Zeitungsbericht über Kassenfinanzierung

Machen Kassen ihre Patienten kränker als sie sind?

Stuttgart - 20.09.2016, 17:30 Uhr

Laut „Welt am Sonntag“ werden Diagnosen oftmals optimiert, damit Kassen höhere Summen aus dem Gesundheitsfonds erhalten. (Foto: dpa)

Laut „Welt am Sonntag“ werden Diagnosen oftmals optimiert, damit Kassen höhere Summen aus dem Gesundheitsfonds erhalten. (Foto: dpa)


Um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu bekommen, lassen viele Krankenkassen ihre Versicherten offenbar möglichst krank erscheinen, wie die „Welt am Sonntag“ anhand von kasseninternen Unterlagen zeigt. Der Vorwurf: Mit Tricks und teils auf Kosten ihrer Patienten kämpfen die Kassen um Milliardensummen.

Der Risikostrukturausgleich soll für Gerechtigkeit sorgen: Da manche Krankenkassen mehr erkrankte oder ältere Patienten als ihre Konkurrenten versichern, erhalten sie aufgrund eines 1994 eingeführten Finanzausgleichs namens Morbi-RSA zusätzliches Geld, das die unterschiedlichen Belastungen ausgleichen soll. Neben einer Grundpauschale erhalten Kassen Zulagen, die vom Alter und von Erkrankungen ihrer Patienten abhängen. Gleichzeitig müssen sie aber auch mit Abzügen rechnen, für besonders gesunde Patienten, die selten zum Arzt gehen.

Doch laut „Welt am Sonntag“ greifen sie teilweise zu zweifelhaften Mitteln, um möglichst große Summen abzugreifen – indem sie ihre eigenen Versicherten möglichst krank erscheinen lassen. Die Zeitung berichtet in diesem Zusammenhang über den Kassendienstleister „Anycare“ in Stuttgart, der nach einem der Zeitung vorliegendem Vertrag über ein Callcenter ausgewählte Versicherte anruft. Mitarbeiten versuchen sie zu überzeugen, baldmöglichst einen Arzt aufzusuchen. Dabei geht es womöglich nicht um sinnvolle Vorsorge, sondern ums Geld: Auch für Anrufe bei beschwerdefreien Patienten bekommt die Firma dem Bericht zufolge zwischen 29 und 39 Euro von der Krankenkasse. Welche Kassen diesen Service in Anspruch nehmen, ist nicht bekannt.

Reinfarkt-Risiko bringt knapp tausend Euro

In Unterlagen rechnet die Dienstleistungsfirma laut der Zeitung vor, dass beispielsweise bei Personen nach einem „milden Herzinfarkt mit nur geringer Beeinträchtigung“ einiges Geld zu holen ist: Wenn der Arzt ein „Reinfarkt-Risiko“ feststellt und zweimal jährlich eine „behandlungsbedürftige Folge nach Herzinfarkt“ diagnostiziert, gebe es laut „Welt am Sonntag“ 998 Euro mehr. Die Erfolgsquote betrage 12,8 Prozent.

Der Kassendienstleister „Anycare“ stellt in dem zitierten Schreiben eine Rechnung auf, von der jeder Krankenkassen-Chef träumen dürfte: Die Ausgaben für die Arztbesuche und eventuell verschriebene Arzneimittel seien im Vergleich zu den oft vierstelligen jährlichen Ausgleichszahlungen aus dem Gesundheitsfonds gering. Laut dem Kassendienstleister fallen für günstige Generika nur wenige Euro an, bei Arthrose verschreibe der Arzt „meist nur Ibuprofen“ – dazu komme noch das Arzthonorar. Auch in diesem Zusammenhang mangelt es allerdings an Zahlen: Dem Artikel ist nicht zu entnehmen, welche Kasse wie viel gespart hat durch solche Abrechnungstricks. Gegenüber der „Welt am Sonntag“ schrieb die Firma auf Anfrage, bei ihrer Arbeit ginge es ausschließlich um eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Patienten.

Milliardensumme führt zu Angst und Benachteiligung

Die Zeitung zitiert eine weitere brisante Rechnung einer Krankenkasse, nach der Kassen rund eine Milliarde Euro für Maßnahmen ausgeben, ihre Patienten möglichst krank erscheinen zu lassen – ohne dass dies irgendeinen sonstigen Nutzen hätte. Welche Krankenkasse die Überschlagsrechnung erstellt hat, beschreibt die Welt am Sonntag allerdings nicht. Ebenso bleibt unklar, wie diese Krankenkasse die Ausgaben ihrer Konkurrenten so genau einschätzen kann.

Allerdings zitiert die Zeitung Jens Baas, Vorstand der Techniker Krankenkasse, der die Probleme zumindest teilweise eingesteht. „Es ist der gleiche Effekt, wie wenn im Kino einer aufsteht: Alle machen mit – müssen sie auch, wenn sie etwas sehen oder bei den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht ganz abgehängt werden wollen“, erklärte er. Eine ähnliche Auffassung hatte Baas übrigens kürzlich im Zusammenhang mit den Zyto-Ausschreibunge geäußert: Eigentlich seien die Zyto-Verträge für ihn nicht die optimale Lösung, er mache aber mit, weil ihm die anderen Kassen keine Chance zu ließen.

Ärzte werden honoriert

Doch damit nicht genug. Die Vorwürfe der Welt am Sonntag gehen noch weiter. Denn für einige Kassen sind laut der Zeitung sogar sogenannte „Kodierberater“ unterwegs. Hintergrund: Einige Kassen schließen seit 2014 „Betreuungsstrukturverträge“ mit den Kassenärztlichen Vereinbarungen ab, die gleichfalls für einen besseren Geldabfluss aus dem Gesundheitsfonds sorgen können. Ärzte erhalten demnach einige Euro pro Diagnose, die sie stellen. Die Techniker Krankenkasse soll niedergelassenen Ärzten in Schleswig-Holstein für eine Diagnose sogar 25 Euro zahlen, wenn einem Patienten sechs oder mehr Diagnosen aus unterschiedlichen Diagnosegruppen gestellt werden. „Betreuungsstrukturverträge sind ein Übel und erzeugen Druck“, erklärt die Kasse selber, verweist aber erneut auf den Gruppenzwang.

Die TK beschwert sich seit Jahren über Ungerechtigkeiten im System der Krankenkassenfinanzierung. Aus Sicht der Ersatzkassen sind es inbesondere die AOKs, die aufgrund ihres Versichertenklientels von den Chroniker-Zuschlägen profitieren. Ein Sprecher der Krankenkasse befürchtet nun, dass das derzeitige Vorgehen im Kassenlager negative Langzeitwirkungen haben könnte: „Wir sind gespannt, wann der erste Patient keine Leistung aus seiner Berufsunfähigkeitsversicherung bekommt, weil für ihn Diagnosen gestellt wurden, von denen er gar nichts wusste und die er demzufolge bei Abschluss der Versicherung nicht angegeben hat“, erklärte er gegenüber der „Welt am Sonntag“.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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