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Wirtschaft
Fast eine Milliarde Euro
Der Zeit- und Kostenaufwand bei GKV-Rezepten ist für Apotheken immens
Der Verband Innovativer Apotheken e. V. und der Autor dieses Beitrags haben im Herbst 2022 eine Befragung unter ausgewählten Mitgliedsapotheken gestartet, um dieser Frage strukturiert nachzugehen. Betrachtet wurden speziell diejenigen Zeiten und Aufwände, die für die Belieferung der GKV-Rezepte insbesondere im Gefolge des § 129 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch, anfallen, also die Themen Rabattverträge, Retaxationen, Rezeptkontrolle und Zusatzaufwand bei der konkreten Patientenversorgung. Ausdrücklich nicht berücksichtigt sind die speziellen und gleichfalls erheblichen Belastungen der Apotheken durch die Besonderheiten des Apothekengesetzes, der Apothekenbetriebsordnung, der Berufsordnung sowie anderer Apotheken-spezifischer Regularien. Die ausufernde Zahl an Beauftragten aller Art, das immer diffizilere Thema IT-Sicherheit und Datenschutz und etliches mehr betreffen auch andere Branchen, und sie wurden ebenfalls nicht berücksichtigt. Auch das Thema Präqualifizierung bleibt hier unbeachtet. Dies alles wäre gegebenenfalls eine Aufgabe für weitere Erhebungen und würde die hier ermittelten Beträge mit Sicherheit noch einmal ganz erheblich in die Höhe treiben.
Was wurde wie erfasst?
Es wurden 13 Apotheken unterschiedlicher Lage ausgewählt, welche die Vielfalt der Apothekenlandschaft im Wesentlichen abbilden (Stadtteillage, Lauflage/Center, Ärztehaus, Land). Anhand eines den Teilnehmern zur Verfügung gestellten Excel-Datenerfassungsblattes wurde an jeweils fünf repräsentativen Offizintagen eine exakte Erhebung der Bürokratiezeiten durch die teilnehmenden Apotheken vorgenommen. Diese Zeiten wurden in zwei Bereiche aufgeschlüsselt erfasst.
Zum einen im Laufe der Rezeptbelieferung im Kundenkontakt am Handverkaufstisch (HV):
- Zeit für die Erfassung der Rezeptdaten und das Auffinden von Rabattvertragsarzneimitteln,
- der zeitliche Kundenaufwand rein administrativer Art im Hinblick auf Lieferbarkeit, Austausch von Präparaten und dergleichen,
- Zeit für das Handling der Zuzahlungen.
Und zum anderen außerhalb des HV-Bereichs:
- Spätere Nachkontrolle der Rezepte,
- Rücksprache mit Ärzten, Zeitaufwand für Rezeptänderungen,
- Aufwand, um die Rezepte abrechnungsreif zu machen,
- Aufwand für etwaige Retaxationsbearbeitung.
Insgesamt bearbeiteten die teilnehmenden Apotheken an ihren Erhebungstagen gut 12.136 Rezepte. Etwa 43% davon wurden durch Approbierte beliefert, der Rest durch PTA und (zu einem geringen Teil) Pharmazieingenieure.
Die Spannbreite des Personals im HV-Betrieb ist dabei groß: So reichte der Anteil der durch gut bezahlte Approbierte belieferten Rezepte bis 61%. Mit durchschnittlich 53.000 GKV-Rezepten im Jahr (minimal 15.750, maximal 140.000), sowie im Schnitt 120.000 Bonkunden pro Jahr (von 25.000 bis 256.000) bewegten sich die teilnehmenden Apotheken mehrheitlich im gehobenen Segment mit gutem Organisations- und Technisierungsgrad (hohe Verbreitung von Kommissionierautomaten, gute IT-Infrastruktur und anderes).
3,25 Minuten pro Rezept
Im Durchschnitt über die Apotheken hinweg gemittelt erfordert ein GKV-Rezept rund 3,25 Minuten Bürokratiezeit (um Extremwerte bereinigt). Die Mehrheit bewegt sich um 2,5 bis 3,5 Minuten (s. Abb. 1).
Der bürokratische Zeitaufwand wird zu etwa gleichen Teilen von Approbierten und PTA bzw. den nicht mehr allzu häufigen Pharmazieingenieuren geschultert. Nur zum einem geringen Teil (7%) sind nicht-pharmazeutische Kräfte damit befasst. Verrechnet mit den in der Studie ebenfalls erfassten, individuellen Stundenkosten und somit in Euro und Cent beziffert, finden wir Kosten von 2,02 Euro je Rezept. Um die Extremwerte bereinigt und über die Rezeptzahlen (nicht Apotheken) gemittelt, stellt dieser Wert insoweit eine Untergrenze dar. Die meisten Kosten, nämlich gut zwei Drittel, fallen dabei am Handverkaufstisch an. Der kleinere Teil spielt sich im „Backoffice“ ab, das meiste dort für die Rezept-Nachkontrolle, die immerhin 0,5 bis knapp eine Minute je Rezept erfordert und zumeist durch teures pharmazeutisches Fachpersonal, nicht selten Approbierte, erledigt wird.
In der Hochrechnung auf Gesamtdeutschland ergeben sich so Bürokratiekosten bei der GKV-Rezeptbelieferung von mindestens 900 Millionen Euro (s. Abb. 2 und Abb. 3). Je Apotheke bedeutet das im Durchschnitt eine Belastung von etwa 49.000 Euro.
Ironie am Rande: Der Kassenabschlag von 1,77 Euro brutto je Rx-Packung (ab 2023 2,00 Euro) schlägt bereits heute netto in ziemlich gleicher Höhe zu Buche. Provokativ formuliert stünde den Apotheken im Grunde ein Bürokratiezuschlag in Höhe des Kassenrabatts zu, und kein ebensolcher Abschlag.
Mindestens ähnlich problematisch in Zeiten des Fachkräftemangels ist die Tatsache, dass hochgerechnet rund 14.000 Vollzeitstellen, davon 6600 Stellen von hochqualifizierten Approbierten und eine ähnliche Zahl an PTA bzw. Pharmazieingenieuren, fehlalloziert werden. Sie fehlen in der Patientenversorgung und auch für volkswirtschaftlich bedeutsame Tätigkeiten der pharmazeutischen Betreuung.
27 Millionen Euro Retaxsumme
Untersucht wurde auch eine etwaige Korrelation zwischen der Zahl der belieferten Rezepte (und damit letztlich der Apothekengröße) sowie dem Bürokratieaufwand. Diese Korrelation deutet sich schwach an, ist aber nicht sehr klar. Die „Skaleneffekte“ sind also überschaubar. Der individuelle Organisationsgrad dürfte eine größere Rolle spielen, wobei starke Apotheken hier hinsichtlich Ausstattung und Ressourcen meist im Vorteil sind. Die typische Apotheke dürfte somit tendenziell eher noch etwas höhere Bürokratiekosten je Rezept haben als hier ermittelt. Weiterhin erhoben wurden die Retaxationssummen in den Teilnehmerapotheken. Diese schwankten, auf das einzelne GKV-Rezept umgerechnet, zwischen 5 und 9 Cent, im Mittel etwa 6 Cent. Hochgerechnet auf etwa 450 Millionen GKV-Rezepte (erwartet in 2022) ergeben sich daraus 27 Millionen Euro. Eine jüngst vom Deutschen Apotheken Portal (DAP) mit 2228 Teilnehmern durchgeführte Umfrage ergab, dass 44,5% eine Retaxsumme von weniger als 100 Euro pro Monat zu beklagen hatten, 42,9% zwischen 100 Euro und 200 Euro, 8,5% über 200 Euro bis 500 Euro, bei 4,1% lag die Summe gar über 500 Euro monatlich [1]. Hieraus lässt sich die bundesweite Gesamtsumme zu etwa 30 bis allenfalls knapp 40 Millionen Euro hochrechnen. Das macht weniger als ein Promille des Abrechnungsvolumens aus, verursacht aber ein Vielfaches an Kontrollaufwand.
Interview mit Professor Herzog
Die DAZ hat mit dem Tübinger Apothekenexperten Prof. Dr. Reinhard Herzog gesprochen, der die Bürokratie-Studie im Auftrag des Verbands Innovativer Apotheken (via) durchgeführt hat. Die Entscheidung der Studieninitiatoren fiel auf die GKV-Rezepte, weil diese den privaten Rezepten mengenmäßig weit überlegen sind. Außerdem sind Themen wie Retaxationen oder die Rabattverträge nur bei Rezepten zu beachten, die mit der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet werden. Pro Rezept werden gut drei Minuten für die Bürokratie aufgewendet, so lautet ein zentrales Ergebnis der Studie. Auf das Jahr bezogen ergeben sich ungefähr eine Milliarde Euro an Bürokratiekosten. Das Video-Interview mit Prof. Herzog, in dem es auch um die berüchtigten „Effizienzreserven“ in Apotheken geht, finden Sie, wenn Sie den QR-Code einscannen.
Digitalisierung zum Bürokratieabbau nutzen!
Die formal-bürokratischen Erfordernisse in Apotheken haben ein mehr als bedenkliches Ausmaß angenommen. Ein auch nur entfernt erkennbarer Nutzen von beinahe einer Milliarde Euro an Bürokratiekosten allein zur liefervertragskonformen GKV-Rezeptbelieferung und -abrechnung ist für die Patienten und selbst für die Gesellschaft und die Kostenträger an allzu vielen Stellen nicht (mehr) erkennbar. Der Vermeidungsaufwand für etwaige Retaxationen und die tatsächlichen Retaxsummen stehen in einem grotesken Missverhältnis, zumal aufseiten der Krankenkassen ebenfalls erhebliche Aufwendungen unter anderem für Rezeptprüfungsinstitutionen anfallen. Ganz zu schweigen von den Retaxationsgründen, die sich völlig vom Patientennutzen und selbst berechtigt-ökonomischen Aspekten entkoppelt haben, sondern sich vielmehr auf einer längst verselbstständigten Formalebene abspielen. Eine grundlegende Reform und bürokratische Entschlackung ist dringend nötig, und nicht nur ein Herumkurieren an Einzelsymptomen. Insbesondere muss vermieden werden, dass die heutigen Missstände in die digitale Welt des E-Rezeptes transferiert werden und dann im Wesentlichen fortbestehen. Gerade die Digitalisierung bietet die Chance für einen Neuanfang. Dieser erschöpft sich nicht in Reparaturmechanismen an einem aus der Zeit gefallenen, wertvolle Ressourcen vergeudenden System. Dinge wie der geplante „Rezeptvalidator“ mögen gut gemeint sein, packen aber das Problem der zu großen Teilen sinnentleerten Bürokratie nicht an der Wurzel. |
Literatur
[1] Aufschlussreiche Ergebnisse: Umfrage des DAP zu Erfahrungen und Umgang der Apotheken mit Retaxierungen. Deutsche Apotheker Zeitung 2022, Nr. 47, S. 44 ff , 24. November 2022.
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