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„Mit kalten Füßen und heißen Herzen“
Eindrücke vom Apothekenprotest in Stuttgart mit mehr als 4000 Teilnehmern
Die ersten Stände des Weihnachtsmarktes waren schon auf dem Stuttgarter Schlossplatz aufgebaut. Es roch nach Bratwurst und Glühwein – im Hintergrund stand ein Riesenrad. Doch an den vermeintlichen Besuchern des Weihnachtsmarktes vormittags um 11 Uhr fiel ein Detail sofort ins Auge: Sie alle trugen die gleiche, weiße Warnweste mit dem Schriftzug „Apotheken stärken. Jetzt!“ – eine Parole, die man im Laufe des Mittags noch oft lautstark zu hören bekam. Denn auch wenn sich der eine oder die andere tatsächlich an den Buden stärkte: Der Weihnachtsmarkt war nicht der Grund, weshalb die Apothekenteams aus ganz Süddeutschland angereist waren. Vielmehr kamen sie, um ihre Unzufriedenheit mit der Lauterbachschen Gesundheitspolitik laut und deutlich kundzutun. Und bis zum Start der Veranstaltung um 12 Uhr riss der Zustrom von Personen auch nicht ab. Mit 4000 Teilnehmern hatte man gerechnet. Die mitgebrachten 4000 Warnwesten waren jedoch am Ende der Veranstaltung längst ausgegeben – gut möglich also, dass mehr Fachkräfte aus den Apotheken und Arztpraxen vor Ort waren.
Karl Lauterbach als Totengräber
„A für Ausbeutung, P für Protest, O für Ohnmacht, T für Tragödie, H für Hungerlohn, E für Engpass, K für Katastrophe, E für Ende.“ Das Schild des Teams der Apotheke im Schick-in aus Achern fasste zusammen, warum die Apothekenteams aus Baden-Württemberg und Bayern in Stuttgart zusammenkamen. Die Protestierenden forderten eine „faire Vergütung ihrer Leistungen“, „die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze“, „die Stärkung der Apotheke vor Ort“, sie schlugen „Alarm, Apotheke vor Ort hat keine Kraft mehr!“ Eine Apothekerin aus Nussloch sagte, dass sie unbedingt die öffentliche Apotheke erhalten möchte, sonst befürchte sie den Super-GAU. „Lass uns nicht ausbluten“ stand auf einem der Plakate - umgeben von einem Apothekenteam mit blutverschmierten Kitteln, auf einem konnte man das Apotheken-A gerade noch erkennen.
Auch die Hausärzteschaft war vor Ort: Vom Mediverbund hatte sich ein Protestierender als Karl Lauterbach verkleidet, er trug das Kostüm eines Totengräbers, um ihn hatte sich die Trauergesellschaft in Schwarz versammelt, mit Sarg und Trauerkranz (siehe Bild auf S. 22). Das Statement „Traurig nehmen wir Abschied von der ambulanten Versorgung“ verwies darauf, wohin die derzeitige Gesundheitspolitik ihrer Meinung nach führt. Um all die gebastelten Särge, Totenkreuze und -kränze auf dem Schlossplatz tobte die Menschenmenge, pfiff und protestierte lautstark: „Keine Honorarerhöhung seit 10 Jahren, PFUI!“, „Kaum ist die Pandemie vorbei, gehen wir der Regierung am A… vorbei“, „Wir dürfen nicht ins Gras beißen“.
Bei Veranstaltungsstart um 12 Uhr lag die Temperatur bei gerade einmal 3 Grad, doch die Gesundheitsberufler hatten mit Thermoskannen, langen Unterhosen und verschiedenen Lutschpastillen aus dem Apothekensortiment vorgesorgt und es herrschte ausgelassene Stimmung. Das lag nicht zuletzt an dem Moderator Frank Eickmann, dem stellvertretenden Geschäftsführer und Pressesprecher des LAV Baden-Württemberg, der immer wieder zu Sprechchören aufrief. Neben „Apotheken stärken. Jetzt“ war auch die bei Demonstrationen von Fridays For Future beliebte Parole „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut“ oft zu hören.
„Mit kalten Füßen und heißen Herzen“ waren die Apothekenteams in Stuttgart zusammengekommen, weil es „fünf nach zwölf für die deutsche Apothekerschaft“ ist, so Eickmann zur Eröffnung. Das anschließende zweistündige Bühnenprogramm wurde immer wieder aufgelockert durch Musikeinspielungen und der Aufforderung sich warmzutanzen. Einer Einladung, der die Protestierenden gerne nachkamen.
Rote Karte für das BMG – denn Apotheken sterben jetzt
Als erste Rednerin betrat Tatjana Zambo (Präsidentin des LAV BW) die Bühne. Sie urteilte, Minister Lauterbach solle nicht so viel in „Talkshows herumtingeln“, sondern lieber schnell und effektiv handeln, um die Apotheken zu stärken, denn „Apotheken sterben“. Eine Aussage, die aus der Zuhörerschaft vor der Bühne mit einem laut herausgerufenen „Jetzt!“ ergänzt wurde – in Anlehnung an die Parole „Apotheken stärken. Jetzt!“. Und dieses Apothekensterben sei eben nicht auf Missmanagement oder Fehler einzelner Inhaberinnen und Inhaber zurückzuführen, sondern auf Personalmangel und die unzureichende Honorierung. Und dafür zeige man hier und heute „dem BMG die Rote Karte“.
Als zweiter Redner ergriff Hans-Peter Hubmann (Vorsitzender des Bayerischen Apothekerverbandes) das Wort. Er betonte, dass für ihn „Bürokratie, Struktur und Vergütung […] die Stichwörter der Stunde“ seien. Und während man von einer tatsächlichen Stärkung der Apotheken „Lichtjahre entfernt“ sei, müssten die Apothekenteams andauernd „Probleme lösen, die andere verursacht haben“. Besonders stellte Hubmann auch den Wert der Rezeptur heraus, die Millionen von Menschen jedes Jahr in Anspruch nehmen – und die laut Lauterbachs Plänen künftig nicht mehr in allen Apotheken vorhanden sein soll.
Weniger Bürokratie und mehr Pharmazie gefordert
Anschließend und mit besonderem Fokus auf die Situation der angestellten Apothekerschaft sprach Silke Laubscher (Vizepräsidentin der LAK BW). Sie selbst sei seit mehr als 25 Jahren Apothekerin in einer öffentlichen Apotheke und sei beim Protesttag, damit aus diesem „eigentlich großartigen“ wieder ein uneingeschränkt „großartiger Beruf“ wird. Dazu gehörten Tarifgehälter, die denen von vergleichbar qualifizierten Berufsgruppen entsprächen sowie „weniger Bürokratie und mehr Pharmazie im Berufsalltag“.
Für die Berufsgruppe der PTA sprach danach Eva Bahn, PTA des Jahres 2021. „PTA sind das Rückgrat der Apotheken“, erinnerte sie die jubelnden Zuhörenden. Auch sie blickt bereits auf mehr als zwei Jahrzehnte Berufserfahrung zurück und kritisierte, dass Rabattverträge, Lieferengpassmanagement und Retax-Angst die Beratungsqualität beeinträchtigen. Statt der Kundschaft die nötigen Tipps zu geben „starren wir minutenlang schweigend in den Rechner“, um ja das richtige Präparat auszuwählen, und das mache den Patienten nicht gesünder, helfe der Apotheke nicht und bereichere nur die Krankenkasse.
Während in der Zuhörerschaft auch zahlreiche PTA vertreten waren, mussten die PTA-Schülerinnen und Schüler der Kerschensteiner Schule der Veranstaltung fernbleiben. Schulpflicht geht vor, hatte das Regierungspräsidium entschieden. Aber dank Videostatement ließ eine Klasse der Kerschsteinerschule die Menge trotzdem wissen, dass sie „im Herzen mit dabei waren“.
Viele Stimmen aus der Politik
Auch aus den Reihen der Politik ließen sich einige Vertreter auf der Kundgebung sehen, so etwa Petra Krebs. Die Sprecherin für Soziales, Gesundheit und Pflege der Grünen-Landtagsfraktion zeigte sich solidarisch mit den Apothekenteams und hob die Bedeutung der Beratung in Apotheken im Kampf gegen gesundheitsbezogene Fehlinformationen hervor.
Michael Preusch (gesundheitspolitischer Sprecher CDU-Landtagsfraktion) wandte das Dosis-Wirkungs-Prinzip auf die Veranstaltung an: Bei solch einer Dosis an Apothekenteams müsste ja nun eine Wirkung in Berlin erzielt werden. Preusch wies auch darauf hin, dass Deutschland im europäischen Vergleich schlecht mit Apotheken versorgt sei.
Jochen Haussmann (Sprecher für Gesundheitspolitik der FDP-Landtagsfraktion) bedankte sich bei den Apothekenteams für ihr Engagement und forderte den Gesundheitsminister auf: „Kalle, mach mehr Turbo“, unter anderem beim Bürokratieabbau.
Florian Wahl (Sprecher für Gesundheit und Pflege der SPD-Landtagsfraktion) würdigte den besonderen Einsatz der Apotheken in der Pandemie und versprach, die Bilder vom heutigen Protest nach Berlin zu tragen und sich für eine Anhörung im Landtag zur Apothekenvergütung einzusetzen.
Die bayerische Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) bekundete per Videobotschaft ihre Unterstützung für den Protest in Stuttgart.
Auch Bernhard Seidenath (gesundheitspolitischer Sprecher der CSU-Fraktion im bayerischen Landtag) ließ die Demonstrierenden per Videobotschaft wissen: „Wir brauchen Sie!“
Schulterschluss mit den Praxen
Wie schon beim Protest in Dortmund, suchte man auch in Stuttgart den Schulterschluss mit den Ärzt:innen und ihren Teams. Und so kamen Nicola Buhlinger-Göpfarth (Vorsitzende des Hausärzteverbandes BW) und Norbert Smetak (Vorsitzender MEDI BW) auf der Bühne zu Wort. Man kämpfe gemeinsam gegen die „systematische Sabotage der ambulanten, wohnortnahen Versorgung“, so Buhlinger-Göpfarth. Smetak empfahl Lauterbach unterdessen, doch mal einen Arzt oder Apotheker zu fragen, wenn er wissen wolle, wie eben diese Versorgung sinnvoll zu bewerkstelligen sei.
Eckart Hammer, Vorsitzender des Landesseniorenrats BW, betonte in seiner Videobotschaft unterdessen die Rolle der Apotheken für Betagte und Hochbetagte. Dort fänden diese Ansprechpartner und Vertrauenspersonen, während sie in anderen Bereichen oft digital abgehängt würden.
Als Eickmann das Publikum nach mehr als zwei Stunden verabschiedete, forderte er alle Teilnehmenden auf, die Westen, Schilder und Plakate mit nach Hause zu nehmen und für die Dekoration der Apothekenschaufenster weiterzuverwenden. Die Parole „Apotheken stärken. Jetzt!“ dürfte also in den nächsten Wochen vielerorts im Süden präsent bleiben. |
Zum Weiterschauen
Die DAZ-Redaktion hat Dr. Martin Braun, Kammerpräsident der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg und Vizepräsidentin Silke Laubscher im Video-Interview zum Protest auf dem Stuttgarter Schlossplatz befragt. Um die Videos anzusehen, können Sie den Webcode Q9YW4 auf DAZ.online eingeben. Außerdem hat die DAZ ein Video mit den Statements der Protestierenden zusammengeschnitten, dorthin gelangen Sie mit dem Webcode F2ZS2. Noch mehr Bilder vom Protest gibt es zu sehen mit dem Webcode B2DH6. Dazu den Code in die Suchfunktion auf DAZ.online eingeben.
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