DAZ aktuell

Nur wer sich neu erfindet, überlebt

DAZ-Gespräch mit David Matusiewicz, Professor für Medizinmanagement, zur Zukunft der Apotheken

cm/ral | Welche Rolle kann die Vor-Ort-Apotheke künftig im deutschen Gesundheitswesen spielen? Und wie muss sie sich angesichts der zunehmenden Digitalisierung auf diese Rolle vorbereiten? David Matusiewicz, Professor für Medizinmanagement an der FOM Hochschule, ist der Ansicht, dass nur Apotheken überleben werden, die bereit sind, sich völlig neu zu erfinden. Alle anderen würden vom Markt verschwinden, äußerte er im Gespräch mit der DAZ. Einen Verlust sieht er darin nicht, denn seiner Meinung nach gibt es ohnehin zu viele Apotheken in Deutschland. Eine Meinung, der sich DAZ.online-Chef­redak­teurin Julia Borsch in ihrem Kommentar zum DAZ-Gespräch nicht anschließt.

Die Digitalisierung wird rasant Einzug halten ins Gesundheitswesen – mit allen Konsequenzen, ist Matusiewicz überzeugt. Was das für die Vor-Ort-Apotheken bedeutet, fasste er gegenüber der DAZ folgendermaßen zusammen: „Es wird vereinzelt weiterhin die Apotheke als Tante-Emma-Laden geben, wie sie vor 50 Jahren schon aussah, aber auch große Unternehmen, die sich ausschließlich im digitalen Raum tummeln – und eben ganz viele Geschäftsmodelle irgendwo dazwischen.“

Foto: Tom Schulte/FOM

Zur Person

David Matusiewicz ist Ökonom und Professor für Medizin­management an der FOM Hochschule. Seit 2015 verantwortet er als Dekan den Hochschulbereich Gesundheit & Soziales und leitet als Direktor das Forschungsinstitut für Gesundheit & Soziales (ifgs). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Gesundheitsmanagements bzw. Medizinmanagements und der Gesundheitsökonomie.

Arzneimittel künftig vom 3D-Drucker

Unabhängig von diesen Geschäfts­modellen findet er, dass die Apotheke als reiner Umschlagplatz für Arzneimittel ausgedient hat, denn in nicht allzu ferner Zukunft würden Medikamente aus dem 3D-Drucker kommen und dann lasse sich kein Geld mehr damit verdienen, „Packungen über den HV-Tisch zu schieben“. Vor allem diese Prognose hat auf DAZ.online zu heftigen Diskussionen geführt, denn der 3D-Druck, der in der Theorie so einfach und verführerisch klingt, dürfte in der Praxis nicht ganz so einfach zu realisieren sein.

Dennoch: Matusiewicz ist überzeugt davon, dass die digitale Transfor­mation auf Dauer nur überlebt, wer bereit ist, sich neu zu erfinden. Wer sich jetzt schon gegen die Einführung des E-Rezepts sträube, hat in Matusiewicz‘ Augen kaum Zukunftschancen. Die Konkurrenz aus dem Internet werde das Übrige tun. Er erwartet für die kommenden Jahre eine Marktbereinigung, die er durchaus auch für wünschenswert hält. „Wir haben ohnehin zu viele Apotheken in Deutschland“, so Matusiewicz.

Vorsprung durch Vertrauen

Diejenigen Apotheken, die überleben, haben gegenüber DocMorris und Co. aus Sicht von Matusiewicz vor allem einen Vorteil: das Vertrauen ihrer Kunden, das sie sich über Jahrzehnte erarbeitet haben. „Wenn die Apotheken es schaffen, dieses Gut mitzunehmen in die digitale Welt, ist das enorm viel wert. Wenn sie das geschickt nutzen und gute Services anbieten, ist das ein großer Vorteil auch gegenüber Google, Apple und Amazon, die sich derzeit verstärkt im Gesundheitsmarkt breitmachen“, zeigte er sich im DAZ-Gespräch überzeugt. Zu lange mit entsprechenden Angeboten warten, dürften die Apotheken allerdings nicht „Die Branche hat den Start der Entwicklung verschlafen. In den vergangenen Jahren war die Taktik der Apothekerschaft eher, das Internet schlechtzumachen, als selbst zu gestalten – das muss sich jetzt schnell ändern. Die Verbände haben es verstanden, die jungen Apotheker haben es verstanden und der Rest wird letztlich rauswachsen.“

Zukunftsaufgabe Versorgungssteuerung

Präsenzapotheken, die sich der digi­talen Transformation stellen und sie überleben, winken Matusiewicz zufolge neue Möglichkeiten. Das E-Rezept könne dazu beitragen, die Abläufe in den Apotheken zu verschlanken. Mindestens genauso interessant für die Betriebe sei jedoch, dass sie Zugriff auf die elektronischen Patientenakten ihrer Patienten bekommen. „Mit den Informationen, die sie dort finden, können sie etwas tun, was heute keiner macht: Versorgungssteuerung.“ Der Datenschatz bringt seiner Einschätzung nach große Chancen für die Offizinen mit sich. Denn bei der Interpretation dieser Daten werden die Versicherten auch weiterhin auf die Unterstützung der Heilberufler angewiesen sein. „Die Apotheke wird künftig eine deutlich wichtigere Rolle im Gesundheitswesen einnehmen als bisher“, glaubt Matusiewicz. Sie könnte ähnlich wie in der Schweiz zur ersten Anlaufstelle für Patienten werden und durch Kompetenzerweiterungen die Arztpraxen entlasten. „Im Idealfall brauche ich dann zum Beispiel bei einem banalen Infekt gar keinen Arzttermin mehr“, sagt der Ökonom.

Neue Geschäftsmodelle im Selbstbezahlerbereich

Neue Geschäftsmodelle sieht Matusiewicz für die Apotheken darüber hinaus im Selbstzahlerbereich. „Selbstoptimierung ist ein Trend, an dem auch Apotheken verdienen können. Wie verbessere ich meinen Schlaf? Was kann ich tun, um mein Wohlbefinden zu steigern, mich besser zu ernähren, mich mehr zu bewegen? Im Lifestyle-Bereich liegt großes Potenzial auch für die Apotheken.“

Ein Schritt in die richtige Richtung

Der anstehende Wandel muss sich Matusiewicz zufolge auch in der Honorierungssystematik der Apotheken widerspiegeln. „Wir müssen unbedingt weg von der rein packungsbezogenen Vergütung“, sagt er. Dass mit den pharmazeutischen Dienstleistungen nun erstmals pharmazeutische Betreuungsangebote bezahlt werden, ist für ihn ein erster Schritt in die richtige Richtung. „Die Apotheken haben super ausgebildete Mitarbeiter, die im Arzneimittel­bereich deutlich mehr Kompetenz mitbringen als Ärzte“, betont Matusiewicz. „Das ist eine wertvolle Ressource.“

Vor diesem Hintergrund stellt er auch infrage, ob ein Chroniker wirklich für jede Medikamentenverordnung seinen Arzt aufsuchen muss. „Das Medikament braucht er ja sowieso. Und viele Fragen kann auch der Apotheker klären.“ Da Apotheken in der Vision des Ökonomen auch Laborwerte bestimmen dürfen, könnten sie die Verlaufskontrolle übernehmen. „Dann fände ich es auch okay, wenn sie sich an den Disease-Management-Programmen beteiligen und da­rüber eine Vergütung erhalten.“ |

 

Das gefährliche Mantra der Ökonomen

Ein Kommentar

Julia Borsch, Chef­redakteurin DAZ.online

Gesundheitsökonom und Digitali­sierungsfachmann Professor David Matusiewicz erwartet, dass die digitale Transformation für die Apotheken einen radikalen Umbruch bedeuten wird. Wer nicht mitgeht, wird nicht überleben. Und ja, wenn man die Dinge einfach so laufen lässt, hat er mit großer Wahrscheinlichkeit recht. Die anstehende Marktbereinigung wird eine spürbare Reduktion der Apotheken­zahlen mit sich bringen. Was der Ökonom mit einem Schulterzucken quittiert, weil es in seinen Augen ohnehin zu viele Apotheken gibt, ist aber aus Versorgungssicht ein großes Problem. Denn die platte Aussage „es gibt ohnehin zu viele Apotheken“, die vor Matusiewicz schon viele Ökonomen getätigt haben, greift viel zu kurz und wird der Komplexität der Sache nicht gerecht.

Für die Innenstädte deutscher Großstädte mag richtig sein, dass die Versorgung auch mit deutlich weniger Apotheken keinen Deut schlechter wäre. Insbesondere dann nicht, wenn man davon ausgeht, dass besonders leistungsstarke Apotheken den Wandel überleben werden. Aber die Welt besteht nicht nur aus Innenstädten von Großstädten, wo Patientinnen und Patienten freie Apothekenwahl im wahrsten Sinne des Wortes haben. Ganz im Gegenteil: Der große Teil der Menschen lebt in Stadtrandlagen oder auf dem Land. Und da macht sich das Apothekensterben der vergangenen Jahre schon jetzt bemerkbar, ohne dass die große digitalisierungsbedingte Marktbereinigung abgeschlossen ist. Ja vielleicht sogar, ohne dass sie wirklich schon begonnen hat. Aber in diesen Regionen ist die wohnortnahe Versorgung durch Apotheken bereits jetzt ernsthaft in Gefahr. Wenn die versorgungsrelevanten Apotheken einmal weg sind, sind sie weg. Das Rad wäre dann nur mit staatlichen Eingriffen zurückzudrehen. Auf die flächendeckende wohnortnahe Versorgung nimmt nämlich die digita­lisierungsbedingte Selek­tion keine Rücksicht. Die Menschen haben nichts von einer Apotheke, die sich zwar neu erfunden hat, denn nur die werden Matusiewicz zufolge überleben, die aber 100 km weit weg ist. Von daher wäre die Politik gut beraten, nicht dem Mantra der Ökonomen zu unterliegen, dass es ohnehin zu viele Apotheken gibt und den Markt dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen, sondern genau hinzusehen und gegebenenfalls regulierend einzugreifen. Die Fähigkeit sich neu zu erfinden und möglichst digital aufzustellen, ist zwar eine auch für Apotheken positive Eigenschaft, sollte in Bereichen der Daseinsvorsorge aber auf jeden Fall nicht das Über­lebenskriterium sein.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.