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Um wie viele Patienten geht es?
Medikationsanalysen: Blick auf den Umfang der Zielgruppe
Wie groß ist eigentlich die Patientengruppe, die ein hohes Risiko für (vermeidbare) arzneimittelbedingte Schäden hat? Ziel einer unter Federführung der „PMV forschungsgruppe“ aus Köln durchgeführten Studie im Rahmen des „EVITA-Projektes“ war es, den Umfang dieser Gruppe nach den Kriterien der deutschen Leitlinie „Multimedikation“ zu berechnen. Ferner sollten Informationen zur Prävalenz von problematischen Arzneimitteltherapien in der Studienpopulation gewonnen werden. Durch Zugriff auf Daten der Barmer Ersatzkasse aus dem Jahr 2019 konnten für diese Untersuchung über neun Millionen Versicherte – das entspricht ca. 12 Prozent der in Deutschland gesetzlich versicherten Menschen – einbezogen werden. Die zwei altbekannten Risikofaktoren, Multimedikation und Multimorbidität, stehen als Aufnahmekriterien für die Medikationsanalyse im Fokus der Leitlinie und bildeten daher die Basis der Studienauswertung. Multimedikation wurde dabei als gleichzeitige Anwendung von mindestens fünf Wirkstoffen über mindestens 91 Tage definiert. Es konnten jedoch nur Arzneimittel berücksichtigt werden, die im ambulanten Bereich verschrieben wurden und damit in den GKV-Daten hinterlegt waren. Arzneimittel im stationären Sektor oder in der Selbstmedikation wurden demnach nicht erfasst. Unter das Kriterium Multimorbidität fielen solche Patienten, die im Betrachtungszeitraum unter mindestens drei chronischen Erkrankungen litten. Für die Einstufung als chronische Erkrankung musste sie in mindestens drei Quartalen des Jahres 2019 dokumentiert sein.
Insgesamt erfüllten 14,1 Prozent der Barmer-Versicherten diese beiden Kriterien, wobei eine klare Korrelation mit dem Alter bestand. So waren ältere Menschen (> 64 Jahre) mit 37,3 Prozent und sehr alte Menschen (> 80 Jahre) mit gut 48 Prozent noch deutlich häufiger betroffen. Die am meisten verordneten Wirkstoffe für diese Teilpopulation waren Pantoprazol (43,0%), Hydrochlorothiazid (36,6%), Metamizol (36,3%), Amlodipin (32,8%) und Ramipril (32,5%).
Weitere Risikofaktoren
Neben der Multimedikation und Multimorbidität werden in der Leitlinie noch andere Risikofaktoren aufgeführt; sie wurden ebenfalls in die Studienauswertung miteinbezogen. Die folgenden prozentualen Angaben beziehen sich jeweils auf die Teilpopulation, die auch die Kriterien für Multimedikation und Multimorbidität erfüllt.
Auffallend hoch war mit 80 Prozent der Anteil an Patienten, die Kontakt zu mindestens drei verschiedenen Fachärzten hatten. Der Kontakt mit vielen verschiedenen Verordnern birgt, laut Studienautoren, das Risiko für Informationsverluste, Doppelverschreibungen und Adhärenzprobleme. Der Anteil derjenigen, die zwei oder mehr Krankenhausaufenthalte im Betrachtungsjahr durchlaufen hatten, lag bei 17,4 Prozent. Krankenhausaufenthalte gelten den Autoren zufolge als Risiko, da es häufig zu Änderungen am Medikationsregime kommt. Zudem wurden die Daten hinsichtlich erstmaliger stationärer Aufnahmen in eine Pflegeeinrichtung (2,5%) untersucht, weil dafür auch ein arzneimittelbedingtes Problem die Ursache sein kann. Als weitere Risikofaktoren galten die Einnahme von Psychopharmaka (9,1%) oder das Vorliegen einer Demenz-Diagnose, was auf 10 Prozent der Versicherten zutraf. Mindestens eines dieser fünf Kriterien wurde von 85 Prozent der Teilpopulation erfüllt, und drei oder mehr dieser Kriterien von 5,4 Prozent.
Problematische Arzneimitteltherapien
Die Studienpopulation mit Multimedikation und Multimorbidität wurde auch hinsichtlich der Verschreibung von besonders risikobehafteten Wirkstoffen analysiert: Von den älteren Menschen (> 65 Jahre) erhielten ca. 30 Prozent ein potenziell inadäquates Arzneimittel, bewertet anhand der PRISCUS-Liste. 29 Prozent erhielten ein Arzneimittel, das bekanntermaßen zu einer Verlängerung des QT-Intervalls führen kann, und 11 Prozent wurden Benzodiazepine oder Z-Substanzen (Zopiclon, Zolpidem usw.) verschrieben, welche nicht nur durch ihr Abhängigkeitspotenzial, sondern auch durch das erhöhte Sturzrisiko für ältere Menschen problematisch sind. Das Problem der „Überverschreibung“ von Protonenpumpeninhibitoren (PPI) wurde auch in dieser Studie wieder deutlich, denn 52 Prozent der Versicherten erhielten ein solches PPI und 18 Prozent sogar in Verordnungsmengen, die eine tägliche Behandlung mit mindestens zwei definierten Tagesdosen (DDD) für ein ganzes Jahr ermöglichten. Fast 16 Prozent der Patienten wurde eine Kombination aus einem Hemmstoff des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (ACE-Hemmer, Sartan, Renin-Hemmer), einem Diuretikum und einem nichtsteroidalen Antirheumatikum (NSAR) verordnet. Diese Kombination ist mittlerweile als „Triple Whammy“ für das Risiko bekannt, ein akutes Nierenversagen auslösen zu können. Ebenfalls bekannt ist der schädliche Einfluss anticholinerg wirksamer Arzneimittel auf die Hirnfunktion älterer Menschen, welche knapp 26 Prozent der untersuchten Teilpopulation erhielten.
Identifikation der richtigen Zielgruppe
Die genaue Vorgehensweise, wie geeignete Personen für eine Medikationsanalyse identifiziert werden können, wird weiterhin Gegenstand aktueller Diskussionen sein. Grund dafür dürften nicht zuletzt die direkten Auswirkungen auf personelle und finanzielle Ressourcen im Gesundheitswesen sein, denn der von den Studienautoren postulierte Zielgruppenumfang von rund 14 Prozent – das entspricht etwa 10 Mio. GKV-Versicherten mit Multimedikation und Multimorbidität – stellt eine beachtliche Teilpopulation dar. Neben den im Rahmen der Studie bereits genannten anderen Aspekten als Multimorbidität und Multimedikation gibt es auch Bestrebungen, noch komplexere Determinanten heranzuziehen, um die gesuchte Hochrisikogruppe möglichst selektiv und sensitiv herauszufiltern.
Die „WestGem-Studie“ aus dem Jahr 2016 konnte neben der Multimedikation auch die Diskrepanzen zwischen verordneter und tatsächlich verwendeter Medikation, die Dauer der pharmazeutischen Betreuung und den Ausgangswert im sog. „Medication Appropriateness Index (MAI)-Score“ als wichtige Einflussfaktoren für den Nutzen einer Medikationsanalyse nachweisen. Für Multimorbidität und eine eingeschränkte Nierenfunktion konnte ein solcher Nachweis beispielsweise nicht erbracht werden.
Komplexe Ansätze zur Identifikation der gesuchten Zielgruppe werden auch zunehmend für die Krankenhauspharmazie erarbeitet. Eine Analyse und Bewertung der hierzu bereits publizierten Strategien fand im Rahmen des Projektes „Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit (TOP)“ statt. Die Autoren stellten durch eine Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) fest, dass sich das Angebot einer intensiven pharmazeutischen Betreuung bisher vornehmlich auf chirurgische und intensivmedizinische Stationen oder Patienten mit bestimmten Therapien beschränkt. Eine differenzierte systematische Erfassung der Hochrisikopatienten erfolgt demnach nur bei sieben Prozent der befragten Krankenhäuser. Stattdessen sollten aber Patienten mit hohem Risiko für vermeidbare arzneimittelbedingte Schäden von allen Stationen die gesuchte Zielgruppe darstellen.
Weiterhin weisen die Autoren darauf hin, dass die Suche nach rein theoretischen Medikationsfehlern nicht zielführend sei, da viele Medikationsfehler keine klinische Relevanz besitzen. Sie räumen ein, dass es aktuell noch kein System gibt, welches genau die gesuchte Zielgruppe angemessen adressiert. Als zukunftsweisenden Ansatz sehen sie aber die Entwicklung komplexer computergestützter Algorithmen, die auf Basis aller relevanten Gesundheitsdaten eine Patientenauswahl treffen. Am vielversprechendsten sei bis dato der „Drug Derived Complexity Index (DDCI)“, der als rein digitales Prognosemodell zur Abschätzung des arzneimittelbedingten Risikos für Mortalität, ungeplante Krankenhausaufnahme und Rehospitalisierung besonders kosten- und zeiteffizient sei; er könne sogar im ambulanten Sektor eingesetzt werden.
Da solche Systeme eine hochentwickelte und sektorenübergreifende Digital-Infrastruktur voraussetzen, dürfte es noch eine Weile dauern, bis sie Einzug in den Apothekenalltag finden werden. Ob sich alle patientenrelevanten Risikofaktoren allein durch künstliche Intelligenz erfassen und auswerten lassen, oder ob alternativ bzw. komplementär dazu nicht doch eine individuelle Bewertung durch pharmazeutisches Personal erfolgen sollte, ist dabei noch eine andere Frage, die es zu klären gilt. |
Literatur
Lappe V, Dinh TS, Harder S et al. Multimedication Guidelines: Assessment of the Size of the Target Group for Medication Review and Description of the Frequency of Their Potential Drug Safety Problems with Routine Data. Pharmacoepidemiology 2022;1:12-25.
Leitliniengruppe Hessen, DEGAM: S3-Leitlinie Multimedikation, Langfassung, AWMF-Registernummer: 053 –043. 2. Auflage 2021. Die Leitlinie ist unter https://www.degam.de/degam-leitlinien-379.html sowie unter https://www.awmf.org abrufbar.
Rose O, Mennemann H, John C et al. Priority Setting and Influential Factors on Acceptance of Pharmaceutical Recommendations in Collaborative Medication Reviews in an Ambulatory Care Setting – Analysis of a Cluster Randomized Controlled Trial (WestGem-Study). PLoS One 2016;11(6):e0156304.
Grandt D, Benoist M, Britz H et al. Strategien zum Erkennen von Hochrisikopatienten im Krankenhaus. Krankenhauspharmazie 2022;43:91-94.
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