Meta-Analyse

Kaum Vorteile durch Antidepressiva bei Minderjährigen

Stuttgart - 10.06.2016, 06:05 Uhr

Was hilft bei Depressionen im Kinder- und Jugendalter? (Foto: gamelover / Fotolia)

Was hilft bei Depressionen im Kinder- und Jugendalter? (Foto: gamelover / Fotolia)


Die meisten Antidepressiva haben bei Kindern und Jugendlichen mit schweren Depressionen ein schlechtes Nutzen-Risiko-Verhältnis, wie eine Studie im Fachmagazin „Lancet“ bestätigt. Die Autoren fordern Zugang zu allen Daten, um die Risiken besser abschätzen zu können.

Die am häufigsten verschrieben Antidepressiva sind bei Kindern und Jugendlichen mit schwerer Depression ineffektiv und teilweise sogar schädlich, bestätigt eine umfangreiche Meta-Studie im Fachmagazin „The Lancet“. Von 14 Wirkstoffen bekämpft laut der Studie nur Fluoxetin die depressive Symptomatik besser als Placebo – übrigens auch der einzige Wirkstoff, der für Kinder und Jugendliche in dieser Indikation zugelassen ist.

„Das Risiko-Nutzen-Verhältnis von Antidepressiva zur Behandlung schwerer Depressionen scheint nicht mit einem klaren Vorteil für Kinder und Jugendliche einherzugehen, mit wahrscheinlich nur der Ausnahme von Fluoxetin“, erklärt Studienautor Peng Xie von der Medizinischen Universität in Chongqing, China. Damit bekräftigt die Analyse frühere Studien, die bereits vor zehn Jahren überwiegende Risiken bei manchen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern gefunden hatten. Mit seinen Kollegen empfiehlt er, dass Kinder und Jugendliche, die Antidepressiva nehmen, von Beginn der Behandlung an umfassend medizinisch beobachtet werden – unabhängig vom genauen Wirkstoff.

Teils erhebliche Risiken

Die Forscher werteten 34 Studie mit Daten von insgesamt 5260 Probanden aus. So sei Nortriptylin weniger wirksam als sieben andere Antidepressiva und Placebo. Imipramin, Venlafaxin und Duloxetin seien am schlechtesten vertragen worden, wie sie an einer signifikant erhöhten Rate von Studienabbrechern feststellten. Venlafaxin erhöhe im Vergleich zu Placebo und fünf anderen Antidepressiva das Risiko von Suizidgedanken – anders als bei Erwachsenen.

Die Autoren warnen jedoch, dass ihre 34 Studien und Daten von insgesamt 5260 Probanden umfassende Analyse nicht alle Risiken identifizieren konnte. Grund sei die kleine Anzahl und das schlechte Design der verfügbaren klinischen Studien. Mit zehn Studien schrieben sie fast jeder Dritten ein hohes Risiko für statistische Verzerrungen zu, nur vier ein niedriges. Außerdem seien nicht alle Ergebnisse veröffentlicht worden.

„Ohne Zugang zu den Ergebnissen auf Patienten-individueller Ebene können die genauen Effekte nur schwer abgeschätzt werden – und wir können nicht zuversichtlich sein, dass die Informationen aus veröffentlichten und unveröffentlichten Studien stimmen“, sagt der Studienautor Andrea Cipriani von der Universität Oxford anlässlich der Veröffentlichung.

Suizid-Ereignisse nicht vollständig bekannt

Der australische Jugendpsychiater Jon Jureidini von der Universität in Adelaide fragt sich in einem Leitartikel in „The Lancet“, wieviel mehr Suizid-Ereignisse bekanntgeworden worden wären, wenn die jeweiligen Studienleiter die Ergebnisse einzelner Patienten veröffentlicht hätten. Beispielsweise seien in vier Studien, die Paroxetin mit Placebo verglichen haben, nur 3 von 413 Ereignisse in der Patientengruppe berichtet worden, die den Wirkstoff bekam. „Dies ist nicht plausibel, da eine zweite Analyse von individuellen Daten auf Patienten-Ebene in nur einer der Studien zehn Ereignisse bei 93 Patienten fand, die Paroxetin bekamen“, erklärt Jureidini.

Daher gibt es aus seiner Sicht wenig Anlass zu denken, dass Antidepressiva bei jungen Menschen besser als gar keine Behandlung seien. „Die fehlenden und verfälschenden Veröffentlichungen führen zu dem Ergebnis, dass die Pharmaka in dieser Altersgruppe– möglicherweise auch Fluoxetin – wahrscheinlich gefährlicher und weniger effektiv sind als bisher bekannt“, sagt Jureidini. Auch warnte er gegenüber dem Fachdienst STAT vor Werbeversprechen und ungerechtfertigten Hoffnungen, es gäbe eine gute und einfache Lösung für psychologische Probleme in der Jugend. „Wir müssen sie sehr ernst nehmen, aber wir sollten sie nicht als Krankheit deklarieren, was sie normalerweise nicht sind.“

Probleme schon länger bekannt

Den Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Jörg M. Fegert überraschen die nun veröffentlichten Ergebnisse nicht – für die klinische Praxis ergäbe sich nicht viel Neues. „Schon vor Jahren hatte nach der tatsächlichen Aufdeckung des Antidepressiva-Skandals mit der Unterdrückung negativer Befunde bei sogenannten Failed Trials im Fach eine breite Debatte eingesetzt“, erklärt Fegert gegenüber DAZ.online. „Schon damals gab es Meta-Analysen, die klar zeigten, dass Fluoxetin das einzig durch hinreichend viele Studien nachweislich wirksame Antidepressivum der SSRI-Klasse im Kindes- und Jugendalter ist.“

Die großen Zulassungsbehörden FDA in den USA, die englische Zulassungsbehörde und auch die europäische Zulassungsbehörde reagierten damals: Die englische Behörde sprach eine explizite Kontraindikation für den Einsatz von Paroxetin bei Minderjährigen aus, die FDA erließ im Jahr 2004 eine Warnung. Die Verwendung von Antidepressiva nahm zwischen 2005 und 2012 insgesamt jedoch weiter zu: Der Anteil US-amerikanischer Kinder und Jugendlicher im Alter von bis zu 19 Jahren, die Antidepressiva nahmen, stieg in dem Zeitraum von 1,3 auf 1,6 Prozent. In Deutschland stieg die Zahl der Verschreibungen in dem Zeitraum um knapp 50 Prozent.

Studien und Daten fehlen

Der Psychiater Maurizio Fava vom MIT in Boston befürchtet hingegen, dass die neue Meta-Analyse zu einem verzerrten Bild führen könnte, wie er STAT sagte – da zu Fluoxetin deutlich mehr Studien als zu den anderen Wirkstoffen vorliegen. Viele der anderen Arzneimittel würden seiner Einschätzung nach auch wirksamer sein als ein Placebo, wenn die Effekte besser berücksichtigt worden wären. Da die Autoren der „Lancet“-Studie ihre Analysen komplett veröffentlichten, dürfte es spannend bleiben, ob andere Auswertungen tatsächlich zu anderen Schlüssen kommen.

Für Fegert untermauere die nun vorgelegte Studie, dass mehr altersgruppenspezifische Daten zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen vorgelegt werden müssen. So verlangt die EMA bei der Zulassung neuer Arzneimittel inzwischen automatisch Studien bei Kindern, doch sei die Rekrutierung von Probanden oft schwierig. „Der Forderung nach mehr patientenindividuellen Daten kann man sich deshalb nur anschließen“, erklärt der Psychiater.

Nötiger Paradigmenwechsel

Jureidini begründet dies mit dem Anrecht von weltweit hunderttausenden Probanden, dass ihre Studienteilnahme zu einem maximalen Nutzen führen muss. „Wir Ärzte und Forscher erfüllen unsere Verpflichtung gegenüber Probanden und unseren Patienten nicht“, sagt er. „Wir werden nur dann erfolgreich sein, wenn Wissenschaftler wie Cipriani und seine Kollegen in der Lage sind, individuelle Ergebnisse auf Patienten-Ebene analysieren zu können.“ Behauptungen, dass dies aufgrund des Rechts auf geistiges Eigentum und wegen Datenschutzproblemen nicht möglich sein, weist Jureidini aufs Schärfste zurück.

Auch die WHO habe zu einem Paradigmenwechsel aufgerufen. „Der Schutz persönlicher Daten muss durch Gesetze und technologische Maßnahmen gewährleistet werden, aber Verzögerungen bei der Einführung verantwortungsbewusster Richtlinien für den Austausch von Daten wirken sich auf die medizinische Forschung und die Behandlungsergebnisse negativ aus“, erklärt auch Cipriani.


Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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