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Feuilleton
Von Karlsbad in die Welt
Wie aus einer apothekerlichen Rezeptur eine bekannte Spirituose wurde
Böhmen, gelegen im westlichen Teil des heutigen Tschechiens, war in der Moderne eine wirtschaftliche und kulturell prosperierende Region im Herzen Europas. Die Gegend gehörte zum Kernland der Habsburger Donaumonarchie, die wesentlich größer war als die heutige Alpenrepublik Österreich, und dehnte sich bis weit nach Ost- und Südeuropa aus. Besonders beliebt bei Reisenden und Erholungssuchenden war bereits in der Zeit um 1800 das böhmische Bäderdreieck, bestehend aus den Städten Karlsbad, Franzensbad und Marienbad. Die dort auftretenden Heilquellen erklären sich mit der Struktur des Egergrabens. Dieser Grabenbruch in der Erdkruste ist ein geologisch äußerst aktives Gebiet. Noch heute finden dort registrierbare Erdbeben und vulkanische Prozesse statt, die zu einem hohen Wärmefluss in der Erde führen und für die zahlreiche Thermalwasseraustritte verantwortlich sind.
Goethe und Karlsbad
Angereichert mit Kohlendioxid, dessen Entstehung mit den vulkanischen Prozessen in der Erde zusammenhängt, hat das Thermalwasser aus Böhmen große Berühmtheit erlangt. In Karlsbad sprudelt unter den zahlreichen Quellen auch eine, die nach dem luxemburgischen Kaiser Karl IV. benannt ist. Dieser ist bekannt durch die Gründung der ersten Universität im deutschsprachigen Raum im Jahr 1348 in Prag. Der Legende nach soll der Kaiser seine erkrankten Beine mithilfe dieser heute noch aktiven Quelle erfolgreich therapiert haben. Der Heilerfolg soll den Herrscher so überzeugt haben, dass er an dieser Stelle ein nach ihm benanntes Bad, das Karlsbad, gegründet hat.
Erwiesen ist, dass sich bereits in der frühen Neuzeit die an der Mündung des Flusses Tepl in die Eger gelegene Stadt zu einem bedeutenden Kurort in Europa entwickelte.
Mit der Verbreitung des Buchdruckes im 15. Jahrhundert entstanden auch erste Fachschriften, in denen die medizinische Bedeutung der Karlsbader Quellen beschrieben wurde. Nicht nur aus dem alten Österreich kamen daher Heilungs- und Erholungssuchende nach Karlsbad. Der bedeutendste Badegast in der Zeit um 1800 war wohl Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832). Dieser hielt sich seit seiner Zeit in Weimar immer wieder im böhmischen Bäderdreieck auf, um seine zahlreichen körperlichen, aber auch psychosomatischen Erkrankungen mit den Thermalquellen zu kurieren.
Auch Goethes Reise nach Italien, welche letztendlich ein Ausbruch aus der Enge und Routine des Weimarer Hoflebens darstellte, begann für den Dichter, der wenige Tage zuvor, am 28. August 1786, seinen 37. Geburtstag feierte, in Böhmen: „Früh drei Uhr stahl ich mich aus Karlsbad, weil man mich sonst nicht fortgelassen hätte.“ Eine Stadt, die als eines der ersten Kurbäder in Europa schon in der Goethezeit viele Menschen anzog, bietet letztendlich eine sehr gute medizinisch-pharmazeutische Infrastruktur. In diesem Umfeld war somit die Herstellung des Becherovkas möglich, dessen Ursprünge in Karlsbad zu finden sind. Die Geschichte dieses Aquavits ist Ausdruck einer wechselvollen Geschichte, die durch viele Höhen und Tiefen in der Geschichte Europas bestimmt ist.
Erfolgsgeschichte der Bechers
Als Stammvater des Hauses gilt Apotheker Josef Vitus Becher (1769 – 1840). Dieser lebte und wirkte in Karlsbad und kam daher mit vielen Kurgästen aus dem alten Europa in Berührung, wie zum Beispiel mit einem englischen Arzt namens Christian Frobrig, der als persönlicher Leibarzt des Reichsgrafen von Friedrich von Plettenberg-Wittem zu Mietingen (1771 – 1813) Karlsbad besuchte. Besonders angetan war der Mediziner wohl von den pharmazeutisch-technologischen Kenntnissen des Apothekers Becher, dem er wertvolle Hinweise gab, wie er seine alkoholischen Rezepturen verbessern könne. Der Karlsbader Apotheker setzte diese Empfehlungen um und kreierte einen Bitterlikör, den er bezeichnenderweise als Hommage an seinen Ideengeber „Carlsbader English Bitter“ nannte. Vielleicht überzeugte der Name die Verbraucher im frühen 19. Jahrhundert nicht in dem Maße, wie es sich Josef Vitus Becher vorgestellt hatte, und so entschied er sich für eine Umbenennung der Zubereitung in „Karlsbader Becher-Bitter“. Der Ausbau von einem Kleinherstellungsbetrieb zu einem Großunternehmen war Aufgabe der zweiten Generation in der Familie Becher. Johann, genannt Jan Becher (gestorben 1895), übernahm nach dem Tode seines Vaters Josef Vitus das Unternehmen und baute es im Zuge der industriellen Revolution weiter aus.
Karlsbader Becher-Bitter als k. u. k. Hoflieferant
1867 wurde in Karlsbad eine neue Produktionsstätte errichtet und der Becher-Bitter in die ganze Welt exportiert. Und auch die dritte Generation schrieb die Erfolgsgeschichte des böhmischen Herstellungsbetriebes weiter fort. Gustav Becher (1840 – 1921) setzte einen entscheidenden Akzent, indem er den Karlsbader Becher-Bitter durch den Eintrag bei der Industrie- und Handelskammer Eger im Jahre 1901 als Marke schützen ließ. Darüber hinaus erkannte er, dass der Wert eines Produktes nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch die Verpackung bestimmt wird. Die charakteristischen grünen Flaschen sind auch heute noch ein Erkennungsmerkmal des Karlsbader Becher-Bitters, der inzwischen Becherovka heißt. Zum Erfolg der Marke haben ebenfalls die charakteristischen Porzellanbecher beigetragen, die Gustav Becher kreieren ließ. Auch dem österreichischen Kaiser Franz Joseph I. (1830 – 1916) blieb der Erfolg des vielfach prämierten Karlsbader Produktes nicht verborgen. Eines der höchsten Zeichen der Wertschätzung, die der österreichisch-ungarische Monarch zu vergeben hatte, war der Titel kaiserlicher und königlicher (k. u. k.) Hoflieferant, den Gustav Becher schließlich auch um das Jahr 1900 erhielt. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Böhmen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine der prosperierendsten Regionen der alten Donaumonarchie war. Inzwischen waren auch Gustav Bechers Brüder in das Unternehmen eingetreten, das aufgrund seiner Größe gar nicht mehr von einer einzigen Person geführt werden konnte.
Mit der Übernahme des Betriebes durch Alfred Becher (1883 – 1940) kam die vierte Generation zum Zug, die in schweren Zeiten, mitten im 1. Weltkrieg, die Geschicke des Herstellungsbetriebes übernahm. Die alte Donaumonarchie brach im Jahre 1918 zusammen, und von heute auf morgen gehörte Karlsbad zur tschechoslowakischen Republik. Inflation und Wirtschaftskrise kennzeichneten die Unternehmensphase in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts.
Familienbetriebe sind jedoch oftmals in der Lage, mit Opferbereitschaft und unternehmerischer Kreativität schwere Jahre zu überbrücken. Auf diese Weise bestand das Unternehmen in den Zwanziger- und Dreißigerjahren weiter fort.
Vertreibung, Ost-West-Konflikt und Fall des eisernen Vorhangs
Größere Herausforderungen als die Bewältigung des wirtschaftlich-politischen Umfeldes in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg sollten dem Unternehmen aber noch bevorstehen. Es war die fünfte Generation der Familie Becher, die viel Leid ertragen musste. Zunächst verlief die Geschichte jedoch scheinbar gut weiter. Mit dem Münchner Abkommen vom 30. September 1938 gestanden die alliierten Mächte England, Frankreich und Italien dem Reichskanzler Adolf Hitler zu, die deutschsprachigen Gebiete in der damaligen Tschechoslowakei zu annektieren, um diese „heim ins Reich“ zu holen. Am 1. Oktober 1938 marschierte die Wehrmacht unter großem Jubel der Bevölkerung ein. Diese Entscheidung war aus zwei Gründen fatal. Zum einen trug die Appeasement-Politik der alliierten Mächte keineswegs dazu bei, Hitler zufriedenzustellen. Vielmehr vergrößerte dieses Zugeständnis seinen Machthunger und den Drang, seine Eroberungspolitik fortzusetzen. Zum anderen wurden die Sudetendeutschen über Nacht Bürger des Deutschen Reiches, was sie als alte Österreicher in der Geschichte niemals gewesen waren. Damit wurde wiederum der historische Keim für weiteres großes Unrecht gesät. Auch für die Familie Becher hatten diese Zeitläufe fatale Folgen. Mit Hans-Fred Gustav Becher (1919 – 1939) stand zwar ein Firmenerbe zur Verfügung, doch dieser fiel bereits im Oktober 1939 als Soldat in Polen. Nun rückte die Schwester Hedda Beier-Becher (1914 – 2007) in die Unternehmensspitze auf. Sie musste das Leid der Vertreibung nach 1946 ertragen.
Europas Geschichte in der Unternehmensgeschichte
Obwohl Tschechen und Deutsche jahrhundertelang in der alten Donaumonarchie weitestgehend friedlich koexistiert hatten, galten deutsch-böhmische Unternehmerfamilien wie die Bechers nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg als Feinde und wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Durch die sogenannten Beneš-Dekrete schafften die auf der Siegerseite stehenden Tschechen die rechtliche Grundlage für die Enteignung von deutschem Besitz. Somit wurde im Jahre 1945 auch der seit fünf Generationen bestehende Betrieb zur Herstellung des Karlsbader Becher-Bitters verstaatlicht. Die Unternehmerin Hedda Beier-Becher wurde durch die Behörden gezwungen, das Rezept herauszugeben. Sie blieb jedoch trotz Verurteilung zur Zwangsarbeit standhaft. In ihrer Verzweiflung, die Tradition der Familie durch den Verrat der Rezeptur auf keinen Fall preisgeben zu wollen, soll die Ur-Ur-Großenkelin von Josef-Vitus Becher das Rezept in einem Waldstück bei Karlsbad vergraben haben. Dennoch gelang es den Tschechen, an die Zusammensetzung des legendären Becher-Bitters zu kommen, der von den Machthabern Becherovka genannt wurde, um auch auf sprachlicher Ebene zu dokumentieren, wer ab sofort das unternehmerische Sagen hatte.
Hedda Beier-Becher wurde, wie viele Millionen Sudetendeutsche, nach 1946 gezwungen, ihre böhmische Heimat zu verlassen. Auch wenn sie kein Vermögen hatte, blieben ihr die unternehmerische Kreativität und der Mut eines Neuanfangs im Westen. Die Rezeptur des Becher-Bitters hatte sie auswendig gelernt, und so gründete sie in Köln die Johann Becher OHG Likörfabrik. Da aber auch die tschechoslowakische Seite daran interessiert war, in Karlsbad den Becherovka weiter zu produzieren, kam es somit zu zwei konkurrierenden Marken diesseits und jenseits des eisernen Vorhangs. Der in Karlsbad wirkende Direktor des Staatsbetriebes Vaclav Lupinek war daran interessiert, den Export des Becherovka anzukurbeln, was auch gelang.
Becherovka-Zusammensetzung
Die genaue Zusammensetzung des Becherovka ist seit dem Jahre 1807 ein wohlbehütetes Geheimnis. Laut Aussagen des Unternehmens wissen auch heute nur zwei Personen im Unternehmen die Rezeptur des legendären Karlsbader Becher-Bitters. Arzneipflanzen spielen dabei eine große Rolle. Verwendet werden Nelken und Zimt als Beispiele für Kräuter aus anderen Kontinenten. Aber auch die heimische Schafgarbe soll darin zu finden sein. Die Herstellung erfolgt durch die Extraktion der Kräuter in Alkohol und eine damit verbundene Mazeration. Entscheidend ist schließlich der sich anschließende Reifungsprozess mit Zucker und Wasser, das aus den mineralhaltigen Quellen der Karlsbader Region stammt. Die Kombination von ausgewählten Inhaltsstoffen und pharmazeutischer Technologie ergibt letztendlich das charakteristische Aroma des Becherovka. Zur Identität des Getränks trägt schließlich auch die Abfüllung in die grünen Flaschen bei. In der Kultur des Unternehmens spielt die wechselvolle Geschichte eine Rolle, welche das Becherovka-Museum in Karlsbad eindrucksvoll zeigt. Dazu gehört auch eine Verkostung des umfangreichen Portfolios an Getränken.
In den Siebzigerjahren wurde die westdeutsche Likörfabrik an Underberg verkauft, und im Zuge einer zunehmenden wirtschaftlichen Annäherung mit den Staaten des Warschauer Paktes kam es sogar zu einer deutsch-tschechoslowakischen Zusammenarbeit. Die Produktion des Becherovka fand ab 1985 ausschließlich in Karlsbad statt, während das westliche Unternehmen die alleinigen Importrechte für die alte Bundesrepublik besaß. Letztendlich erklärt sich der heutige Erfolg der Weltmarke Becherovka durch den Einstieg von Pernod Richard im Jahre 1997, nachdem der tschechische Staat das Unternehmen reprivatisierte. Auch die ehemalige westdeutsche Johann Becher OHG von Underberg wurde von Pernod Richard aufgekauft. Somit konnten die ehemaligen Becher-Werke in einem vereinten Europa wieder neu entstehen. Im Zuge der damit verbundenen Globalisierung öffnete sich ein Tor für den Export in die ganze Welt.
Kreativer Apotheker machte es möglich
Ein kreativer Apotheker stand am Anfang der Unternehmensgeschichte des Hauses Becher. Aus kleinen Rezepturen können große Dinge entstehen. Politik und Gesellschaft sollten daher die Pharmazie hoch schätzen, denn sie ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, dem viele Generationen Arbeitsplätze und Wohlstand verdanken.
Die Geschichte der Familie Becher und des Becherovka ist zugleich ein Spiegelbild der wechselvollen europäischen Kultur- und Pharmaziegeschichte, ohne deren Kenntnis man weder die Gegenwart verstehen noch die Zukunft erfolgreich gestalten kann. |
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