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„Wir brauchen viel mehr Ökonomie“
Mit Kostendämpfung und Sparen kommt die Gesundheitspolitik nicht weit – ein Interview
DAZ: Minister Lauterbach spricht derzeit öfters davon, dass wir es im Gesundheitswesen mit der Ökonomisierung übertrieben haben. Was sagen Sie als Volkswirtschaftler und Gesundheitsökonom dazu: Brauchen wir tatsächlich weniger Ökonomie im System?
May: Einige Missstände und Fehlentwicklungen, die uns heute beschäftigen, sind das Ergebnis einer übermäßig am Ziel der Kostendämpfung orientierten Politik. Ich denke hier an Lieferengpässe, Abwanderung von Arzneimittelherstellung und der Personalmangel, insbesondere in den Kinderkliniken. Mit ökonomischem Denken hat das wenig zu tun. Daher konkret zu Ihrer Frage: Wir brauchen viel mehr Ökonomie in unserem System!
Bauer: Und Ökonomie ist eben viel mehr als Kostendämpfung bzw. Sparen. Es geht um einen möglichst effizienten Mitteleinsatz und um einen ökonomischen Rahmen, der für alle an der Versorgung beteiligten Akteure anreizverträglich ist. Kurz gesagt: Ökonomie ist der Ansatz, die vorhandenen Ressourcen so sinnvoll wie möglich zum Wohle aller einzusetzen. Wie könnte man es damit übertreiben?
DAZ: Bedeutet denn „mehr Ökonomie“, dass wir für unser Gesundheitssystem auch mehr Geld ausgeben müssen? Und was bedeutet das speziell für die Arzneimittelausgaben?
Bauer: Ob wir mehr oder weniger ausgeben sollten, lässt sich ex ante weder mit Blick auf die Gesundheits- noch die Arzneimittelausgaben sagen. Meine Vermutung wäre allerdings, dass die Gesundheitsversorgung – wenn man sie ganzheitlich im volkswirtschaftlichen System betrachtet – derzeit zumindest in bestimmten Sektoren noch unterfinanziert ist.
DAZ: Das heißt, es gibt Gesundheitsleistungen, für die wir mehr Geld als heute ausgeben sollten?
Bauer: Ja, weil der Nutzen dieser Leistungen gesellschaftlich höher ist als die Kosten. Und natürlich auch umgekehrt. Um dies zu erkennen, muss man allerdings die Dinge tatsächlich längerfristig auch aus einer gesellschaftlichen bzw. gesamtwirtschaftlichen Perspektive betrachten. Das tun wir leider viel zu selten, weil die Debatte oft von Sichtweisen einzelner Akteure dominiert wird.
„Eine konkrete Sofortmaßnahme mit Blick auf die Apotheken wäre es daher, die Erhöhung des Kassenabschlags zurückzunehmen.“
DAZ: Was bedeutet es denn konkret, wenn die Analyse zeigt, dass der Nutzen einer Gesundheitsleistung aus Sicht der Gemeinschaft die Kosten nicht übersteigt? Könnte es im Endeffekt dazu kommen, dass auch in Deutschland eine offene Priorisierung und Rationierung in der Gesundheitsversorgung Einzug hält? Wäre das ethisch vertretbar?
May: Eine offene Priorisierung ist immer noch besser als eine versteckte Priorisierung bzw. Rationierung. Die Gefahr einer versteckten Priorisierung und Rationierung liegt u. a. darin, dass sie demokratisch nicht legitimiert und ökonomisch nicht effizient ist. Damit meine ich, dass wir mitunter an Dingen sparen, obwohl sie für die Mehrheit der Menschen vorrangig sind, und dass wir zudem Ressourcen nicht so einsetzen, dass sie einen maximalen gesundheitlichen Nutzen haben. Und genau das wäre unethisch, da wir ja in diesem Fall nicht alles tun, was mit den gegebenen Mitteln möglich ist, um Menschen zu helfen.
DAZ: Gibt es Auswege bzw. Möglichkeiten, die uns helfen, vorhandene finanzielle und personelle Mittel so einzusetzen, dass wir auch künftig ohne scharfe Einschnitte in die Versorgung auskommen?
Bauer: Es ist keine Frage, dass einer Produktivitäts- und Wirtschaftlichkeitssteigerung, sprich Rationalisierung, immer der Vorrang vor Leistungseinschnitten zu geben ist. Und was die Ausschöpfung von Rationalisierungspotenzialen angeht, ist jedenfalls in der ambulanten Versorgung offensichtlich noch viel Raum nach oben gegeben. Ich möchte hier als Beispiel nur an die Tatsache erinnern, dass wir in Deutschland im internationalen Vergleich immer noch eine extrem hohe Zahl an Arztkontakten pro Kopf und pro Jahr haben, ohne dass wirklich messbar wird, ob und wie die Patienten von diesen zusätzlichen Arztkontakten profitieren.
DAZ: Welche Rolle können die Apotheken in diesem Zusammenhang spielen? Stichwort Impfung in der Apotheke: Wird durch solche Entwicklungen die tradierte Arbeitsteilung zwischen Praxen und Apotheken neu definiert bzw. wird diese Schnittstelle verschoben?
May: Die praktischen Erfahrungen mit den Impfungen in den Apotheken haben gezeigt, dass durch dieses Angebot mehr Menschen als zuvor erreicht werden, sprich, dass Impflücken kleiner werden. Genau solche Beispiele brauchen wir noch viel mehr. Und ja, das ist eine neue Arbeitsteilung zwischen Praxis und Apotheke. Aus mindestens drei Gründen braucht das System diese neue Arbeitsteilung.
DAZ: Und die wären?
May: Erstens zwingt uns die demografische Entwicklung auf Patientenseite wie aufseiten der Heilberufler, nach neuen Wegen zu suchen. Zweitens hat sich das Patientenbild im Laufe der letzten Jahrzehnte erheblich gewandelt, so dass Menschen heute nicht mehr bei jeder gesundheitlichen Frage einen Arzt sehen müssen und auch nicht wollen. Drittens haben wir inzwischen neue Erkenntnisse in der Versorgungsforschung gewonnen, die uns zeigen, welch hohen Nutzen ein niederschwelliges Versorgungsangebot haben kann. Nicht zuletzt in der Corona-Pandemie haben wir ja z. B. gelernt, dass man die Impfung zum Patienten bringen muss, anstatt darauf zu warten, dass dieser größere – zeitliche wie räumliche – Hürden überwindet, um sich impfen zu lassen.
DAZ: Sie sagen: „Wir brauchen mehr Beispiele wie die Impfungen in Apotheken.“ Wie beurteilen Sie die Diskussion um die neuen pharmazeutischen Dienstleistungen?
Bauer: Apotheken sind dazu prädestiniert, einen Beitrag zur Verbesserung der Patientenversorgung bei letztlich gleichbleibendem Ressourceneinsatz zu leisten. Und genau darauf zielt ja das aktuelle Honorierungssystem der pharmazeutischen Dienstleistungen ab. Die Eckpunkte einer angemessenen Honorierung müssen dabei immer der Nutzen der entsprechenden Leistung auf Basis von Evidenz und die tatsächlichen Kosten der Leistungserbringung sein. Beide Größen sind maßgeblich dafür, wie eine adäquate Honorierung zu gestalten ist. Dabei bedeutet adäquat immer auch, dass die Akteure – in diesem Fall die Apotheken – einen Anreiz zur Erbringung der Leistung haben, denn ohne dies wird die Leistung nicht in ausreichendem Maße erbracht und der Nutzen bleibt aus.
„Gesundheitsversorgung – wenn man sie ganzheitlich im volkswirtschaftlichen System betrachtet – ist derzeit zumindest in bestimmten Sektoren noch unterfinanziert.“
DAZ: „Neues Geld für neue Leistungen“ ist aus ökonomischer Sicht aber höchst ungünstig für die meisten Apotheken. Offensichtlich ist das System seit Jahren unterfinanziert. Das Honorar für die pharmazeutischen Dienstleistungen hilft nur bedingt weiter. Was meinen Sie?
Bauer: Meine Aussage bezog sich zunächst darauf, dass die Honorierung neuer Dienstleistungen in sich stimmig sein muss, damit sich Apotheken individuell dazu entschließen, diese anzubieten. Aber Sie haben natürlich Recht: Darüber hinaus muss der Anspruch einer ökonomisch angemessenen Honorierung für jede einzelne Minute gelten, die Apotheken darauf verwenden, ihrem gesetzlichen Versorgungsauftrag nachzukommen. Damit meine ich übrigens nicht nur im Rahmen der GKV, sondern auch bei der Wahrung der Arzneimittelsicherheit im Rahmen der Selbstmedikation. Es ist also ein großes Rad, das hier zu drehen ist. Zumindest bei den neuen Dienstleistungen sollte man hier von Anfang an alles richtig machen.
DAZ: Nochmal zurück zur Arbeitsteilung: Sehen Sie Wege, das bestehende Spannungsfeld zwischen ärztlichen und apothekerlichen Interessen zu entschärfen oder sogar aufzulösen?
May: Ja, eigentlich sogar einen ganz einfachen Weg: Miteinander sprechen und vor allem sich gegenseitig zuhören. Ich bin davon überzeugt, dass sich dann einige scheinbare Interessengegensätze zwischen den Heilberufen im Prinzip auflösen lassen. Im Grundsatz geht es doch Ärzten wie Apothekern darum, ihren Patienten bzw. Kunden möglichst gut zu helfen und diese gesund zu erhalten. Dies muss zusätzlich unter der Nebenbedingung erfolgen, dass eine angemessene und auskömmliche Vergütung der jeweiligen heilberuflichen Leistung erfolgt. Einen unüberwindbaren Zielkonflikt sehe ich hier nicht.
DAZ: Halten Sie diese Herangehensweise für das langfristige Erfolgsmodell?
May: Es gibt für beide Seiten heute und erst recht in Zukunft mehr als genug zu tun. Es kann also keinesfalls darum gehen, in Verbindung mit einer neuen Arbeitsteilung auch finanzielle Mittel von der einen auf die andere Seite zu verschieben. Es geht vielmehr darum, die Budgets zur Honorierung der Leistungen beider Heilberufe strukturell und der Höhe nach so zu gestalten, dass damit der gesellschaftliche Wert abgebildet und gleichermaßen auch die betriebswirtschaftlichen Belange der Praxen und öffentlichen Apotheken und der Unternehmergeist deren Inhaber angemessen berücksichtigt werden.
DAZ: Die Zahl der Apotheken sinkt seit Jahren kontinuierlich und die Zahl verfügbarer Arzneimittel auch. Frau Bauer, Herr Prof. May, welche Sofortmaßnahmen muss die Gesundheitspolitik einleiten, um diesem Trend entgegenzuwirken?
May: Grundsätzlich gilt die Maxime: Angebote folgen dem Preis, und der Preis folgt dem Nutzen. In unserem Fall heißt das, der Preis, den wir für Apotheken im Sinne von Honorar und Arzneimittel zu zahlen bereit sind, bestimmt mittelfristig auch das Angebot an diesen beiden „Gütern“. Und, dass wir eine neue Herangehensweise und einen ökonomischen Rahmen brauchen, damit der Nutzen einer flächendeckenden Versorgung mit Apotheken und Arzneimitteln in unserem System angemessen bewertet und bezahlt wird, war ja der Ausgangspunkt unseres Gesprächs. Eine konkrete Sofortmaßnahme mit Blick auf die Apotheken wäre es daher, die Erhöhung des Kassenabschlags zurückzunehmen.
Bauer: Für den Arzneimittelmarkt sehen Lösungen etwas komplexer aus. Im Kern müssten das Festbetragssystem und das Rabattvertragswesen so modifiziert werden, dass u. a. der Nutzen einer Versorgungssicherheit und ggf. auch Aspekte des Produktionsstandorts als Faktoren in die Preisbildung Eingang finden.
DAZ: Vielen Dank für das Gespräch. |
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