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Politik

Ein großes schwarzes Loch

Einblicke in die Finanzlage der gesetzlichen Krankenkassen

Angesichts des aktuell laufenden Verfahrens zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz richten sich die Blicke verstärkt auf die wirtschaftliche Lage der gesetzlichen Krankenkassen. Diese haben im vergangenen Jahr mit einem Fehlbetrag von 5,8 Milliarden Euro das höchste Minus seit der deutschen Einheit eingefahren. Der Ausblick ist widersprüchlich: Zwar scheint sich die finanzielle Lage der Kassen aktuell wieder etwas zu entspannen, wie der Verlauf des ersten Quartals 2022 vermuten lässt. Andererseits warnen die Versicherer vor einem Defizit von 17 Milliarden Euro im Jahr 2023. Der Gesetzgeber versucht daher, die Notbremse zu ziehen. Anlass genug, einen genaueren Blick auf die Finanzlage der Kassen zu werfen und dabei der Frage nachzugehen, wofür diese das Geld überhaupt ausgeben. | Von Thorsten Schüller

Die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland sind es gewohnt, mit großen Zahlen zu hantieren. Das gilt auch für die Finanzen des Jahres 2021: Da standen den Einnahmen von 278,6 Milliarden Euro Ausgaben von 284,3 Milliarden Euro gegenüber. Auf Grundlage von vorläufigen Zahlen hat die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) demnach 2021 mit einem Fehlbetrag von 5,762 Milliarden Euro abgeschlossen. Nach endgültigen Zahlen des Bundesgesundheitsministe­riums (BMG) soll das Defizit gar bei minus 6,7 Milliarden Euro gelegen haben. In jedem Fall, so der AOK-Bundesverband, war es das höchste Minus seit der deutschen Einheit. Auch im Vergleich zum Vorjahr fiel das Defizit satt aus – es hatte sich im Vergleich zu 2020 mehr als verdoppelt.

Nach Einschätzung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat unter anderem die Pandemie die Bilanzen der Krankenkassen im vergangenen Jahr deutlich belastet. Während die Einnahmen der Krankenkassen 2021 auch dank eines Bundeszuschusses von 5 Milliarden Euro sowie Einnahmen aus Zusatzbeiträgen um 7,1 Prozent gestiegen sind, wurden die Kassen laut BMG auf der Ausgabenseite unter anderem durch die Vermögensabführung an den Gesundheitsfonds belastet. Unter dem Strich hat das Finanzdebakel von 2021 nach Angaben des BMG keine Krankenkassenart verschont: Für die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) betrug das Minus 4,16 Milliarden Euro, für die Ersatzkassen 576 Millionen Euro, für die Betriebskrankenkassen (BKK) 480 Millionen Euro, für die Innungskrankenkassen (IKK) 409 Millionen Euro und für die Knappschaft 104 Millionen Euro. Die Landwirtschaftliche Krankenkasse (LKK), die nicht von der Vermögensabführung betroffen war, schloss das Jahr 2021 mit einem Defizit in Höhe von 31,2 Millionen Euro ab. Immerhin verfügten die Krankenkassen zum Stichtag 31. Dezember 2021 noch über Finanzreserven von insgesamt rund 11 Milliarden Euro.

Beitragszahler nicht zusätzlich belasten

Die finanzielle Lage bleibt auch weiterhin angespannt. Die GKV stehe „vor großen finanziellen Herausforderungen“, erklärte Lauterbach. Die Zahlen für das letzte Jahr zeigten aber auch: Durch den zusätzlichen Bundeszuschuss und den Abbau der Finanzreserven sei es gelungen, dass die Beitragszahler nicht übermäßig belastet worden seien. „Die Beiträge möglichst stabil zu halten – das ist auch mit Blick auf das laufende und das nächste Jahr unser Ziel. Dafür werden wir frühzeitig die Weichen stellen“, so Lauterbach in einer Pressemitteilung seines Ministeriums. Ein wesentliches Element: das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, dessen aktueller Entwurf am 27. Juli vom Kabinett beschlossen worden ist.

Deutlich zurückhaltender gab und gibt sich angesichts der finanziellen Kassenlage der AOK-Bundesverband: „Die Ampel-Koalition muss angesichts der sich abzeichnenden Finanzierungslücke in der gesetzlichen Krankenversicherung von 17 Milliarden Euro im nächsten Jahr schnell Maßnahmen ergreifen, um eine zusätzliche Belastung der Beitragszahler und einen flächendeckenden Anstieg der Zusatzbeiträge zu verhindern“, forderte die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Carola Reimann. Der bislang vorliegende Gesetzesentwurf zur GKV-Finanzierung sei „völlig ungeeignet, die strukturelle Milliardenlücke der GKV langfristig zu schließen“. Auch der vorgesehene gesetzliche Bundeszuschuss von 14,5 Milliarden Euro reiche auf keinen Fall. Reimann verwies auf die veränderte Lage durch den Krieg in der Ukraine: „Schon vor der aktuellen Krise war klar, dass die finanziellen Spiel­räume enger werden. Dieses Problem verschärft sich nun in dramatischer Art und Weise.“

Tab. 1: Ausgaben der GKV im Jahr 2021 in ausgewählten Bereichen. Veränderungsrate je Versichertem gegenüber 2020 in der GKV und der AOK
Ausgaben in Milliarden Euro
Veränderungsrate GKV
Veränderungsrate AOK
Ärztliche Behandlung
44,823
1,73
0,1
Zahnärztliche Behandlung
12,460
7,90
7,5
Zahnersatz
3,954
19,16
17,2
Arzneimittel (inkl. Wertschöpfungsanteil der Apotheken)
46,653
7,78
7,5
Hilfsmittel
9,778
5,72
5,1
Heilmittel
10,300
16,44
16,0
Krankenhaus
85,128
4,37
4,1
Krankengeld
16,612
4,10
5,0
Fahrkosten
7,565
6,22
6,3
Vorsorge- und Reha-Maßnahmen
3,463
11,22
11,9
Schutzimpfungen
2,219
9,86
4,3
Schwangerschaft/Mutterschaft ohne stationäre Entbindung
1,620
5,49
6,5
Häusliche Krankenpflege
7,801
6,31
5,8
Netto-Verwaltungskosten
11,716
-0,30
-4,8

Quelle: BMG, KV-45-Zahlen, Stand: 8. März 2022

Ausgaben steigen 2021 um 14 Milliarden Euro

Eine wesentliche Drehschraube bei der GKV-Finanzlage stellen die Ausgaben dar. Diese stiegen 2021 gegenüber dem Vorjahr um rund 14 Milliarden Euro. Davon entfiel wiederum fast die Hälfte auf Ausgabensteigerungen im Krankenhausbereich und bei Arzneimitteln. Konkret: Der Krankenhausbereich verschlang 85,1 Milliarden Euro – hier stiegen laut BMG vor allem die Pflegepersonalkosten stark an, während Arzneimittel mit 46,7 Milliarden Euro und ärztliche Behandlungen mit 44,8 Milliarden Euro zu Buche schlugen. Das Apothekenhonorar wird in der GKV-Statistik nicht separat aufgeschlüsselt. Der Wertschöpfungsanteil steckt in den Arzneimittelausgaben und betrug 2021 laut ABDA 1,9 Prozent.

Prozentual starke Ausgabenanstiege gegenüber dem Vorjahr gab es beim Zahnersatz (plus 19,2 Prozent auf 3,95 Milliarden Euro), bei Heilmitteln (plus 16,44 Prozent auf 10,3 Milliarden Euro) sowie bei Vorsorge- und Rehamaßnahmen (plus 11,2 Prozent auf 3,46 Milliarden Euro). Eine Übersicht zu den Ausgaben von GKV und AOK bietet die Tabelle 1, Abbildung 1 zeigt die Anteile der einzelnen Bereiche an den Ausgaben. Beim Zahnersatz spiegelte sich insbesondere die Anhebung der Festzuschüsse durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz wider. Rund 8 Milliarden Euro der Ausgaben entfielen auf die Vermögensabführung der Kassen an den Gesundheitsfonds zur Stabilisierung der Beitragssätze. Der umstrittene Zugriff auf die Rücklagen belastete die AOK-Gemeinschaft mit etwa 4,2 Milliarden Euro am stärksten. Die Ersatzkassen mussten rund 2,3 Milliarden Euro abführen, die Betriebskrankenkassen rund 783 Millionen Euro, die Innungskrankenkassen etwa 481 Millionen Euro und die Knappschaft rund 187 Millionen Euro.

Abb. 1: Anteile an den GKV-Ausgaben insgesamt im 1. bis 4. Quartal 2021 in Prozent (nach: BMG)

Aufschlussreich ist auch ein Blick auf die Einnahmen-Ausgaben-Entwicklung der verschiedenen Kassenarten; entsprechende Vergleichsdaten liegen für 2020 vor. Demnach verzeichneten sämtliche Versicherungen mit Aus­nahme der LKK ein Defizit (siehe Tab. 2). Am stärksten fiel dieses mit minus 1,1 Milliarden Euro bei den AOK aus, gefolgt von den Ersatzkassen mit einem Minus von 1,0 Milliarden Euro.

Tab. 2: Finanzdaten der Kassenarten 2020 in Mrd. Euro
AOK
BKK
IKK
EK
KBS
LKK
GKV
Überschuss / Defizit
-1,1
-0,2
-0,2
-1,0
-0,1
0,1
-2,6
Einnahmen insgesamt
98,6
35,4
17,2
99,0
7,5
2,7
260,3
Ausgaben insgesamt
99,6
35,6
17,5
100,0
7,6
2,6
262,9

AOK: Allgemeine Ortskrankenkassen, BKK: Betriebskrankenkassen, IKK: Innungskrankenkassen, EK: Ersatzkassen, KBS: Knappschaft-Bahn-See, LKK: Landwirtschaftliche Krankenkasse, GKV: Gesetzliche Krankenversicherung (Quelle: KJ1-Statistik)

Stabile Entwicklung im ersten Quartal 2022

Immerhin, im ersten Quartal 2022 hat sich die finanzielle Situation der 97 gesetzlichen Krankenkassen stabilisiert. Diese haben in den ersten drei Monaten ein nahezu ausgeglichenes Finanzergebnis erzielt. Den Einnahmen in Höhe von 71,7 Milliarden Euro standen Ausgaben in nahezu gleicher Höhe gegenüber. Das Defizit betrug etwa 16 Millionen Euro. Zu diesem Ergebnis hat laut BMG wesentlich der in diesem Jahr einmalig ergänzende Bundeszuschuss von 14 Milliarden Euro beigetragen. Die Finanzreserven der Krankenkassen waren allerdings weiter geschmolzen – sie betrugen zum Quartalsende 9,9 Milliarden Euro beziehungsweise 0,4 Monatsausgaben und entsprachen damit dem Zwei­fachen der gesetzlich vorgesehenen Mindestreserve in Höhe von 0,2 Monatsausgaben.

Die AOK-Gemeinschaft erzielte den Angaben zufolge in den ersten drei Monaten 2022 einen leichten Überschuss von 81 Millionen Euro, während die Innungskrankenkassen auf ein Plus von 64 Millionen Euro und die Knappschaft von 17 Millionen Euro kamen. Leicht rote Zahlen schrieben die Ersatzkassen mit minus 199 Millionen Euro und die Betriebskrankenkassen mit minus 8 Millionen Euro. Die nicht am Risikostrukturausgleich teilnehmende Landwirtschaftliche Krankenkasse verbuchte einen Überschuss von 29 Millionen Euro.

Auch wenn die GKV demzufolge mit einem vergleichsweise moderaten Minus in das Jahr 2022 gestartet ist, bleibt deren Finanzsituation nach Ansicht des AOK Bundesverbandes unsicher. „Weiterhin steht die GKV-Defizitprognose von mindestens 17 Milliarden Euro für 2023 im Raum“, warnte die Vorstandsvorsitzende Reimann Anfang Juni. Zudem seien die Zahlen des ersten Quartals traditionell schwierig zu lesen, weil noch nicht alle Abrechnungen eingeflossen seien. Bundesgesundheitsminister Lauterbach beurteilt die Lage hingegen positiver. Das ausgeglichene Finanzergebnis im ersten Quartal zeige, dass der im Herbst 2021 beschlos­sene ergänzende Bundeszuschuss die Beitragssätze und die GKV-Finanzen „wirksam und zielgenau“ gestützt habe. „Auch über 2022 hinaus werden wir für eine stabile Finanzierung der GKV sorgen“, versprach der Minister. Der Referentenentwurf zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz weist laut AOK-Bundesverband zurzeit allerdings lediglich einen zusätzlichen Bundeszuschuss von 2 Milliarden Euro aus, so dass die Finanzmittel aus dem Steuertopf für die GKV insgesamt 16,5 Milliarden Euro betragen würden, 12 Milliarden weniger als 2021. Stattdessen plane die Ampel-Koalition unter anderem einen neuerlichen Rückgriff auf die Finanzreserven der Krankenkassen sowie eine Erhöhung des durchschnittlichen Zusatzbeitrages um 0,3 Punkte auf 1,6 Prozent. Damit stiege der Beitragssatz zur GKV inklusive des gesetzlichen Beitragssatzes auf über 16 Prozentpunkte.

Ausblick auf 2023: Vorschläge zum Löcherstopfen

Die drohende milliardenschwere Finanzierungslücke im kommenden Jahr schwebt wie ein Damoklesschwert über den Versicherungen und hat deren Fantasie angeregt, mit welchen Maßnahmen das Loch gestopft werden könnte. So plädiert der BKK-Dachverband dafür, den Bundeszuschuss an die GKV um 2 Milliarden Euro zu erhöhen, der GKV ein Bundesdarlehen von 1 Milliarde Euro zukommen zu lassen und den Zusatzbeitrag um 0,3 Beitragssatzpunkte zu erhöhen. Letzteres allein dürfte den Berechnungen zufolge 4,8 bis 5 Milliarden Euro einbringen. Darüber hinaus sollte die pharmazeutische Industrie einen „Solidarbeitrag“ von 1 Milliarde Euro in Form einer „umsatzabhängigen Kürzung“ erbringen. Einsparungen wären zudem möglich bei Krankenhäusern (keine Doppelfinanzierung beim Pflegebudget/Bereinigung um die „nicht bettennahen“ Pflegekosten), bei Vertragsärzten (keine höhere Vergütung mehr für neue Patienten [TSVG-Regelung]) sowie im Heben von allgemeinen „Effizienzreserven“ im Volumen von 3 Milliarden Euro.

Ein Maßnahmenpaket des AOK-Bundesverbandes sieht unter anderem eine Senkung der Mehrwertsteuer für alle steuerpflichtigen GKV-Leistungsbereiche auf sieben Prozent vor. „Allein diese Maßnahme würde nach unseren Berechnungen Einsparungen in Höhe von 5,2 Milliarden Euro bringen“, sagte Reimann.

Auch wenn sich manche Vorschläge im aktuellen Kabinettsbeschluss zum GKV-Gesetz wiederfinden, regt sich weiter Unmut. So zeigt sich die Pharmabranche unverändert alarmiert; der Standort Deutschland und die Patientenversorgung seien nach wie vor gefährdet. Für die Apotheken bleibt es bei der geplanten temporären Erhöhung des Kassenabschlags, der AOK-Bundesverband spricht von allenfalls kosmetischen Anpassungen im Vergleich zum Referentenentwurf, und der GKV-Spitzenverband stellt fest, dass die strukturellen Probleme damit nicht gelöst würden. So dürfte das Ringen um die GKV-Finanzen für das Jahr 2023 noch nicht beendet sein. |
 

Literatur

Anlage: Finanzielle Entwicklung in der Gesetzlichen Krankenversicherung einschließlich der landwirtschaftlichen Krankenkasse (Q1 2022), Informationen des Bundesministeriums für Gesundheit, www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/G/GKV/Anlage_Finanzentwicklung_der_GKV_im_Q1_2022.pdf

Finanzentwicklung der GKV im 1. Quartal 2022. Pressemitteilung des Bundesministeriums für Gesundheit, 24. Juni 2022, www.bundes­gesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/finanz­entwicklung-der-gkv-im-1-quartal-2022.html

Finanzergebnisse der GKV. Informationen des Bundesministeriums für Gesundheit, www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/krankenversicherung/zahlen-und-fakten-zur-krankenversicherung/finanzergebnisse.html

Sucker-Sket K. GKV-Finanzstabilisierungsgesetz – Lange Diskussionen, (fast) keine Änderungen. Nachricht von DAZ.online, 27. Juli 2022, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2022/07/27/lange-diskussionen-fast-keine-aenderungen

Sucker-Sket K. Pharmaverbände zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz

„Innovationen und Investitionen sind gefährdet“. Nachricht von DAZ.online, 27. Juli 2022, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2022/07/27/innovationen-und-investitionen-sind-gefaehrdet

Autor

Thorsten Schüller ist freier Wirtschaftsjournalist und schreibt u. a. für DAZ, AZ und DAZ.online über den Apotheken-, Pharma- und Großhandelsmarkt.

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