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Neue Arzneimittel
Evinacumab bei austherapierter Hypercholesterolämie
Angiopoietin-like Protein 3 als innovatives Target
Die seltene Fettstoffwechselstörung homozygote familiäre Hypercholesterolämie tritt in der Bevölkerung mit einer Inzidenz von 1 : 300.000 auf. Sie ist mit stark erhöhten LDL-Cholesterol-Spiegeln und als Folge mit einem erheblichen Risiko für möglicherweise tödlich verlaufende atherosklerotische, kardiovaskuläre Erkrankungen assoziiert. Man unterscheidet die LDL-Rezeptor-Genvarianten „null-null“ mit völlig fehlenden und „non-null“ mit funktionslosen Rezeptoren. Bei beiden Formen kann praktisch keine Aufnahme von LDL in die Leberzellen erfolgen. Trotz hoch dosierter Behandlung mit normalerweise effektiven Standardtherapeutika wie Statinen, Ezetimib, Proproteinkonvertase-Subtilisin/Kexin-Typ-9(PCSK9-)Antikörpern wie Evolocumab, PCSK9-Hemmern wie Inclisiran oder Inhibitoren des mikrosomalen Triglycerid-Transfer-Proteins wie Lomitapid (in Deutschland außer Vertrieb, Einzelimport möglich) weisen die Betroffenen Blut-Cholesterol-Werte auf, die weit außerhalb des angestrebten Bereichs liegen. Die einzige in gewissem Rahmen hilfreiche Therapieoption zur Vermeidung schwerer kardiovaskulärer Ereignisse ist die Lipidapherese.
Wirkung unabhängig von LDL-Rezeptoren
Das Angiopoietin-like Protein 3 (ANGPTL3) wird primär in der Leber exprimiert und spielt bei der Regulierung des Lipidmetabolismus eine wichtige Rolle. Es handelt sich um einen endogenen Inhibitor der Enzyme Lipoproteinlipase und endotheliale Lipase, der die Auflösung (Lipolyse) von Triglycerid-reichen Lipoproteinen hemmt. Die Entwicklung des Wirkstoffs Evinacumab gründet auf der Erkenntnis, dass Loss-of-Function-Mutationen von ANGPTL3 mit Hypolipidämien und einer Schutzwirkung gegenüber arteriosklerotischen, kardiovaskulären Erkrankungen assoziiert sind. Der rekombinant hergestellte Immunglobulin-G4-kappa(IgG4κ)-Antikörper Evinacumab bindet spezifisch an ANGPTL3 und hebt dessen inhibierende Wirkung auf. Als Folge wird die Aktivität der Enzyme Lipoproteinlipase und der endothelialen Lipase erhöht, sodass ein vermehrter Abbau von Triglycerid-reichen Lipoproteinen erfolgt und die Triglycerid- und Cholesterol-Spiegel im Blut gesenkt werden. Die Evinacumab-assoziierte Reduktion der LDL-Cholesterol-Werte findet unabhängig vom Vorhandensein von LDL-Rezeptoren statt. Der Wirkstoff fördert unmittelbar die Verarbeitung von Lipoproteinen sehr geringer Dichte (Very Low Density Lipoprotein, VLDL) und die von der endothelialen Lipase abhängige Beseitigung von VLDL-Resten (Remnants) in den Blutgefäßen, noch bevor diese Vorstufen in LDL umgewandelt werden (s. Abb.) [1].
Diese Unabhängigkeit der Evinacumab-Wirkung von funktionsfähigen LDL-Rezeptoren ist für Patienten mit homozygoter familiärer Hypercholesterolämie bahnbrechend. Die Erkrankung beruht auf Mutationen am LDL-Rezeptor-kodierenden Gen, die den physiologischen Transport von LDL-Cholesterol in die Zellen verhindern.
Monatliche Infusion
Die empfohlene Dosierung von Evinacumab für Erwachsene und Jugendliche ab zwölf Jahren beträgt monatlich 15 mg/kg. Sie wird als intravenöse Infusion über einen Zeitraum von 60 Minuten verabreicht. Die Therapie gilt als gut verträglich. Häufig und sehr häufig werden leichte bis mäßiggradige Nebenwirkungen wie Infektionen der oberen Atemwege, Schwindelgefühle, gastrointestinale Beschwerden, Schmerzen des Rückens oder in einer Extremität, grippeähnliche Erkrankungen sowie Reaktionen an der Infusionsstelle berichtet. Die Behandlung mit Evinacumab ist zudem mit Überempfindlichkeitsreaktionen sowie mit infusionsbedingten Reaktionen assoziiert. Bei entsprechenden Symptomen, die auf einen schweren Verlauf hindeuten, muss die intravenöse Applikation des Antikörpers zumindest zeitweise unterbrochen und eine zielgerichtete Notfallbehandlung eingeleitet werden.
Vorsicht in Schwangerschaft und Stillzeit
Die Anwendung des ANGPTL3-Antikörpers während der Schwangerschaft sollte allenfalls nach strenger Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen, da IgG-Antikörper wie Evinacumab die Plazentaschranke passieren. Um ein Risiko auszuschließen, müssen auch Frauen im gebärfähigen Alter während und bis zu fünf Monate nach Beendigung der Evinacumab-Therapie eine zuverlässige Verhütungsmethode anwenden. Insbesondere in den ersten Tagen nach der Geburt gehen maternale IgG-Antikörper bekanntermaßen in die Muttermilch über. Während der Behandlung mit Evinacumab sollte daher in diesem kurzen Zeitraum auf das Stillen verzichtet werden. Im weiteren Verlauf erscheint die Anwendung des Antikörpers bei stillenden Frauen vertretbar.
Studie zeigt Halbierung der Cholesterol-Spiegel
Die Zulassung von Evinacumab beruht auf der 2 : 1 randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Phase-III-Studie ELIPSE-HoFH mit 65 Erwachsenen und Jugendlichen ab zwölf Jahren mit homozygoter familiärer Hypercholesterolämie [2]. Trotz einer laufenden lipidsenkenden Therapie, z. B. mit Statinen, Ezetimib, PCSK9-Inhibitoren und/oder Lomitapid in maximaler Dosierung sowie Lipoprotein-Apherese lagen die mittleren LDL-Cholesterol-Spiegel der Studienteilnehmer bei 255 mg/dl. Die Patienten wurden im Studienverlauf alle vier Wochen alternativ mit Evinacumab oder Placebo behandelt, während sie ihre etablierte Medikation zur Senkung des Cholesterol-Spiegels beibehielten. Nach 24 Therapiewochen konnte in der Verumgruppe eine im Durchschnitt 47%ige Reduktion des LDL-Cholesterol-Werts beobachtet werden, in der Placebogruppe kam es dagegen zu einem Anstieg um 2% (p < 0,001) [2, 3]. Die absolute Differenz der LDL-Cholesterol-Spiegel zwischen beiden Therapiearmen betrug durchschnittlich 132 mg/dl und war mit einem p-Wert von weniger als 0,001 ebenfalls hochsignifikant. Die unter Evinacumab erreichte Verbesserung konnte bei der über weitere 24 Wochen stattfindenden unverblindeten Behandlung aufrechterhalten werden, wobei hier 64 der 65 Studienteilnehmer nun Evinacumab erhielten. Die mittlere prozentuale Abnahme des LDL-Cholesterol-Werts von Studienbeginn bis Woche 48 lag im Bereich von 43 bis 56% [1]. Die Inzidenz von Nebenwirkungen war im Verum- und im Placeboarm ähnlich.
Weitere Indikationen und Applikationswege in Aussicht?
Für akut durch Folgeerkrankungen einer homozygoten familiären Hypercholesterolämie gefährdete Patienten stellt der neue Antikörper Evinacumab mit seinem völlig innovativen Wirkmechanismus mit hoher Wahrscheinlichkeit einen bedeutenden therapeutischen Fortschritt dar. Resultate von Studien zur Langzeitsicherheit und -wirksamkeit des ANGPTL3-Antikörpers an größeren Kollektiven bleiben dennoch abzuwarten. Insbesondere wäre die Beeinflussung der Mortalität aufgrund von Herzinfarkten und Schlaganfällen durch Evinacumab zu beleuchten.
Möglicherweise erfolgt in Kürze eine Erweiterung der Zulassung des gut verträglichen neuen Wirkstoffs für die Behandlung von Kindern ab fünf Jahren. Aber auch für den Einsatz von Evinacumab bei Patienten mit therapierefraktärer Hypercholesterolämie liegt bereits eine vielversprechende Phase-II-Studie vor [4]. Interessanterweise erfolgte die Applikation von Evinacumab bei den meisten Teilnehmern dieser Untersuchung subkutan, wobei ähnlich gute Resultate wie nach intravenöser Gabe erzielt wurden. Somit stehen zwei Fragen im Raum: Zum einen, ob Evinacumab auch für andere schwere Hypercholesterolämien freigegeben werden sollte und des Weiteren, ob die subkutane Injektion des ANGPTL3-Antikörpers der intravenösen Gabe tatsächlich ebenbürtig ist, sodass die Belastung der Patienten reduziert und die Gefahr von infusionsbedingten Reaktionen umgangen werden könnte. |
Neue Arzneimittel 2023
In der bisher monatlich erschienenen DAZ-Beilage „Neue Arzneimittel“ stellte Apothekerin Dr. Monika Neubeck neue Wirkstoffe ausführlich vor und ordnete sie in die bestehenden Therapieoptionen ein. Seit Januar 2023 finden Abonnentinnen und Abonnenten der DAZ die neuen Arzneistoffe auf DAZ.online unter www.deutsche-apotheker-zeitung.de/pharmazie/arzneimittel.
Neu hinzugekommen sind:
- Teclistamab
- Cipaglucosidase und
- Evinacumab
Dort steht Ihnen auch ein Archiv mit allen seit 2000 eingeführten Wirkstoffen zur Verfügung. Die für die Offizin bedeutsamen Wirkstoffe stellen wir in der Print-Ausgabe der DAZ regelmäßig in unserer Rubrik „Neue Arzneimittel“ vor.
Literatur
[1] Fachinformation zu Evkeeza®, Stand September 2023
[2] Raal FJ, Rosenson RS, Reeskamp LF, Hovingh GK et al. Evinacumab for homozygous familial hypercholesterolemia. N Engl J Med 2020;383(8):711-720, doi: 10.1056/NEJMoa2004215
[3] EPAR summary for the public. Evkeeza® Evinacumab. Informationen der Europäischen Arzneimittel-Agentur, 21. Juni 2021, EMA/258537/2021
[4] Rosenson RS, Burgess LJ, Ebenbichler CF, Baum SJ et al. Evinacumab in patients with refractory hypercholesterolemia. N Engl J Med 2020;383(24):2307-2319, doi: 10.1056/NEJMoa2031049
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