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Aus den Ländern
Zu komplex, zu wenig Geld, zu wenig Kooperation
Analysen zum Gesundheitswesen beim 17. Zwischenahner Dialog
Berend Groeneveld, als Gastgeber und Vorsitzender des Landesapothekerverbandes Niedersachsen, betonte, dass die ganze Lieferkette der Arzneimittel bei der Veranstaltung vertreten war. So seien Gespräche über die Berufsgruppen hinweg möglich. Die wirtschaftliche Situation der Apotheken vermittelte Dr. Sebastian Schwintek, Mitglied der Geschäftsleitung der Treuhand Hannover, anhand neuer Zahlen der Steuerberatungsgesellschaft. Demnach ist ein Drittel der Apotheken in der Existenz gefährdet, und ein Zehntel der Apotheken macht bereits Verluste (s. Seite 9 in dieser DAZ).
Einfluss aus Brüssel
Dr. Jens Gobrecht, Leiter des ABDA-Büros in Brüssel, der als einziger Referent online zugeschaltet war, beschrieb den Einfluss der EU auf das deutsche Gesundheitswesen. Für die Gesundheit seien in der EU zwar die Mitgliedstaaten zuständig, aber die Binnenmarkt-Generalklausel ermächtige die EU zu Maßnahmen zur Angleichung der nationalen Vorschriften. Dies schaffe seit jeher ein Spannungsverhältnis. Als bedeutsame Projekte der EU zur Gesundheit beschrieb Gobrecht den Europäischen Gesundheitsdatenraum und die Novellierung der Arzneimittelgesetzgebung. Bei Ersterem seien viele Fragen zur Nutzung von Daten umstritten. Für Ende September werde ein neuer Berichtsentwurf erwartet, der als Grundlage für weitere Verhandlungen dienen soll. Mit der neuen Arzneimittelgesetzgebung, dem „Pharmapaket“, sollen der Zugang zu Arzneimitteln, die Versorgungssicherheit und der Wettbewerb gestärkt werden. Als kritischen Aspekt betonte Gobrecht die mögliche Ausweitung des Anwendungsbereichs der Richtlinie. Dann könnte auch die Defekturherstellung darunter fallen. Außerdem gab Groeneveld zu bedenken, dass die EU Arzneimittel nicht generell als Ware der besonderen Art, sondern eher unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachte. Auf die Frage, ob die Bundesregierung die deutsche Sicht dazu in der EU vermittle, entgegnete Gobrecht, Deutschland halte sich in diesem Verfahren extrem zurück.
Noch keine Mittel gegen Lieferengpässe
Zum Einsatz der EU gegen Arzneimittellieferengpässe verwies Gobrecht auf eine gemeinsame Aktion mehrerer Mitgliedstaaten unter dem Titel „Chessmen“, die als Reaktion auf das geringe Engagement der Gemeinschaft verstanden werden könne. Gobrecht beschrieb die Lieferengpässe als globale Herausforderung. Dabei sei die zunehmende Rolle der BRICS-Staaten ambivalent zu sehen. Sie könne zwar neue Abhängigkeiten schaffen, aber ein breiter aufgestellter Markt biete auch Chancen durch die Diversifizierung der Lieferketten. Die Lieferengpässe waren auch das Thema von Torsten Bathmann, Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa). Er machte deutlich, wie fragil Lieferketten sein können. Auch wenn nur eine Verpackungskomponente fehle, könne ein Arzneimittel nicht ausgeliefert werden. Die Vorsorge müsse sich daher auf alle Komponenten beziehen. Bei Engpässen würden die Preise steigen, was bei Waren ohne Preiswettbewerb problematisch sei. Zur Vorsorge gegen Lieferengpässe müssten die Lieferketten stabilisiert werden. Dies erfordere Geld und Rechtssicherheit. Nach Einschätzung von Bathmann wird das neue Lieferkettengesetz im Herbst keinen entscheidenden Einfluss haben. Bei einer neuen Infektionswelle werde es die bekannten Probleme und Diskussionen geben. Für Gegenmaßnahmen verwies Bathmann auf ein Fünf-Punkte-Programm des vfa.
Gesamtkonzept gefordert
Als Schwachstellen im Gesundheitswesen beklagte Dirk Engelmann, Leiter der niedersächsischen Landesvertretung der Techniker Krankenkasse, besonders die mangelnde Digitalisierung, die Fehlsteuerung und das Überangebot bei Krankenhäusern und die fehlenden Konzepte der Politik für die regionale Versorgung. Dafür wünscht sich Engelmann mehr Kooperation in Versorgungszentren. Auch Apotheken vor Ort würden in ein Gesamtkonzept gehören, diese müssten aber nach den Vorstellungen von Engelmann auf veränderte Marktsituationen mit neuen Angeboten reagieren. Er bekräftigte den Mehrwert der Selbstverwaltung, die hohe Verbindlichkeit und kluge Lösungen schaffe. Problematisch seien Blockaden, die zu oft Schiedsstellenentscheidungen erfordern würden. Dies liege aber teilweise an handwerklich schlechten gesetzlichen Aufträgen. Obwohl das GKV-Defizit nicht so hoch wie angenommen sei, erwartet Engelmann ein Finanzierungsgesetz, das auch Maßnahmen auf der Ausgabenseite enthalte. Das sei eine „bittere Pille für die Leistungserbringer“.
Pharmazeutische Dienstleistungen langfristig sehen
Im ersten Vortrag des zweiten Veranstaltungstages betrachtete Matthias Götzlaff, Vorstandsmitglied des Landesapothekerverbandes Niedersachsen, die Entwicklung der pharmazeutischen Dienstleistungen. Mit realistischen Vollkosten kalkuliert seien die Honorare defizitär. Außerdem sei in den Apotheken angesichts der vielen Bürokratie und der Lieferengpässe zu wenig Zeit für die neuen Leistungen. Götzlaff gab sich dennoch vorsichtig optimistisch, denn die Einführung der neuen Leistungen sei „ein langfristiger Prozess“, der besser laufen werde, wenn die Apotheken mehr Zeit hätten. Für die junge Apothekergeneration sei die Sinnhaftigkeit dieser Aufgabe wesentlich. Darum liege dort die Zukunft, meint Götzlaff. In der Diskussion meldeten mehrere Vertreter von Krankenkassen jedoch Begehrlichkeiten angesichts der Mittel im Dienstleistungsfonds an. Die Debatte, diese Mittel anders einzusetzen, falls die Apotheken sie nur wenig abrufen, hat offenbar bereits begonnen.
Auch Krisenmodus bei den Ärzten
Zur Situation der Ärzte erklärte Mark Barjenbruch, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen: „Auch wir sind im Krisenmodus“. Auch die Ärzte fordern eine tragfähige Finanzierung angesichts der Diskrepanz zwischen festen Honoraren und Inflation. Wegen vieler Reformbaustellen hätten die ärztlichen Berufsverbände in Niedersachsen dem Bundesgesundheitsminister die Frist gesetzt, bis zum 13. September auf ihre Positionen zu antworten. Zu den Empfehlungen einer Regierungskommission meldete Barjenbruch vielfältige Kritik an. Mit neuen Notfallzentren würde noch mehr Personal aus der übrigen Versorgung gezogen. Gesundheitskioske würden nicht in die Systematik passen, und Ärzte würden dorthin keine Aufgaben delegieren und dann dafür haften. Bei Primärversorgungszentren sei nicht einzusehen, warum Leistungen mehr honoriert werden sollten, wenn sie in einer Gruppe von Ärzten erbracht werden. Bei der Digitalisierung sieht Barjenbruch viele Baustellen, besonders den „Urärger“, wenn die Technik nicht funktioniert. Hinzu kommen die Finanzierungsprobleme der Krankenhäuser. Wegen der Inflation dürften viele von ihnen insolvent sein, bevor eine Krankenhausreform stattfindet, fürchtet Barjenbruch.
Strukturelle Hindernisse überwinden
Rechtsanwalt Dr. Joachim Kasper, Kassel, beschrieb zudem langfristige strukturelle Probleme des Gesundheitssystems. Der Personalmangel trotz steigender Beschäftigtenzahlen sei durch die vielen Teilzeitkräfte zu erklären. Auf die Forderung nach Gesundheitszentren und Gemeinschaftspraxen entgegnete Kasper, diese würden an persönlichen und rechtlichen Problemen scheitern. Schon aus steuerlichen Gründen könne ein Arzt eine Praxis im eigenen Haus praktisch nicht in eine Gemeinschaft einbringen. Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Kasper beklagte das grundsätzliche Problem, dass bei neuen Gesetzen insbesondere zur verbesserten Kooperation im Gesundheitswesen die Folgen für viele andere Rechtsbereiche nicht berücksichtigt würden. Die von der Politik konzipierten Modelle würden scheitern, wenn Gerichte dann Vorschriften aus anderen Gebieten durchsetzen, folgerte Kasper. In solchen Urteilen ging es beispielsweise um ein Krankenhaus, das kein Geld für Leistungen in angegliederten Operationszentren erhielt, weil diese nicht „im Krankenhaus“ seien, sowie um Vertragsärzte, die mit ihrer ganzen Arbeit als rentenversicherungspflichtig eingestuft würden, weil sie bei Operationen in die Organisation der Klinik einbezogen würden. In einem weiteren Urteil sei ein MVZ im Eigentum eines Arztes nicht anerkannt worden, wenn dieser Arzt dort angestellt sei. Denn die Arbeit im eigenen MVZ sei keine abhängige Beschäftigung.
Groeneveld beklagte daraufhin, dass die Freiberuflichkeit so schwierig gemacht werde, obwohl sie so wichtig sei. Denn Deutschland hätte die Pandemie ohne die Freiberuflichkeit nicht so gut überstanden, ist Groeneveld überzeugt. Die Tagung habe die Komplexität des Gesundheitswesens gezeigt. Doch die Politik solle den Rahmen setzen, forderte Groeneveld. Sie könne nicht erwarten, dass die Leistungserbringer sagen, wo das Geld herkommen solle – und sie könne auch nicht erwarten, dass die Leistungserbringer Geld für die Versorgung mitbringen. |
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