Aus den Ländern

Psychiatrische Erkrankungen und ihre Therapie

Fortbildungsseminar der Apothekerkammer und DPhG Hamburg

HAMBURG (tmb) | Beim 26. gemein­samen Fortbildungsseminar der Apothekerkammer und DPhG-Landesgruppe Hamburg ging es unter dem Titel „Das Ich im Ich“ um psychiatrische Erkrankungen. Die Programmgestaltung und die Referenten sorgten für eine gelungene Balance der Inhalte zwischen wissenschaftlichem Hintergrund und Anwendung in der Apotheke. Wie im Vorjahr fand das Seminar am 11. Februar online statt.
Foto: DAZ/tmb

Gastgeber und Moderator Prof. Dr. Sebastian Wicha, Hamburg, hier beim Fortbildungsseminar im Februar 2020.

In seiner Begrüßung betonte Kammerpräsident Kai-Peter Siemsen die Tradition der gemeinsamen Fortbildungsveranstaltung von Deutscher Pharmazeutischer Gesellschaft (DPhG) und Kammer in Hamburg. Als Gastgeber aus dem Pharmazeutischen Institut moderierte Prof. Dr. Sebastian Wicha das Seminar.

Immer mehr Diagnosen

Zunächst gab Priv.-Doz. Dr. Christoph Muhtz, Hamburg, einen Überblick über „psychiatrische Erkrankungen aus ärztlicher Sicht und aus Patientensicht“. Er betonte die große Häufigkeit dieser Erkrankungen. In Deutschland seien vier von zehn Menschen im Laufe ihres Lebens betroffen. Seit 2000 habe die Zahl der Arbeitsfehl­tage durch psychische Erkrankungen massiv zugenommen. Dabei bleibe offen, ob die Häufigkeit gestiegen sei oder ob die Betroffenen eher Hilfe suchen. In den vorigen Monaten habe die Zahl der Anfragen alles Vorherige überstiegen, berichtete Muhtz. Besonders seien jetzt junge Erwachsene betroffen. Muhtz betonte, dass psychische Erkrankungen rein deskriptiv anhand der Symptome diagnostiziert werden. Dabei werden nach ICD-10 sieben große Gruppen unterschieden: organische psychische Erkrankungen, Suchterkrankungen, schizophrene Psychosen, affektive Störungen (Depressionen und bipolare Störungen), Angst- oder Zwangsstörungen, psychische Erkrankungen mit kör­perlichen Faktoren sowie Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen.

Adhärenz gefragt

Depressionen werden nach der Anzahl der Haupt- und Nebensymptome kategorisiert. Gemäß dem ICD-10-Code liegt bereits eine Depression vor, wenn die Symptome zwei Wochen lang andauern. In der Praxis sei jedoch wesentlich, ob ein Leidensdruck besteht, erklärte Muhtz. Er appellierte an die Apothekenteams, bei der Abgabe von Antidepressiva die Adhärenz zu fördern. Antidepressiva würden nicht süchtig machen. Die sehr häufigen Nebenwirkungen müssten angesprochen werden, auch die oft verschwiegenen sexuellen Störungen. Um einen Rebound zu verhindern, müsse langsamer als früher abgesetzt werden. Mit Blick auf die viel selteneren schizophrenen Psychosen demonstrierte Muhtz anhand eines Films, dass die Patienten ständig Denkstörungen und Halluzinationen ausgesetzt sind. Darunter leide auch die Aufmerksamkeit für Anwendungshinweise zu Arzneimitteln. Dies sei in der Apotheke zu bedenken.

Zwangserkrankungen – die „geheime Krankheit“

Zwangserkrankungen werden oft als „exotisch“ betrachtet, aber sie sind die vierthäufigste psychische Störung, erklärte Dr. Hans Onno Röttgers, Marburg. Da sich die Betroffenen ungern mitteilen, gelten sie als „geheime Krankheit“. Als wesentliches Kriterium nannte Röttgers, dass die Betroffenen etwas tun oder denken müssen, obwohl sie es nicht wollen, und dass dies ihren Alltag stört. Dies betrifft Zwangsgedanken und -handlungen, insbesondere Wasch- oder Kontrollzwänge. Bei diesen Handlungen würden die Betroffenen keine Freude empfinden. Die Einsicht in die Unsinnigkeit fluktuiere hingegen, betonte Röttgers. Häufige Komorbiditäten sind Depres­sionen oder Angststörungen. Wichtigste Behandlung ist die kognitive Verhaltenstherapie. Als ergänzende Pharmakotherapie dienen SSRI, ins­besondere bei zusätzlicher Depression. Bei Zwangserkrankungen seien aber Behandlungen über acht bis zwölf Wochen und zwei- bis dreimal so hohe Dosen wie bei einer Depression erforderlich, erklärte Röttgers. In Krisen könnten Benzodiazepine nötig sein, die aber nicht ursächlich wirken. ­Andere Psychopharmaka seien bei Zwangserkrankungen wirkungslos.

Fortschritt bei Antipsychotika

Prof. Dr. Martina Hahn, Frankfurt/Main, beschrieb die pharmakologischen Grundlagen von Antipsychotika. Wegen ihrer vielen Indikationen dürfe aus einer Verordnung nicht auf eine Schizophrenie als Diagnose geschlossen werden. Zur Übersicht über die Rezeptorprofile der Antipsychotika verwies Hahn auf die Seite psychiatrietogo.de. Mit Blick auf die Dosierungen warnte sie vor einer möglichen Supersensitivität. So hätten die früher üblichen hohen Dosen von Haloperidol die Dopamin-Rezeptoren irreversibel hochreguliert, sodass immer höhere Dosen nötig wurden. Entgegen früheren Einteilungen nach Potenz und (A-)Typizität würden Anti­psychotika heute nach Generationen gegliedert. Die erste Generation bilden Dopaminantagonisten, die zweite Generation Serotonin-Rezeptor2a-Ant­agonisten. Vertreter der dritten Generation wie Aripiprazol würden als partielle Dopaminagonisten dort agonistisch wirken, wo Dopamin fehle, und so die unerwünschte Negativsymptomatik überwinden. Sie würden auch keine Supersensitivität am D2-Rezeptor auslösen und den Prolaktinspiegel eher senken, sodass keine sexuellen Funktionsstörungen zu fürchten seien. Registerstudien hätten gezeigt, dass alle Antipsychotika die Mortalität verringern – mit dem stärksten Effekt bei Depotpräparaten der zweiten Generation. Auch wenn dies in der Beratung nicht angesprochen werde, sollte dies in der Apotheke die entscheidende Motivation sein, die Adhärenz für die oft nebenwirkungsreiche Therapie zu fördern. Dabei sollte stets der Nutzen vermittelt werden, empfahl Hahn.

Bei der Abgabe von Clozapin in der Apotheke sollte gefragt werden, ob die Patienten einen Behandlungspass haben und die Termine für die Blutbildkontrolle wahrnehmen, erklärte Hahn. Wenn das Risiko für Blutbildveränderungen durch Wechselwirkungen steigt, sollten eher die anderen Arzneimittel hinterfragt werden, weil Clozapin nur als Reservemittel eingesetzt wird. Die Kombination mit Metamizol sei unbedingt zu vermeiden, weil sich gefährliche Blutbild­veränderungen dann schon innerhalb eines Tages entwickeln können, sodass die Kontrollen nicht greifen. Außerdem sollte bei Clozapin-Abgabe die sehr häufige Obstipation angesprochen werden, riet Hahn. In der Diskussion machte Hahn deutlich, dass innovative Antipsychotika, die in den USA erfolgreich sind, in Deutschland eher spät oder gar nicht ankommen, weil die Hersteller beim AMNOG-Verfahren zur frühen Nutzenbewertung keine Chance sehen.

Mehr Sicherheit mit TDM

Abschließend berichtete Dr. Gudrun Hefner, Eltville, über das therapeutische Drug Monitoring (TDM) von Antipsychotika. Durch die individuelle pharmakokinetische Variabilität der Patienten und weitere Faktoren wie Raucherstatus, Ernährung und Komedikation sind die Blutspiegel von Psychopharmaka kaum vorhersehbar. Wegen der oft geringen therapeutischen Breite sei das TDM daher bei vielen Antipsychotika dringend geboten, erklärte Hefner. Bei der Einstellung könne damit längeres Leiden mit einer anfangs zu niedrigen Dosis vermieden werden. Bei Nebenwirkungen könne die geringste wirksame Dosis gefunden werden. Auch bei Verdacht auf eine Arzneimittelinteraktion solle ein TDM zur Klärung erfolgen, empfahl Hefner. Nach den Erfahrungen aus einer Studie an über 27.000 Krankenhauspatienten riet sie, insbeson­dere beim Einsatz von Melperon bei Patienten mit Polypharmazie auf das Interaktionspotenzial zu achten.

Mit Blick auf die Pandemie mahnte Hefner, beim Einsatz von Paxlovid® sei wegen des enthaltenen Ritonavir ein TDM für Patienten mit Clozapin oder Quetiapin nötig. Auch die COVID-19-Infektion könne die Biotransformation in relevanter Weise verändern. Außerdem verwies Hefner auf jüngste Fälle, in denen nach der Impfung mit mRNA-Impfstoffen gegen das Corona-Virus Probleme durch Clozapin aufgetreten seien. Offenbar habe Gamma-Inter­feron bei der Immunreaktion die Biotransformation verändert und zu einem erhöhten Clozapin-Spiegel geführt. Hefner empfahl daher, Clozapin-Patienten nach einer Impfung auf­zuklären und gut zu beobachten. Clozapin-Intoxikationen seien auch bei einem plötzlichen Rauchstopp, beispielsweise bei einer akuten Infektion, und bei starkem Coffein-Genuss, beispielsweise nach mehreren Energy-Drinks, bekannt. |

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