Bundesverfassungsgericht zum Tarifeinheitsgesetz

Mehr Schutz für kleinere Gewerkschaften

Berlin - 12.07.2017, 10:20 Uhr

Die Ärzte-Gewerkschaft Marburger Bund war gegen das Tarifeinheitsgesetz vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. (Foto: Klaus Eppele / stock.adobe.com)

Die Ärzte-Gewerkschaft Marburger Bund war gegen das Tarifeinheitsgesetz vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. (Foto: Klaus Eppele / stock.adobe.com)


Der Gesetzgeber muss das Tarifeinheitsgesetz überarbeiten, mit dem er die Macht kleinerer Gewerkschaften einschränken wollte. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Die Berücksichtigung der Interessen von Angehörigen kleiner Berufsgruppen sei nicht hinreichend gesichert, so die Richter. Auch die Apothekergewerkschaft Adexa hatte gegen das Gesetz protestiert. Noch mehr betroffen sind allerdings Ärzte-Gewerkschaften.

Vor rund zwei Jahren beschloss der Gesetzgeber das Tarifeinheitsgesetz. Anlass gaben ihm die weitreichenden Folgen der Streiks kleiner Gewerkschaften wie die der Lokführer und Piloten. Das Gesetz ordnet an, dass im Fall, dass verschiedene Tarifverträge miteinander kollidieren, derjenige der Gewerkschaft verdrängt wird, der weniger Mitglieder im Betrieb hat. Zudem sieht es ein gerichtliches Beschlussverfahren vor, wie diese Mehrheit festzustellen ist. Der Arbeitgeber, der Tarifverhandlungen aufnehmen will, muss dies den anderen tarifzuständigen Gewerkschaften bekanntgeben. Sie sind mit ihren tarifpolitischen Forderungen anzuhören. Wird ihr Tarifvertrag im Betrieb verdrängt, hat die Gewerkschaft einen Anspruch auf Nachzeichnung des verdrängenden Tarifvertrags.

Das Gesetz war bei zahlreichen kleineren Gewerkschaften auf Ablehnung gestoßen. Beispielsweise auch bei der Ärzte-Gewerkschaft Marburger Bund und der Apotheken-Gewerkschaft Adexa. Wobei Letztere eher grundsätzliche Kritik vorbrachte, aber nicht selbst betroffen war. Denn in der kleinen Branche der Apothekenmitarbeiter ist Adexa die einzige Gewerkschaft. Doch der Marburger Bund konkurriert beispielsweise mit ver.di und zog deshalb – ebenso wie andere kleine Gewerkschaften, ein Spitzenverband sowie ein Gewerkschaftsmitglied – vor das Bundesverfassungsgericht. Sie alle rügten eine Verletzung der grundgesetzlich verbürgten Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG). Dieses Grundrecht schützt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen – insbesondere die Tarifautonomie und Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind.

Grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar

Mit dem am gestrigen Dienstag verkündeten Urteil hat der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Allerdings: Die Auslegung und Handhabung des Gesetzes müsse der in Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich geschützten Tarifautonomie Rechnung tragen. Dabei vermittle dieses Grundrecht aber „kein Recht auf unbeschränkte tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen”.

Auf der anderen Seite seien staatliche Maßnahmen, die darauf zielen, bestimmte Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen herauszudrängen oder bestimmten Gewerkschaftstypen die Existenzgrundlage zu entziehen, nicht mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar.

Das Tarifeinheitsgesetz ist aus Sicht der Mehrheit der Senatsmitglieder nur in einem Punkt unvereinbar mit der Verfassung: Der Gesetzgeber habe keine Vorkehrungen getroffen, die sichern, dass in einem Betrieb die Interessen von Angehörigen kleinerer Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, hinreichend berücksichtigt werden. So sei nicht auszuschließen, dass auch im Fall der Nachzeichnung deren Arbeitsbedingungen und Interessen mangels wirksamer Vertretung in der Mehrheitsgewerkschaft unzumutbar übergangen werden. Hier hält das Bundesverfassungsgericht nun den Gesetzgeber an, Abhilfe zu schaffen. Er habe dabei einen weiten Gestaltungsspielraum – und Zeit  bis zum 31. Dezember 2018.

Marburger Bund fühlt sich „ermutigt”

Rudolf Henke, 1. Vorsitzender des Marburger Bundes, spricht von einem Erfolg: „Auch wenn unsere Verfassungsbeschwerde nicht zu einer völligen Aufhebung des Gesetzes geführt hat, sehen wir uns durch die jetzt formulierten Spielregeln ermutigt, weiterhin uneingeschränkt von unserem Grundrecht zur Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen Gebrauch zu machen“, erklärte er. Das heißt: Der Marburger Bund wird auch in Zukunft als eigenständige Gewerkschaft Tarifverträge mit Arbeitgebern im Gesundheitswesen vereinbaren. In den nächsten Wochen, so Henke, werde man das Urteil genauer analysieren und beraten, ob und welche organisationspolitischen Konsequenzen der Marburger Bund daraus ziehen wird.

Auch Bundesärztekammer-Präsident Frank Ulrich Montgomery, der selbst lange Jahre Chef des Marburger Bundes war, hätte sich zwar eine völlige Aufhebung des Gesetzes gewünscht – aber immerhin sei nun klar, dass die Rechte berufsspezifischer Gewerkschaften besser geschützt werden müssen. Montgomery sieht nun Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles „zum Nachsitzen verdonnert“. Dabei betont er, dass die Regelungen des Tarifeinheitsgesetz nicht nur schlecht für die betroffenen Beschäftigten seien: „Was den ärztlichen Bereich angeht, schlagen sie auch voll auf die Patientenversorgung durch. Denn wenn man Ärzten die Möglichkeit nimmt, wirksam für angemessene Arbeitsbedingungen zu streiten, bleibt das natürlich nicht ohne Folgen für die Versorgung“.

Die Apothekengewerkschaft Adexa bedauert das Urteil. Um eine weitergehende Bewertung vorzunehmen, will sie zunächst die Urteilsgründe prüfen.

Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2017, Az.: 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1477/16, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1588/15



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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