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Digitalisierung des Gesundheitswesens – was läuft denn da gerade?

Eine kritische Bestandsaufnahme – ein Gastbeitrag

Eine bessere Digitalisierung im Gesundheitswesen als bisher ist notwendig und sie wird auch kommen. Da sind sich alle Beteiligten einig. Aber wo stehen wir wirklich? Wem nutzt der ganze Aufwand? Welchen Benefit haben die Patienten? Worauf müssen sie achten? Und vor allem – wo bleibt die Arzneimittelsicherheit? Dr. Franz Stadler, Beiratsvorsitzender der Stiftung für Arzneimittelsicherheit, versucht sich an der Beantwortung dieser Fragen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat die Digitalisierung im Gesundheitswesen zur Chefsache erklärt und seine Pläne sind ambitioniert: Ab Januar 2024 soll das E-Rezept als verbindlicher Standard etabliert werden. Anfang 2025 soll die elektronische Patientenakte (ePA) für alle gesetzlich Versicherten eingerichtet werden. Es geht Schlag auf Schlag. Eine deutsche Aufholjagd, auch im europäischen Vergleich. Sogar die EU hat im Mai 2023 mit dem EHDS bereits zukunftsweisende, vereinheitlichende Maßstäbe für Interoperabilität und Zugang gesetzt.

Dr. Franz Stadler nimmt die Digitalisierung kritisch unter die Lupe.

Status Quo

Grundsätzlich zwingen uns allein schon der demografische Wandel, das Älterwerden der Bevölkerung, der daraus resultierende steigende Versorgungsbedarf bei einer gleich­zeitig sinkenden Versorgungskapazität (Mangel an Ärzten und Pflegepersonal etc.) zu einem Transformationsprozess im Gesundheitswesen. Dazu kommen wachsende Anforderungen an Nachhaltigkeit und die Notwendigkeiten zur Schonung der knapper werdenden Ressourcen – auch bei der Finanzierung. Digitalisierung kann zu diesem Transformationsprozess einen Beitrag leisten. Manche Beteiligte glauben sogar, sie sei die Lösung. Aber der Reihe nach.

Der Nutzen

Aus Sicht von Industrie, Politik und Selbstverwaltung ist eine verbesserte Datenverfügbarkeit notwendig, um bessere Entscheidungsgrundlagen sowohl in Forschung und Entwicklung als auch bei regulatorischen Prozessen, Versorgungsplanung oder simplen Abrechnungsfragen zur Verfügung zu haben als bisher. Sowohl Quantität als auch Qualität der jetzigen verfügbaren Daten seien zu schlecht. Dieser Bereich der Digitalisierung/Datennutzung wird unter dem Begriff Sekundärnutzen zusammengefasst und stand lange Zeit nahezu allein im Fokus. Gerne wird er mit Forderungen nach Incentivierungen/staatlichen Finanzspritzen vonseiten der potenziellen Investoren verknüpft.

Obwohl auch einige Ergebnisse dieser angestrebten Sekundärnutzenverbesserung den Patienten und Behandlern zugutekommen würden, liegt der Primärnutzen für diese Gruppen vorrangig in einer Reduzierung des bisher hohen Zeitaufwandes für Dokumentation und Verwaltung sowie in einer Verbesserung/Optimierung von Diagnose und Therapie. Gerade hier erscheint das qualitative Verbesserungspotenzial durch eine standardisierte Datenerfassung und -weitergabe für die Patienten gewaltig (Stichworte: Vermeidung von Mehrfach- und/oder fehlerhaften, nicht evidenzbasierten Behandlungen). Beispielsweise könnten in den Notaufnahmen ältere oder bewusstlose Patienten von den immer aktuellen Medikationsplänen der elektronischen Patientenakte profitieren. Allgemein gesprochen sind die Ziele der Digitalisierung Effizienzsteigerungen bei mindestens gleichbleibend hoher Qualität. Oder im Klartext: Einsparungen ohne Qualitätsverluste.

Während bei den beteiligten IT-Unternehmen, der Pharmaindustrie und den Krankenkassen geradezu eine euphorische Stimmung zu beobachten ist, ist die Akzeptanz der Digitalisierungsbemühungen in der breiten Öffentlichkeit, aber auch bei den Praktikern, den Kliniken, Ärzten und Apothekern, eher gering.

Die Vorbehalte

Im stationären Bereich, vor allem bei den großen Kliniken, wird mit Hochdruck an der Umsetzung der Digitalisierungsmaßnahmen gearbeitet. Es sind hier teilweise schon eigene Parallelstrukturen (außerhalb der Gematik) aufgebaut worden und die Vorbehalte sind gering. Dagegen sind im ambulanten Bereich die Interessen etwas anders gelagert. Die Behandler (Ärzte etc.) befürchten für die Umstellphase einen erheblichen, kaum zu leistenden Mehraufwand, aber vor allem mittel- und langfristig Umsatzrückgänge (auch durch eine stärkere Kontrolle der abgerechneten Leistungen) – weshalb sie nicht müde werden, eine „sinnvolle“ Digitalisierung zu fordern und ansonsten zu bremsen.

Die Apotheker sehen vor allem die Gefahr der systematischen Weiterleitung von Rezepten zu Versandapotheken im In- und Ausland. Existenzielle Umsatzeinbrüche, weitere Apothekenschließungen, aber auch ein Verlust an verfügbarer kritischer Infrastruktur (KRITIS) drohen. Saubere rechtliche Regelungen (strafbewehrt) vorausgesetzt, sind sie sonst eher für die Digitalisierung. Ihr Zusatzaufwand ist überschaubar. Sie beobachten aber mit Sorge die Mittelverschwendung bei ohnehin knappen Kassen, beispielsweise für Konnektoren, die schon ausgetauscht werden mussten, bevor das erste E-Rezept in die Apotheke gekommen ist. Außerdem erleben sie die Störanfälligkeiten des zentralisierten Systems und müssen täglich mit seinen Unzulänglichkeiten umgehen.

Der Bürger/Patient hat die Befürchtung gläsern zu werden, sprich er fürchtet, dass seine Daten überall auftauchen könnten, ihm dadurch Nachteile im Beruf oder finanzieller Art erwachsen, er mit Werbeangeboten oder noch schlimmer mit dirigistischen Aufforderungen seiner Krankenkasse oder von wem auch immer drangsaliert werden könnte. Er versteht die komplexen Strukturen/Fachbegriffe nicht und es fehlt ihm an Vertrauen in eine zentralisierte Lösung.

Fehlersuche

Wir sind nicht nur im europäischen Vergleich zu langsam in der digitalen Entwicklung. Durch die jahrelange Hinhaltetaktik und den fehlenden Einigungswillen der beteiligten Leistungserbringer sind nicht nur die Konnektoren (oder andere Hardwarekomponenten), sondern das ganze jetzige Konstrukt der Gematik inzwischen veraltet. Die Entwicklungen im IT- und KI-Bereich sind rasant. Eine zentrale Datenspeicherung ist obsolet. Fehlende Interoperabilität der einzelnen Datenbanken oder auch der Datenschutz sind inzwischen keine großen Probleme mehr. Im privatwirtschaftlichen Bereich sind, gepuscht durch die Corona-Pandemie, inzwischen Firmen entstanden, die nach eigenen Angaben bereits jetzt 30 Prozent des Datenvolumens im ambulanten (Medatixx) und stationären Bereich (TipluDB) abdecken und vermarkten. Tiplu bietet sogar eine zentral gespeicherte, strukturierte und interoperable Patientenakte. Dazu gibt es Datentreuhänder wie die Bundesdruckerei, die zu 100 Prozent dem Bund gehört und aus identifizierbaren Daten über ein gematchtes Pseudonym eine gesicherte Anonymisierung zur Datenanalyse zur Verfügung stellt (CenTrust). Dadurch soll Ver­trauen erzeugt werden. Dabei sind die großen internationalen Konzerne (Apple etc.) hierzulande noch nicht aktiv geworden. Trotzdem herrscht in der Branche Goldgräberstimmung.

Die Fortschritte der Gematik spielen dabei eine untergeordnete Rolle, stellt sie doch kein praktikables Gegenkonzept zu den privatwirtschaftlichen Datenhändlern vor. Auch ihr geht es bei der Digitalisierung um die Schaffung neuer Gewinnmöglichkeiten, um die Erschließung neuer Marktfelder, um die Förderung von Forschung und Entwicklung – also hauptsächlich um den Sekundärnutzen.

Veranstaltungs-Tipp

Digitalisierung im Gesundheitswesen – Wo bleibt die Arzneimittel­sicherheit?

Die Stiftung für Arzneimittelsicherheit, ins Leben gerufen von Beatrix und Dr. Franz Stadler, lädt am 23. November 2023 zu einer Podiumsdiskussion – den Münchner Arzneimittelgesprächen. Das Thema: Digitalisierung im Gesundheitswesen – Wo bleibt die Arznei­mittelsicherheit?

Den Impulsvortrag hält Peter Schaar, ehemaliger Bundesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit, Vorsitzender der Schlichtungsstelle der Gematik und Autor des im Hirzel-Verlag erschienenen Buches „Diagnose Digital-Desaster – Ist das Gesundheitswesen noch zu retten?“ (das Buch kann über die Website www.hirzel.de bestellt werden, es steht in gebundener Form sowie als E-Book zur Verfügung).

Weitere Teilnehmer der anschließenden Diskussionsrunde sind Prof. Dr. Björn Eskofier, Department of Artificial Intelligence in Biomedical Engineering der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Dr. Markus Frühwein, berufspolitisch engagierter Allgemein- und Impfarzt, Prof. Dr. Christoph Spinner, Leiter der Stabs­stelle Medizin und Strategie in der Ärztlichen Direktion des Klinikums rechts der Isar (TUM), sowie Dr. Franz Stadler, Apotheker und Beiratsvorsitzender der Stiftung für Arzneimittel­sicherheit. Moderieren wird Dr. Till Rüger, Medizinjournalist beim BR.

Die Diskussionsrunde am 23. November können Sie ab 18:00 Uhr in den Räumen des Presseclubs München e.V. erleben (Marienplatz 22, IV. Stock (Eingang Rindermarkt), 80331 München) live und vor Ort erleben. Es wird zudem eine Liveübertragung auf dem YouTube-Kanal des Presseclubs geben.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.stiftung-arzneimittelsicherheit.de

Alternativen

Es wäre inzwischen ein leichtes, den Primärnutzen in den Mittelpunkt einer alternativen Gesundheitsökonomie zu stellen – wenn man nur wollte. Der Bürger/Patient ist und bliebe Souverän über seine Daten. Er allein bestimmt, wer Zugriff zu welchen (auch ausgewählten) seiner Daten erhält. Bei einem dezentralen Datenspeichersystem würde das Design des Datenmanagementsystems seine Datenhoheit garantieren und nicht gesetzliche Regelungen. Er kann beispielsweise seinem Arzt Zugriff zu seinen Daten gewähren (Primärnutzen) und er könnte, wenn er wollte (Incentivierung?), einer Datenlieferung aufgrund einer gematchten Anfrage für Forschung und Entwicklung zustimmen (Sekundärnutzen). Und – Vorteil Arzneimittelsicherheit – er könnte auch selbst erfahrene/erlittene Nebenwirkungen, Wirkverluste oder Wirkversagen in sein System eintragen und damit im besten Fall Echtzeitdaten zum Beispiel über Impf(miss)erfolge und Impfnebenwirkungen liefern. Die Pharmakovigilanz stünde auf einer ganz neuen und breiteren Grundlage als bisher. Ein solches Konzept (z. B. Federated Personal Health Data Space) mit Real-World-Daten (statt möglicherweise hochgerechneten/synthetischen KI-Daten) würde nicht nur zu mehr Evidenz und Arzneimittelsicherheit führen, es würde zudem kaum Datenschutzprobleme hervorrufen, deutlich weniger störanfällig sein und vermutlich auf viel mehr Akzeptanz stoßen als das Bisherige. Jeder einzelne Bürger wäre sich im Laufe der Zeit seiner persönlichen Verantwortung für das Funktionieren des Gesamtsystems bewusst und könnte mit seinen Daten/seinem Verhalten direkt Einfluss nehmen. Entwickelt er dann noch das notwendige grundlegende Vertrauen in die Digitalstrukturen steht einer flächendeckenden Umsetzung nicht mehr viel im Weg. Nur die Zahl der zusätzlichen Gewinnmöglichkeiten gegenüber einem zentralen Datenverarbeitungssystem würde sinken.

Zusammenfassende Wertung

Die Ziele der Digitalisierung und damit jeder Transformation im Gesundheitswesen sind (oder vielmehr sollten sein) Effizienzsteigerungen bei mindestes gleichbleibender Versorgungsqualität. Das heißt: Die Umsätze/Ausgaben in einem solidarischen System sollten nicht durch neue, zusätzliche Geschäftsfelder (Datenhandel, DiGAs etc.) erweitert, sondern angesichts der hohen Krankenkassenbeiträge und der Ressourcenknappheit sinken. Vorrangig sollten eine bessere, abgestimmte und sinnvolle Medikation, eine standardisierte, optimierte und – soweit möglich – einmalige qualitätsgesicherte Diagnose sowie eine wirksame Therapie sein. Der Patient sollte nicht qualitativ schlechter als bisher versorgt werden, aber auch nicht falsch oder übertherapiert.

Dazu könnte die ausufernde Bürokratie (Krankenkassen, verschlungene Abrechnungswege etc.) deutlich verringert, leichter handhabbar und transparenter als bisher werden.

Nicht zuletzt könnte das Nebenwirkungsmanagement stark verbessert und die Arzneimittelsicherheit drastisch erhöht werden.

Zu all diesen Punkten kann die Digitalisierung im Gesundheitswesen ihren Beitrag leisten. Der Nutzen ist also erkennbar. Wir müssen nur aufpassen, dass sie den Bürgern dient, nicht missbraucht wird und aus wirtschaftlichen Interessen zu einem bürokratischen und ungeliebten Monster verkommt. Die entscheidende Frage ist: Vertraut der Bürger einem digitalisierten Gesundheitswesen oder nicht? |

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