Arzneimittel und Therapie

Test auf Genmutation schützt junge Ohren

Vor Aminoglykosid-Therapie Neugeborene mit erhöhtem Risiko für Hörschädigung identifizieren

dab | Gentamicin und Co. werden als potente Antibiotika systemisch bei Früh- und Neugeborenen eingesetzt. Potenziell besteht dabei die Gefahr einer Hörschädigung, wofür eine A1555G-Mutation als prädisponierender Faktor gilt. Um eine solche ototoxische Nebenwirkung zu vermeiden, sollen Früh- und Neu­geborene in Großbritannien nun vor Beginn einer Aminoglykosid-Therapie auf diese Mutation getestet werden. Wäre ein solches Screening auch hierzulande denkbar? Wir haben mit Prof. Dr. Michael Zemlin gesprochen, der federführend an der S2k-Leitlinie „Bakterielle Infektionen bei Neugeborenen“ beteiligt war.

Gentamicin und Co. können bei systemischer Therapie ototoxische (den Hör- und/oder Gleichgewichtssinn betreffende) und nephrotoxische Neben­wirkungen hervorrufen. Diese lassen sich darauf zurückführen, dass sich Aminoglykoside selektiv in der Peri- und Endolymphe des Innenohrs bzw. in Zellen des proximalen Tubulus der Niere anreichern können. Als schädigende Mechanismen vermutet man unter anderem die Hemmung der Proteinsynthese und die Bildung reaktiver Sauerstoff- und Stickstoffspezies. Im Gegensatz zu Nierenschäden, die meist reversibel sind, sind Gleichgewichts- und Hörstörungen nach einer anfänglichen reversiblen Phase irreversibel, wenn die Behandlung weitergeführt wird. Abhängig sind die oto- und nephrotoxischen Effekte von der Gesamtdosis des Wirkstoffs und dem Plasmaspiegel am Ende des Dosierungsintervalls, dem sogenannten Talspiegel. Ein therapeutisches Drugmonitoring ist daher angezeigt bei Neugeborenen, bei eingeschränkter Nierenfunktion sowie hochdosierter Therapie [1].

Foto: tutye/AdobeStock

Genetische Prädisposition

Laut der S2k-Leitlinie „Bakterielle Infektionen bei Neugeborenen“ sind die Risiken für eine Oto- oder Nephrotoxizität bei Gentamicin „als sehr gering einzustufen“, wenn ein Nierenversagen ausgeschlossen ist und der Talspiegel, der vor der zweiten oder dritten Gabe bestimmt wurde, im Ziel­bereich liegt [2]. Doch trotz dieser präventiven Maßnahme kann es bei genetischer Prädisposition zu einer Hörminderung durch Aminoglykoside kommen. Bei Menschen mit einer A1555G-Mutation ist die ribosomale RNA in den Mitochondrien derart verändert, dass Aminoglykoside ähnlich wie bei bakteriellen Ribosomen angreifen können. Dadurch kommt es bei der Translation zu Ablesefehlern, und in der Folge sterben Haarzellen des Innenohrs ab. Ein irreversibler Schaden tritt rasch ein. Doch auch ohne Therapie mit dieser Antibiotika-Klasse kann es bei Menschen mit A1555G-Mutation im Laufe des Lebens zu Hörschäden kommen [1].

Um bei Früh- bzw. Neugeborenen Hörminderungen vorzubeugen, empfiehlt das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) seit Kurzem, vor einer Aminoglykosid-Therapie einen molekulardiagnostischen In-­vitro-Test auf diese Mutation durch­zuführen [3, 4]. Bisherige Laborunter­suchungen sind zu zeitaufwendig, als dass man mit dem Ansetzen einer Antibiose auf die Ergebnisse warten könnte. Bei dem neuen Test, für den eine DNA-Probe mittels Wangenabstrich gewonnen wird, soll das Ergebnis in unter einer Stunde (laut Hersteller innerhalb von 26 Minuten) vorliegen [5]. Wird eine A1555G-Mutation festgestellt, kann ein alternatives Antibiotikum gegeben werden. Der breitere Einsatz alternativer Antibiotika ist allerdings durch Resistenzen limitiert.

In England und Wales würden laut dem NICE jährlich etwa 1249 Babys mit der genannten Mutation geboren, die bei einer Infektion und Behandlung mit einem Aminoglykosid einen Hörschaden erleiden könnten [4]. Bisher wird die Genmutation erst fest­gestellt, nachdem Säuglinge einen Hörverlust nach einer Gentamicin-Therapie erlitten haben.

Wir haben uns mit dem Direktor der Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie des Universitätsklinikums des Saarlandes und Vizepräsidenten der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Prof. Dr. Michael Zemlin, darüber unterhalten, welche Relevanz das Thema in Deutschland hat.

Foto: Privat

DAZ: Wie häufig werden Gentamicin und andere Aminoglykosid-Antibiotika bei Früh- oder Neugeborenen hierzulande eingesetzt?

Zemlin: Grundsätzlich sind Amino­glykoside eine sehr wichtige Wirkstoffgruppe, gerade bei Früh- und Neu­geborenen, die in den ersten drei Lebenstagen Anzeichen einer Infektion entwickeln. Dabei ist die erste Wahl eine Kombination aus einem Breitspektrum-Penicillin und einem Aminoglykosid, in der Regel Gentamicin. Man kann davon ausgehen, dass von den Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g etwa 50 bis 80% im Zeitraum von der Geburt bis zur Entlassung eine Aminoglykosid-Therapie erhalten haben.

DAZ: In welchen konkreten Fällen setzen Sie eine antibiotische Therapie mit Aminoglykosiden an?

Zemlin: Zum einen werden viele Kinder behandelt, bei denen eine Infektion durch die Vorgeschichte wahrscheinlich ist, z. B. durch einen vorzeitigen Blasensprung bei der Mutter, bei dem Bakterien zum Kind aufsteigen können. Zum anderen behandeln wir Kinder antibiotisch, die klinische Anzeichen für eine Infektion bzw. eine Early Onset Sepsis (Anm. d. Red.: Sepsis innerhalb der ersten 72 Stunden nach Geburt [2]) haben. Bei Frühge­borenen behandelt man immer schon beim Verdacht einer Infektion, weil diese so schwer und schnell verlaufen kann, dass das Kind innerhalb von Stunden verstirbt. Das heißt, man handelt nach der sogenannten Tarragona-Strategie, zu der das Prinzip „Hit fast, hit hard“ gehört. Es wird also beim Verdacht sofort behandelt, und nach 36 bis 48 Stunden erfolgt eine Re­evaluation. Wenn dann klinisch, laborchemisch und von der Blutkultur her nichts für eine bakterielle Infektion spricht, was in den allermeisten Fällen zutrifft, werden die Medikamente wieder abgesetzt. Aber schon diese Zeit kann bei einer genetischen Ver­anlagung ausreichen, eine Hörstörung zu verursachen.

DAZ: Wie oft kommt es in der Praxis zu solchen Hörminderungen?

Zemlin: Extrem selten. Aus dem Jahr 2014 gibt es eine Veröffentlichung von Wolfgang Göpel und Kollegen, in der über 7000 Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g in Deutschland eingeschlossen wurden. Darin wurde untersucht, wie häufig eine A1555G-Mutation auftritt. 0,2%, also zwölf von 7056 Kindern, hatten diese Hochrisiko-Mutation. Von diesen zwölf Kindern hatten zehn Amino­glykoside bekommen, und von diesen zehn hatten drei dann tatsächlich eine Auffälligkeit im Hörtest [6]. Das heißt, dass nicht jedes Kind, das diese Mutation aufweist, automatisch einen auffälligen Hörtest haben wird, wenn es mit Aminoglykosiden behandelt wird. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit hierfür deutlich höher als bei Kindern ohne Mutation. Wenn man Kindern ohne Mutation Aminoglykoside gibt und die Serumspiegel kontrolliert, kann man eine Hörstörung praktisch ausschließen. Aber bei Kindern, die diese Mutation aufweisen, reichen die Spiegelkontrollen offensichtlich nicht aus. Immerhin hatten drei von zehn Kindern in der Studie eben doch einen auffälligen Hörtest.
 

Nicht jedes Kind, das diese Mutation aufweist, wird automatisch einen auffälligen Hörtest haben, wenn es mit Aminoglykosiden behandelt wird. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit hierfür deutlich höher als bei Kindern ohne Mutation.

Prof. Dr. Michael Zemlin, Homburg

DAZ: Zu der Serumspiegel-Kontrolle: Wie gehen Sie vor, wenn der Talspiegel nicht im Zielbereich liegt?

Zemlin: Wenn der Serumspiegel über dem Zielbereich liegt, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder gibt man das Aminoglykosid seltener oder in einer niedrigeren Dosierung. Wir passen in der Regel die Dosierung nach unten an. Die Serumspiegel-Kontrolle wird gerne vor der dritten Gabe gemacht. So erkennt man zu hohe Spiegel sehr früh. Durch diese Kontrolle kann man eine Gentamicin-induzierte Hörstörung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit verhindern. Die einzige Ausnahme sind offensichtlich die Kinder mit dieser speziellen Mutation.

DAZ: Wird hierzulande ein ähnlicher Test auf diese Mutation wie in Großbritannien durchgeführt oder wird darüber diskutiert?

Zemlin: Der Test wird bei uns nicht durchgeführt. Es ist aber trotzdem eine interessante Fragestellung, die nach wie vor nicht ausreichend erforscht ist. Wir werden natürlich hellhörig, wenn ein Nachbarland sich entschließt, solche Tests durchzuführen. Man muss aber berücksichtigen, dass die ethnische Zusammensetzung der Länder unterschiedlich ist. So tritt diese Mutation zum Beispiel bei Südostasiaten sehr viel häufiger auf als bei Europäern. In England könnte diese Mutation populationsbedingt häufiger vorkommen als bei uns. Es stellt sich die Frage, ob sich ein flächendeckendes Screening in Deutschland medizinisch und wirtschaftlich lohnen würde. Diese Fragen werden in Deutschland häufig vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bearbeitet. Es ist sehr aufwendig, bei Verdacht auf eine Infektion innerhalb von kürzester Zeit auf jeder Neugeborenen-Intensivstation die entsprechenden Testergebnisse zur Verfügung zu haben. Deshalb wurde vorgeschlagen, ein Screening bei den Müttern mit einer drohenden Frühgeburt durchzuführen. Weist die Mutter die Mutation auf, hat auch das Kind eine höhere Wahrscheinlichkeit hierfür. Wenn es zu einer Frühgeburt kommt, könnte man bei dem Kind, bei dem die Mutation potenziell vorliegt, auf Aminoglykoside verzichten und eine alternative Medikation ansetzen. Das IQWiG würde ein Screening nur empfehlen, wenn nachweislich gegenüber der aktuellen Situation ein deut­licher Nutzen zu erwarten ist. Und da wir insgesamt eine sehr geringe Rate an Hörstörungen nach Frühgeburtlichkeit haben, ist es schwierig, einen positiven Effekt zu erzielen und nachzuweisen, aber mit statistischen Methoden ließe sich das prüfen.

DAZ: Herr Professor Zemlin, vielen Dank für das Gespräch! |

Literatur

[1] Geisslinger G, Menzel S, Gudermann T, Hinz B, Ruth P. Mutschler Arzneimittelwirkungen. Pharmakologie – Klinische Pharmakologie – Toxikologie. 11., völlig neu bearbeitete Auflage 2020, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart

[2] Bakterielle Infektionen bei Neugeborenen. S2k-Leitlinie der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, AWMF-Register Nr. 024/008, Stand: April 2018

[3] Sayburn A. Newborn babies to be genetically tested to prevent gentamicin-associated deafness. Nachricht des Pharmaceutical Journal, 15. Februar 2023

[4] NICE recommends genetic test to prevent newborn babies going deaf. Nachricht des National Institute for Health and Care Excellence, 9. Februar 2023

[5] Genedrive MT-RNR1 ID Kit for detecting a genetic variant to guide antibiotic use and prevent hearing loss in babies: early value assessment. Evalution des National Institute for Health and Care Excellence, 30. März 2023

[6] Göpel et al. Mitochondrial mutation m.1555A>G as a risk factor for failed newborn hearing screening in a large cohort of preterm infants. BMC Pediatr 2014;14:210, doi: 10.1186/1471-2431-14-210

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