Arzneimittel und Therapie

Mit „natürlichem“ Estrogen besser verhüten?

Estetrol soll mit niedrigem Thromboembolie-Risiko punkten, der Nachweis steht aus

Seit etwas mehr als einem Jahr ist mit dem Präparat Drovelis® das Es­trogen Estetrol zusammen mit dem Gestagen der dritten Generation Drospirenon zur oralen Kontrazeption verfügbar. Aufgrund der Tat­sache, dass Estetrol während der Schwangerschaft in der Leber des ungeborenen Kindes entsteht, wird es als „natürliches“ Estrogen beworben. Dies erweckt möglicherweise den Eindruck einer besonders guten Verträglichkeit, zumal das Thromboembolie-Risiko und das Inter­aktionspotenzial laut Hersteller niedriger als bei ähnlichen Zube­reitungen sein soll. Zum aktuellen Zeitpunkt liegen allerdings keine ausreichenden Daten vor, um Estetrol/Drospirenon einen solchen Vorteil einzuräumen.

Das körpereigene Estrogen Estetrol (s. Abb. 1) zeigt eine antigonadotrope Aktivität und bewirkt eine dosisab­hängige Abnahme der Serumspiegel von follikelstimulierendem und luteinisierendem Hormon (FSH und LH). Die Interaktion mit Estrogen-Rezeptoren (ER) ist im Vergleich zu anderen Estrogenen geringer, insbesondere in der Leber und im Brustgewebe. Die Affinität zum Subtyp ERα ist fünfmal höher als zu ERβ. Agonistische Effekte am nukleären sowie antagonistische Wirkungen am membranständigen ERα werden diskutiert. Allerdings beruht die kontrazeptive Wirkung des neuen Kombinations­präparats Drovelis® ohnehin in erster Linie auf der Ovulationshemmung durch die Komponente Drospirenon. Dieses bereits seit Jahren erprobte Gestagen wirkt antigonadotrop, antiandrogen und schwach antimineralocorticoid. Durch die Unterdrückung des physiologischen sprunghaften LH-Anstiegs trägt Estetrol in gewissem Ausmaß zu diesem Effekt bei. Die Relevanz der oben beschriebenen Interaktionen mit Estrogen-Rezeptor-Subtypen in verschiedenen Geweben ist ungeklärt.

Abb. 1: Die vier natürlichen Estrogene Estron, Estradiol, Estriol und Estetrol unterscheiden sich durch die Anzahl ihrer Hydroxylgruppen. Das körpereigene Estrogen Estetrol wird während der Schwangerschaft durch das Enzym 15-Hydroxylase in der Leber des ungeborenen Kindes gebildet und weist somit eine zusätzliche OH-Gruppe in Position 15 auf. Unmittelbar nach der Geburt verliert die kindliche Leber rasch die Fähigkeit, Estetrol zu synthetisieren.

24/4-Dosierungsschema

Die Applikation einer rosafarbenen wirkstoffhaltigen Tablette mit 14,2 mg Estetrol und 3 mg Drospirenon erfolgt an 24 aufeinanderfolgenden Tagen eines jeden 28-Tage-Zyklus. In den verbleibenden vier Tagen wird jeweils eine weiße Placebo-Tablette appliziert und anschließend mit einer neuen Blisterpackung für den nächsten Zyklus begonnen. Die Entzugsblutung tritt normalerweise am zweiten oder dritten Tag der Placebo-Gabe ein und dauert meist noch während der ­Verum-Phase des Folgezyklus an [1].

Kontraindikation bei erhöhtem Thromboembolie-Risiko

Wie bei allen kombinierten Kontra­zeptiva muss auch der Einsatz von Estetrol/Drospirenon bei Patientinnen mit Prädisposition für möglicherweise tödlich verlaufende arterielle oder venöse Thromboembolien unterbleiben. Bei schwerer Leber- oder Niereninsuffizienz, akutem Nierenversagen, Leber­tumoren, Sexualhormon-abhängigen malignen Tumoren, nicht abgeklärten vaginalen Blutungen sowie bei Überempfindlichkeit gegen die beiden Wirkstoffe besteht ebenfalls eine Kontraindikation. Bei bis zu 20% der Frauen ist insbesondere zu Beginn der Anwendung von Estetrol/Drospirenon mit unregelmäßigen Blutungen oder Schmierblutungen zu rechnen. Falls nach drei Zyklen keine Besserung eintritt, muss eine diagnostische Abklärung erfolgen. Zudem kommt es unter Estetrol/Drospirenon häufig zu Gemütserkrankungen und -störungen, Libidostörungen, Kopfschmerzen, Abdominalschmerzen, Übelkeit, Akne, Brustschmerzen und Gewichtsschwankungen.

Kombination mit Enzym­induktoren vermeiden

Enzyminduktoren wie Carbamazepin, Phenytoin oder Johanniskraut können zu einer beschleunigten Biotransformation von Estetrol führen. Als Folge besteht die Gefahr von Durchbruchblutungen und/oder kontrazeptivem Versagen. Bezüglich der gleichzeitigen Anwendung von Enzyminhibitoren wie Azol-Antimykotika oder Makrolid-Antibiotika sowie UDP-Glucuronosyltransferase(UGT)-Inhibitoren wie Valproinsäure bestehen dagegen keine Bedenken. Während der Anwendung von Estetrol/Drospirenon können die Plasma- und Gewebekonzentrationen von Ciclosporin ansteigen und die von Lamotrigin abfallen. Zusammen mit den Hepatitis-C-Therapeutika Ombitasvir, Paritaprevir, Ritonavir und Dasabuvir ist wegen einer potenziellen Gefahr von erhöhten Transaminase-Werten Vorsicht geboten [1].

Klinische Studien

Die Zulassung des Kombinationspräparats aus Estetrol und Drospirenon beruht auf zwei Studien an insgesamt etwa 3400 Frauen [4]. Die Anwendung erfolgte über 13 28-Tage-­Zyklen, entsprechend einem Jahr. Primärer Endpunkt war die Anzahl an unerwünschten Schwangerschaften innerhalb von 100 Frauenjahren bzw. bei 100 Frauen, die das Kontrazeptivum über jeweils ein Jahr anwendeten (sogenannter Pearl-Index).

In die erste Phase-III-Untersuchung E4 FREEDOM, die in der EU und in Russland durchgeführt wurde, waren 1553 Frauen im Alter zwischen 18 und 50 Jahren einbezogen. In die Bewertung gingen 14.759 Zyklen ein. Zyklen mit Anwendung einer zusätzlichen Ver­hütungsmethode oder ohne sexuelle Aktivität wurden ausgeschlossen. Der Pearl-Index des gesamten Studienkollektivs betrug 0,38. Der entsprechende Wert für die Subgruppe im Alter zwischen 18 und 35 Jahren lag bei 0,44 . Diese Werte deuten auf eine ausreichend gute kontrazeptive Wirkung hin. Insgesamt kam es zu einer venösen Thromboembolie. Im Rahmen der zweiten US-amerikanischen Studie an 1864 Frauen zwischen 16 und 50 Jahren wurde allerdings eine wesentlich höhere Anzahl an Schwangerschaften berichtet. Beim Gesamtkollektiv lag der Pearl-Index bei 2,30, in der Subgruppe von Frauen zwischen 16 und 35 Jahren bei 2,65. Die Ursache für die Abweichung von der ersten Untersuchung ist bislang nicht geklärt.

Foto: Elena/AdobeStock

Bedeutet „natürlich“ gleich gut?

Derzeit steht auf dem Markt bereits eine ganze Reihe von oralen Verhütungspräparaten zur Verfügung. Der Stellenwert des neuen Präparats aus Estetrol und Drospirenon ist derzeit offen. Aus den aktuell vorliegenden Daten ist es nicht möglich, einen therapeutischen Fortschritt hinsichtlich der Sicherheit und Wirksamkeit gegenüber den erprobten Zubereitungen abzuleiten. Die Inzidenz thromboembolischer Komplikationen liegt bei oralen Kontrazeptiva der dritten Generation mit Ethinylestradiol und Drospirenon als Gestagen bei 9 bis 12 pro 10.000 Frauenjahren. Unter Ethinylestradiol und dem älteren Gestagen Levonorgestrel sind es etwa 5 bis 7 Fälle pro 10.000 Frauenjahren [6]. Aussagekräftige epidemiologische Studien zur Ein­schätzung des arteriellen und venösen Thromboembolie-Risikos von Estetrol/Drospirenon müssten daher erheblich größere Patientinnen-Kollektive als die bislang durchgeführten Untersuchungen rekrutieren. Auch die vorliegenden Erkenntnisse hinsichtlich des erreichbaren Pearl-Index sind widersprüchlich. Weitere vom Hersteller postulierte Vorteile des neuen Kombinationspräparats, wie ein möglicherweise geringeres Interaktionspotenzial und eine Gewebeselektivität für bestimmte Es­trogen-Rezeptoren, gründen derzeit lediglich auf theoretischen Überlegungen, eine Überprüfung in der Praxis steht aus. Geeignete Studien zur Beurteilung des Substanz-assoziierten Risikos für die Entstehung von Mamma-, Endometrium- und Zervixkarzinomen sind aktuell ebenfalls nicht verfügbar. Die tatsächliche therapeutische Relevanz von Estetrol/Drospirenon kann erst nach Klärung dieser Aspekte beurteilt werden. |

Literatur

[1] Fachinformation zu Drovelis®, Stand April 2022

[2] Mawet M, Gaspard U, Foidart JM. Estetrol as estrogen in a combined oral contraceptive, from the first in-human study to the contraceptive efficacy. Eur J Gyn Obstet 2021;3(1):13-21

[3] Creinin MD et al. Estetrol-drospirenone combination oral contraceptive: North American phase 3 efficacy and safety results. Contraception 2021;104(3):222-228

[4] Drovelis: EPAR ‑ Medicine overview. Informationen der Europäischen Arzneimittel-Agentur, EMA/196734/2021, Stand Mai 2021

[5] Neubeck M, Mutschler E. DAZ-Beilage Neue Arzneimittel, 68. Jahrgang, Oktober 2021

[6] Venöse Thromboembolien und kombinierte hormonale Kontrazeptiva. Informationen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, 14. März 2022

Apothekerin Dr. Monika Neubeck

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