DAZ: Herr Debatin, den hih als unabhängiges Beratergremium zu installieren, war ein Experiment von Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Ist dieses Experiment gelungen?

Debatin: Aus meiner Sicht ja, unbedingt. Ziel war es, externe Experten mit Erfahrung und Netzwerk zeitlich befristet an den Staat zu binden und ihr Fachwissen punktuell verfügbar zu machen – und das weitgehend ohne den Einfluss von Fremdinteressen. Das hat gut geklappt, auch, weil die Voraussetzungen gestimmt haben: Es war von vornherein klar, dass wir für die drei Jahre, auf die der hih ausgelegt war, ausfinanziert sind. Ich musste also nirgendwo einen besonders positiven Eindruck hinterlassen, wir waren ausschließlich der Sache verpflichtet und haben uns dem Erfolg der digitalen Transformation verschrieben. Wir haben fleißige Beamte, die gut darin sind, Gesetze zu schreiben, aber denen es manchmal hilft, Information aus der fachlichen Perspektive zu bekommen. Deshalb werben wir auch sehr dafür, diese Struktur im Kern zu erhalten. Ich kann mir vergleichbare Konzepte, natürlich mit anderen thematischen Schwerpunkten auch gut für andere Ministerien vorstellen.

 

DAZ: Mit anderen Worten: Das BMG wollte von Ihnen hören, was in puncto Digitalisierung möglich ist und wie man es richtig macht.

Debatin: Das ist eine Sichtweise auf unsere Arbeit. Wir haben uns selbst aber nicht nur als Impulsgeber für das BMG gesehen, sondern insbesondere auch als Brückenbauer zwischen einem ministeriellen Umfeld auf der einen Seite und den Leistungserbringern, Start-ups und letztlich auch den Patienten auf der anderen. Da war das Konstrukt hih sehr hilfreich.

 

DAZ: Wie viel Einfluss hatten Sie tatsächlich?

Debatin: Das ist schwer zu sagen, wir schreiben ja keine Gesetze. Einige Konzepte und Vorgaben kamen uns in den Referentenentwürfen dann aber durchaus bekannt vor. Das waren schöne Bestätigungen, über die sich das Team dann auch gefreut hat. Insgesamt hatten wir den Eindruck, dass unsere Ideen und Überlegungen sehr ernst genommen wurden. Natürlich hätte ich persönlich manches auch anders entschieden, wenn ich es gekonnt hätte, aber so ist unsere Demokratie nicht aufgebaut. In so ein Gesetz fließen ganz viele unterschiedliche Interessen ein und am Ende entscheidet das Parlament, wie es ausgestaltet wird. Wir haben aber in der Realität deutlich mehr Gehör gefunden, als ich es mir anfangs ausgemalt hatte.

 

DAZ: Wie haben Sie den Austausch mit der Gematik und der Selbstverwaltung erlebt?

Debatin: Sehr offen. Klaus Reinhardt etwa, der Präsident der Bundesärztekammer, ist sehr engagiert beim Thema Digitalisierung. Er hat das Poten­zial erkannt, damit zum Beispiel zur Verbesserung der AMTS beizutragen. Und was Markus Leyck Dieken bei der Gematik innerhalb kurzer Zeit geschafft hat, ist bemerkenswert. Er hat die Leitung einer Agentur übernommen, die es gewohnt war, nichts zu dürfen und nicht zu kommunizieren. Hier eine neue Kultur zu schaffen, war keine leichte Aufgabe. Auch wenn er sicher noch nicht am Ziel seiner Vorstellungen angekommen ist, hat er innerhalb der Gematik vieles zum Positiven wenden können.

 

DAZ: Welchen Eindruck hat die Apothekerschaft bei Ihnen hinterlassen?

Debatin: Gabriele Regina Overwiening hat als neue ABDA-Präsidentin viel frischen Wind reingebracht. Sie macht einen super Job, ist interessiert, präsent und dialogfähig, auch mit anderen Leistungserbringern. Wie groß das digitale Potenzial der Apotheken ist, haben wir am Beispiel der digitalen Impfzertifikate gesehen. Innerhalb von zwei Wochen hat der Berufsstand die nötige Infrastruktur geschaffen und nach weiteren zwei Wochen war das Thema geräuschlos abgeräumt. Das hat gezeigt: Die Apotheken können so etwas, sie arbeiten service­orientiert und die meisten von ihnen sind ausgesprochen digital-affin. Sie können bei der digitalen Trans­formation eine ganz entscheidende Rolle spielen. Die Potenziale, die dort schlummern, gilt es noch viel stärker zu nutzen, als wir es bisher tun.

 

DAZ: Wie geht es jetzt weiter mit der digitalen Transformation vor dem Hintergrund, dass mit Karl Lauterbach nun ein neuer Mann im BMG am Drücker ist? Die Digitalisierung war ja eines der Herzensprojekte von Ex-Minister Spahn.

Debatin: In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht so sehr davon abhängt, welche Partei gerade im BMG den Hut auf hat, sondern wie sehr die handelnden Personen dahinter stehen. Vor der Amtszeit Spahns hat einfach niemand das Thema wirklich entschlossen vorangetrieben. Das hat sich geändert und vieles von dem, was er regulatorisch auf den Weg gebracht hat, wird bleiben. Wir haben mit verbindlichen Interoperabilitäts-Standards nun endlich eine Grundlage für eine moderne Software-Architektur geschaffen. Die Herausforderung in der angebrochenen Legislaturperiode wird in Sachen Digitalisierung eine andere sein: Nachdem auf der gesetzgeberischen Seite viel aufgeholt wurde, geht es jetzt primär um die Umsetzung. Darauf sollte der Fokus in den kommenden vier Jahren liegen. Die Grundlagen für Anwendungen wie das E-Rezept und die elektronische Patientenakte sind da, jetzt müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen die Angebote auch nutzen. Dazu finden sich auch gute Ansätze im Koalitionsvertrag der Ampel, etwa dass man statt eines Opt-in- ein Opt-out-Modell für die ePA anstrebt. Voraussetzung ist aber, dass die Anwendungen technisch einwandfrei funktionieren.

DAZ: Warum ist das bisher nicht der Fall? Am Beispiel E-Rezept ist doch gerade recht gut erkennbar, dass technisch noch viel Luft nach oben bleibt.

Debatin: Umgesetzt werden müssen die Projekte im Zusammenspiel zwischen Gematik, Software-Hersteller und Leistungserbringer. Leider stammen viele der Praxisverwaltungs­systeme, die am Markt sind, aus den 90er- oder 2000er-Jahren. Sie waren konzipiert, eine Praxis intern zu organisieren und Abrechnung zu gewährleisten, aber nicht dafür, Medizin in einer vernetzten Welt zu managen. Diese Systeme sind den wachsenden Herausforderungen der Vernetzung nicht mehr gewachsen. Deshalb brauchen wir ein Praxis-Zukunftsgesetz, analog zum Krankenhaus-Zukunfts­gesetz. Die Kosten und Schmerzen, die für den einzelnen Arzt mit einer Software-Umstellung verbunden sind, müssen abgefedert werden. Da ist staatliche Unterstützung nötig. Für die Zukunft benötigen wir „Arztinformationssysteme“ statt „Praxisver­waltungssysteme“, mit Schwerpunkt auf Medizin und Vernetzung. Diese müssen interoperabel sein, mit klaren Regeln für standardisierte Datenformate und offenen Schnittstellen. Im Krankenhaussektor gibt es das alles schon, da müssen wir auch im ambulanten Sektor hin.

„Die Apotheken können so etwas, sie arbeiten serviceorientiert und die meisten von ihnen sind ausgesprochen digital-affin.“

DAZ: Wie viel Nachholbedarf haben im Vergleich die Apotheken-Softwarehäuser?

Debatin: Da ist mein hih-Kollege Ralf König sicher der bessere Ansprechpartner. Was mich aber immer wieder beeindruckt ist der hohe Grad der Binnendigitalisierung der Apotheken. Jetzt geht es um die Vernetzung mit den anderen Leistungserbringern und den Patienten. Allein die Einführung der ePA bringt für die Apotheken viele Chancen mit sich. Der Apotheker wird mit den Informationen, die er auf diesem Wege bekommt, in die Lage versetzt, wirklich medizinisch zu handeln – etwas, das er immer schon versucht hat, aber wofür ihm oftmals schlicht die Instrumente gefehlt haben. Die Apotheker sind gut beraten, sich im Zuge der digitalen Transformation als Digital Agents zu positionieren, die Patienten mitzunehmen und auch die Ärzte ein Stück weit zu unterstützen. Wie gut sie mit dem digitalen Wandel umgehen können, haben sie ja bei den Impfzertifikaten durchblicken lassen. Darauf sollte der Berufsstand aufbauen. Für die Apotheker ist richtig viel drin. Sie können aus meiner Sicht zu den großen Gewinnern der Digitalisierung gehören.

DAZ: In Kürze steht die Einführung des E-Rezepts an. Wie beurteilen Sie die Lage: Ist das Gesundheitswesen E-Rezept-ready?

Debatin: Ich habe Medizin studiert und da ist die oberste Prämisse, den Patienten nicht zu gefährden. Für ein Land, in dem Ärzte jährlich 800 Mil­lionen Rezepte ausstellen, sind die 42 Testverordnungen, die bisher den gesamten Prozess durchlaufen haben sollen, vollkommen indiskutabel. Da reicht es auch nicht, wenn man eine oder zwei Nullen dranhängt, da muss man viel breiter antreten. Insofern sollte jetzt nichts erzwungen werden. Dass die KBV ein einjähriges Moratorium fordert, halte ich allerdings auch nicht für richtig. Vielmehr sollten jetzt die nächsten zwei Quartale sinnvoll genutzt werden, damit das E-Rezept dann spätestens im Sommer kommt. Momentan liegt viel an der Industrie, da sollten übrigens auch die Leistungserbringer einen gewissen Druck erzeugen.

DAZ: Ist das auch das Resultat mangelhafter Kommunikation? Es ist der Gematik ja ganz offenbar nicht gelungen, die Leistungserbringer auf breiter Front mitzunehmen.

Debatin: Es ist natürlich wichtig, den Nutzen in den Vordergrund zu stellen, wenn man so tiefgreifende Veränderungen plant. Dabei liegt es doch auf der Hand, dass es sinnvoll wäre, mit einem Knopfdruck eine Übersicht über alle dispensierten Medikamente eines Patienten zu haben, sowohl für den Arzt als auch für den Apotheker. Eigentlich müsste man doch fragen, weshalb es so was heute noch nicht gibt. Die Gematik durfte aber bis vor drei Jahren gar nicht kommunizieren, das war vonseiten der Gesellschafter nicht erwünscht. So eine Kultur kann man nicht auf Knopfdruck drehen. Wir tendieren ja dazu, aus dem Hier und Heute unsere Urteile zu fällen. Ganz fair ist das aber oft nicht, so auch in diesem Fall. Nein, es reicht nicht, was die Gematik derzeit an Kommunikation betreibt. Aber man muss bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Gematik auch die Vorgeschichte berücksichtigen. Und da liegt die Verantwortung auch bei den Alt-Gesellschaftern.

DAZ: Sie haben ja viel Erfahrung in Sachen Digitalisierung, immerhin waren Sie maßgeblich an der digitalen Transformation der Uniklinik in Hamburg-Eppendorf beteiligt. Gab es damals auch solche Widerstände gegen die Neuerungen?

Debatin: Ja, das waren die härtesten drei Monate meines Berufslebens. Mit der konsequenten Einführung eines Krankenhaus-Informationssystems verändern Sie die Grundlagen des medizinischen Tuns, wir sprechen hier über eine wirklich elementare Umstellung. Dass von so viel Veränderung nicht alle auf Anhieb begeistert waren, liegt in der Natur der Sache. Es gab einen Chefarzt, der es weder gut noch schlecht mit der Digitalisierung meinte. Um das Projekt zu Fall zu bringen, veranlasste er eine Abstimmung unter seinen Ärzten, ob sie das KIS behalten wollten oder nicht – und sehr zu seiner wie auch meiner Überraschung sprach sich die Mehrheit dafür aus, es zu behalten. Das Problembewusstsein der Assistenz­ärzte ist halt ein anderes als das eines Chef­arztes: Wenn der Chefarzt zur Visite kommt, ist alles vorbereitet. Der Assistenzarzt hat den gesamten Tag damit verbracht, alle Unterlagen zusammenzusuchen. Wenn das plötzlich alles elektronisch geht und er die Zeit nicht mehr verschwenden muss, wird der Nutzen eines solchen Systems unmittelbar erlebbar.

DAZ: Was muss passieren, damit die digitale Transformation zum Erfolg wird?

Debatin: Das wird sich von ganz allein ergeben, denn die Patienten fordern die Digitalisierung mehr und mehr ein. Die Wenigsten haben Lust, für eine Rezeptverlängerung einen Termin in der Praxis zu machen und sich ins Wartezimmer zu setzen. Wenn Sie als Gynäkologe keine Online-Sprechstunden mit elektronischer Terminvergabe anbieten, in der beispielsweise Frauen unkompliziert ein neues Pillenrezept bekommen können, werden Ihnen die Patientinnen auf Dauer verloren gehen. Viele potenzielle Nutzer haben verstanden, wie ihnen E-Rezept, ePA und elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung das Leben erleichtern können. Auf Dauer wird es niemand mehr akzeptieren, dass Laborwerte doppelt erhoben werden, weil die Kommunikation zwischen den Leistungserbringern nicht funktioniert. Diesen Druck brauchen wir.

Die Telematikinfrastruktur in ihrer aktuellen Form kommt recht sperrig daher. Wo sehen Sie Verbesserungs­bedarf und kann die von der Gematik entworfene TI 2.0 Abhilfe schaffen?

Die Technologie, die wir derzeit für die TI verwenden, kommt aus dem vergangenen Jahrzehnt. Insofern ist es nicht überraschend, dass das System aus unserer heutigen Perspektive doch recht umständlich wirkt. Wir standen vor der Wahl, mit dem zu starten, was wir haben, oder bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu warten, bis wir eine perfekte Lösung bieten können. Dass sich Jens Spahn für Variante eins entschieden hat, halte ich für vollkommen konsequent und richtig, auch wenn die eingesetzte Technologie nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Vieles an Fortschritt scheitert momentan an den Schnittstellen. So zum Beispiel das Angebot von Red Medical: Die größte Hürde für die Konnektoren-Lösung dieses Anbieters ist offenbar die Anbindung an das Warenwirtschaftssystem der Apotheke. Wir brauchen solche Innovatoren in jeder Ausbaustufe der TI. Und natürlich müssen wir weg von der Hardware und hin zu einer Software-basierten Struktur. Nur damit werden wir in Zukunft flexibel auf Innovationen reagieren können.

DAZ: Bleiben wir bei den Schnittstellen: Für das E-Rezept ist eine Schnittstellen-Verordnung aus dem BMG angekündigt, auf die die Fachwelt jetzt schon rund ein Jahr wartet. Warum dauert das so lange?

Debatin: Ich kann mir vorstellen, dass es diesbezüglich viele unterschied­liche Interessenlagen gibt, etwa von Präsenzapothekern und Arzneimittelversendern. Möglicherweise trägt das nicht gerade zur Beschleunigung bei, aber das ist rein spekulativ. Fest steht: Wir brauchen diese Verordnung, damit alle Klarheit darüber haben, wie es im Hintergrund funktionieren soll.

DAZ: Haben Sie das Gefühl, dass die Versender gegenüber den Präsenzapotheken Vorteile genießen bei solchen Entscheidungen?

Debatin: Nein, das kann ich nicht erkennen. Es sei denn, Sie legen es so aus, dass das Fortschreiten der Digitalisierung natürlich denjenigen hilft, deren Existenz eng mit digitaler Präsenz verknüpft ist. Ich glaube eher, dass die Apotheken vor Ort eine große Chance bekommen, sich mit den neuen digitalen Werkzeugen, die ihnen schon bald zur Verfügung stehen werden, stärker noch als Heilberufler profilieren zu können als bisher. Das setzt allerdings voraus, dass die Apotheken sich diesen neuen Möglichkeiten öffnen und aktiv werden. Das geht nicht von allein, mitunter kann diese Neupositionierung mühsam sein. Wenn sie es geschickt anstellen, wird die Bindung zwischen Patienten und Apotheke durch digitale Instrumente sogar gestärkt. Und das ist doch entscheidend dafür, wohin die Leute ihr Rezept senden. Klar ist aber auch: Wir machen das alles nicht für die Ärzte oder die Apotheker. Im Zentrum der digitalen Transformation unserer Gesundheitsversorgung steht der Patient, ihm muss es dienen.

DAZ: Herr Debatin, vielen Dank für das Gespräch! |

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