Arzneimittel und Therapie

In aller Munde – Melatonin

Ein Interview mit der Interpharm-Referentin Dr. Verena Stahl

cel/mab | Melatonin ist in aller Munde, oder – extrapoliert man das Werbeengagement der Hersteller auf den Verkaufserfolg – in jedem Medienkanal und in aller Nachttischkästchen. Ist Melatonin, unser natürliches Schlafhormon, tatsächlich eine wertvolle Alternative zu Antihistaminika, Z-Substanzen und Benzodiazepinen? Und das vielleicht sogar ohne Abhängigkeitspotenzial, anticholinerge Nebenwirkungen und erhöhte Sturzgefahr?
Foto: ClareM/AdobeStock

Bei der Interpharm online 2022 setzt sich Referentin Dr. Verena Stahl, Apothekerin und etablierte DAZ-Autorin, am 25. März 2022 kritisch mit dem Mythos Melatonin auseinander. Denn zugelassen als verschreibungspflichtiges Arzneimittel ist Melatonin in Circadin® schon lange – neu sind die zahlreichen Nahrungsergänzungsmittel, die in den letzten Monaten und Jahren wie Pilze aus dem Boden sprießen. Die DAZ hat vorab der Interpharm mit Frau Stahl gesprochen.

Kein klassisches Hypnotikum

DAZ: Kann Melatonin jedem Schlaflosen helfen?

Stahl: Man sollte vielleicht zunächst festhalten, dass Melatonin kein klassisches Hypnotikum wie ein Benzodiazepin ist, sondern ein Hormon, das an der Regulation des Tag-Nacht-Empfindens beteiligt ist. Fehlt es einem nicht an endogenem Melatonin, besteht auch prinzipiell kein Bedarf, dieses zu supplementieren. Das herauszufinden, ist gar nicht so einfach. Aber auch bei niedrigen Melatonin-Spiegeln, zum Beispiel im Alter, müssen nicht zwangsläufig Schlafstörungen resultieren. Vielleicht noch ein Gedankengang in die entgegengesetzte Richtung: Bekanntermaßen spielt auch Cortisol eine große Rolle bei der Regulation des fein abgestimmten Tag-Nacht-Rhythmus, sozusagen als Gegenspieler von Melatonin. Niemand käme auf die Idee, dieses Hormon zum besseren Durchstarten in den Tag leichtfertig einzunehmen.

Apothekerin Dr. Verena Stahl

Um zum Ursprung der Frage zurückzukommen, sollte einen zunächst beschäftigen, woher der schlechte Schlaf rührt oder woran man überhaupt festmacht, dass man unter Schlafstörungen leidet. Und hier sehe ich eine große Chance, wenn Betroffene mit der Vorstellung, Melatonin könne ihnen vielleicht helfen, in die Apotheke kommen. Klar ist, dass Personen mit unbehandelten Depressionen und Angst­störungen nicht versuchen sollten, Schlafstörungen, die Ausdruck ihrer Krankheit sind, mit Melatonin selbst zu therapieren. Auch Ein- und Durchschlafstörungen aufgrund von organischen Erkrankungen gehören nicht in die Rubrik Selbstmedikation. Hier sind Ärzte und Therapeuten gefragt, um einerseits zugrunde liegende Erkrankungen oder Schmerzen zu behandeln, ­wodurch sich der Schlaf bessert, und ferner Strategien mit psychisch erkrankten Betroffenen zu entwickeln, um ihnen beispielsweise Sorgen und Ängste zu nehmen. Echte Schlaferkrankungen, wie eine Schlafapnoe, müssen darüber hinaus im Schlaflabor abgeklärt werden.

Unterstützende Fragebögen bei der Beratung einsetzen

Bei gelegentlich auftretenden Schlafproblemen können auch Apotheker und PTA – bitte mit viel Geduld und Verständnis – wichtige Tipps zur Schlafhygiene geben. Dabei ist es besser, zunächst die individuellen Schlaf- und Lebensgewohnheiten zu erfragen und entsprechend bei Auffälligkeiten einzuhaken, als alle uns bekannten Hinweise herunterzurattern. Unter Umständen ist hier der unterstützende Einsatz von Fragebögen zur Schlafqualität und -umgebung hilfreich. Statt zu erzählen, dass ein langer Mittagsschlaf oder Kaffee am Nachmittag kontraproduktiv sind, was die meisten bereits wissen, stellen Sie lieber konkrete Fragen. Zum Beispiel zu den Essgewohnheiten, und vielleicht treffen Sie ja dann auf jemanden, der gelegentlich große, fettige oder eiweißreiche Portionen am Abend isst und sich dann mit Sodbrennen beim Einschlafen plagt. Dem kann Melatonin auch nicht helfen. Oder fragen Sie bei Personen mit bekannter Blasenschwäche nach den Trinkmengen, die abends konsumiert werden. Vergessen Sie nicht, die Arzneimitteltherapie des Patienten auf mögliche Störquellen für die Nachtruhe zu untersuchen. Da kann von uns ein entscheidender Hinweis kommen, und wenn es nur der zu späte Einnahmezeitpunkt der Diuretika- oder Glucocorticoid-Therapie ist. Ein Melatonin-Kaufwunsch kann also der Türöffner schlechthin zu einem klärenden Gespräch sein, und man sollte sich ein, zwei Einstiegsfragen überlegen, damit es zu diesem Gespräch kommt.

 

Neugierig geworden?

Den kompletten Vortrag von Dr. Verena Stahl: „Melatonin in aller Munde“ hören Sie am 25. März 2022, 15:50 bis 16:35 Uhr bei der Interpharm, Programm und Tickets unter www.interpharm.de

Kann Melatonin andere Schlafmittel einsparen?

DAZ: Ist eine Kombination mit anderen Schlafmitteln sinnvoll, um eventuell deren Dosis zu reduzieren?

Stahl: Der Schlafmitteleinsatz, vor allem der ungerichtete, wird ja seit Langem kritisch betrachtet. Er kommt nicht ohne Beeinträchtigung der Vigilanz und des Reaktionsvermögens aus und geht dementsprechend mit einem hohen Sturzrisiko und vielen damit verbundenen Folgeproblemen einher. Auch aufgrund einiger anderer assoziierter Risiken sollten Schlafmittel nur kurzzeitig und für maximal zwei (Antihistaminika) bis vier (Benzodiazepine, Z-Substanzen) Wochen, einschließlich Absetzphase, eingenommen werden. Diese Empfehlung geht allerdings an der Realität vorbei, und die Dauereinnahme der genannten Substanzen ist eher die Regel als die Ausnahme. Wenn Patienten an ihren Schlafmitteln klammern, hat das dann häufig damit zu tun, dass sie sich einen Schlaf ohne Medikamente schlichtweg nicht mehr vorstellen können oder Absetzversuche kläglich gescheitert sind. Es ist daher eine interessante Überlegung, ob das als nebenwirkungsärmer angesehene Melatonin hier zu „Einspareffekten“ beitragen könnte. Hiermit verschiebt man aber meiner Meinung nach eher das ursächliche Problem und erzielt bei gleichzeitiger Einnahme unkalkulierbare Effekte. Das sollte man nicht auf eigene Faust ausprobieren. Ich halte es für sinnvoller, chronische Schlafmittelanwender, bei denen keine Indikation für einen längeren Gebrauch vorliegt, (multi-)professionell zu unterstützen und sie bei der schrittweisen, über einen langen Zeitraum durchgeführten Entwöhnung, zu begleiten. Unbedingt müssen dabei im Vorfeld bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden, zum Beispiel eine Verbesserung der Schlafumgebung und die Etablierung von festen Einschlafritualen oder Entspannungstechniken. Auch könnten begleitend eingesetzte pflanzliche Sedativa/Hypnotika helfen, dem Schlafmittelgebrauch abzuschwören. Das Ganze ist zugegebenermaßen eine Idealvorstellung, aber keinesfalls eine utopische.

Dosis zwischen 0,5 und 5 mg

DAZ: Welche Dosierungen sind „ungefährlich“ und einen Therapieversuch mit Melatonin wert?

Stahl: Die Spanne an angebotenen Verzehrsmengeneinheiten (von Wirkstärken darf man ja streng genommen nicht reden) ist bei Melatonin-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln erschreckend breit. Die meisten Firmen bieten Produkte mit Einzeldosen von 0,5 mg aufwärts an. Laut gesundheitsbezogener Aussagen der Hersteller kann ein Milligramm Melatonin zur Verkürzung der Einschlafzeit eingenommen werden, bei Jetlag-Symptomen sind es 0,5 bis fünf Milligramm Melatonin. Wenn nichts gegen einen Therapieversuch mit Melatonin spricht, würde ich auch bei Einschlafstörungen zunächst die niedrigste verfügbare Wirkstärke empfehlen, da schon mit 0,5 mg spürbare Effekte eintreten sollten. Bei der Einnahmezeit muss man sich im Übrigen herantasten. Das kann von zwei Stunden bis eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen reichen und muss individuell ermittelt werden. Da die Langzeitwirkungen einer kontinuierlichen Melatonin-Einnahme nicht bekannt sind, ist Folgendes zu beachten: Werden in den ersten zwei Wochen der Einnahme keine Verbesserungen be­obachtet, sollte man es bei diesem kurzen Therapieversuch belassen. Hilfreich ist, die Einnahme durch Führen eines Schlafprotokolls zu begleiten, um Veränderungen objektivieren zu können. Wenn man der Meinung ist, dass Melatonin einem zu einem besseren Schlaf verhilft, ist die Einnahmedauer auf zwei Monate zu begrenzen, am besten nur sporadisch anwenden.

Doch welchem schlaflosen Patienten kann Melatonin nun tatsächlich helfen und welche Einnahmehinweise sollten beachtet werden? Das erfahren Sie am 25. März 2022 bei der Interpharm. |

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