Arzneimittel und Therapie

Mehrwert neuer Wirkstoffe auf dem Prüfstand

Zusatznutzen nur für knapp die Hälfte der Erstindikationen belegt

Eine internationale Arbeitsgruppe untersuchte den therapeutischen Nutzen neu zugelassener Wirkstoffe für deren Erstindikation sowie für weitere Indikationen. Bei der Erst­indikation wurde knapp der Hälfte ein hoher Benefit attestiert und bei nachfolgenden Indikationen nur rund einem Drittel ein Mehrwert bescheinigt.

Welcher Anteil neu zugelassener Wirkstoffe besitzt im Hinblick auf die Erstindikation einen therapeutischen Mehrwert im Vergleich mit der bis­herigen Therapie und wie ist der therapeutische Nutzen von später erteilten Zusatzindikationen zu beurteilen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich das internationale Autorenteam einer retrospektiven Kohortenstudie. Dazu bewerteten die Autoren den Nutzen von 124 von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA und 88 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA im Zeitraum 2011 bis 2020 erteilten Erstzulassungen. Zudem evaluierten sie den Benefit von Zusatz­indikationen, darunter 335, die von der FDA und 215, die von der EMA genehmigt wurden. Die meisten Indikationen bezogen sich auf Tumorerkrankungen. Bei der Beurteilung wurde anhand von Health Technology Assessments auf die Nutzenbewertungen deutscher und französischer Behörden zurückgegriffen. Diese Beurteilungen waren verfügbar für 107 Erstzulassungen und 179 Zusatzindikationen in den USA sowie für 87 Erstzulassungen und 184 Zusatzindikationen in Europa.

Foto: Sashkin/AdobeStock

Halten sich zwei Therapieoptionen die Waageoder ist eine der anderen überlegen? In Deutschland untersucht das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den Nutzen und Schaden medizinischer Maßnahmen (u. a. Arzneimittel) für Patienten.

Chance auf Zusatznutzen bei weiteren Indikationen geringer

Der Rückgriff auf diese Daten ergab die nachfolgenden Ergebnisse.

Für die FDA-Zulassungen:

  • In der Erstzulassung wiesen 41% der neuen Arzneimittel einen hohen therapeutischen Nutzen auf, in Zusatzindikationen 34%.
  • Im zweiten Anwendungsgebiet ist die Chance eines Zusatznutzens um 36% kleiner als in der ersten Indikation.
  • Im dritten Anwendungsgebiet ist die Chance eines Zusatznutzens um 45% kleiner als in der ersten Indikation.

Für die EMA-Zulassungen:

  • In der Erstzulassung wiesen 47% der neuen Arzneimittel eine hohe therapeutische Bewertung auf, in zusätzlichen Indikationen 36%.
  • Im zweiten Anwendungsgebiet ist die Chance eines Zusatznutzens um 37% kleiner als in der erstenIndikation.
  • Im dritten Anwendungsgebiet ist die Chance eines Zusatznutzens um 52% kleiner als in der ersten Indikation.

Damit ergibt sich folgendes Bild: Weniger als die Hälfte der neu zugelassenen Arzneimittel bietet in der Erstindikation den Betroffenen einen nachgewiesenen Zusatznutzen im Vergleich mit der Standardtherapie. Bei jeder weiteren Indikation sinkt dieser Anteil.

Kommentar des IGWiG

In einem Kommentar zu dieser Studie sieht das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in einer Revision des EU-Arzneimittelrechts eine Chance zum Nachsteuern. Die gesetzlichen Vorschriften in Europa und den USA verlangen derzeit lediglich eine positive Nutzen-­Risiko-Bilanz, also keine Überlegenheit gegenüber den bisherigen Therapien. Zukünftige Regelwerke sollten Anreize für echte Verbesserungen gegenüber den bisherigen Therapien setzen, indem sie Fördermaßnahmen wie die Verlängerung der Marktexklusivität an den Nachweis eines Zusatznutzens gegenüber vorhandenen Therapieoptionen knüpfen. Dann könnten die Ressourcen bestmöglich eingesetzt, echte Innovationen gefördert und die Versorgung von Patienten verbessert werden. |

Literatur

Vokinger KN et al Therapeutic value of first versus supplemental indications of drugs in US and Europe (2011-20): retrospective cohort study. BMJ 2023;382:e074166, doi: 10.1136/bmj-2022-074166

Indikationserweiterungen in der Arzneimittel-Zulassung: oft ohne Zusatznutzen-Nachweis. Informationen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) vom 6. Juli 2023, www.iqwig.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-detailseite_96256.html

Apothekerin Dr. Petra Jungmayr

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