Neue Analyse des BPI

Über die Schwächen der frühen Nutzenbewertung

Berlin - 13.07.2017, 09:10 Uhr

Unzufrieden: Ein neues Periodikum des BPI offenbart einige Schwächen der frühen Nutzenbewertung. (Foto: dpa)

Unzufrieden: Ein neues Periodikum des BPI offenbart einige Schwächen der frühen Nutzenbewertung. (Foto: dpa)


Mit seinen neuen „AMNOG-Daten 2017“ liefert der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie eine umfangreiche Datensammlung zu den bisherigen Verfahren der frühen Nutzenbewertung für neue Arzneimittel. Dabei werden die Schwächen der Methode deutlich. Etwa sechseinhalb Jahre nach Einführung des Verfahrens ist immer noch niemand so richtig zufrieden mit der Nutzenbewertung.

Die stetig zunehmende Zahl der frühen Nutzenbewertungen für neue Arzneimittel macht es immer schwieriger, die Ergebnisse zu überschauen. Damit fällt es auch schwer, das Verfahren, die anschließenden Preisverhandlungen und die Folgen für die Patientenversorgung zu bewerten. Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) hat daher ein neues Periodikum begründet, das die Effekte des Bewertungsprozesses systematisch verfolgen soll. Die erste Ausgabe ist am Mittwoch erschienen. Die „AMNOG-Daten 2017“ beschreiben die 228 Bewertungsverfahren für neue Arzneimittel, die bis Ende 2016 abgeschlossen wurden. Die fachliche Analyse stammt von den Gesundheitsökonomen Prof. Dieter Cassel und Prof. Volker Ulrich.

Sehr oft kein Zusatznutzen gefunden

Bei den 228 Bewertungsverfahren erkannte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in 130 Fällen (57 Prozent) einen Zusatznutzen für mindestens eine Teilpopulation, in 98 Fällen (43 Prozent) dagegen nicht. Bezogen auf die untersuchten 486 Subgruppen fand er in 296 Gruppen (60,9 Prozent) keinen Zusatznutzen. Bezogen auf die Anzahl der potenziell zu behandelnden Patienten lautete das Ergebnis sogar für 75,5 Prozent der Patienten „kein Zusatznuten“. Daher richten die Autoren der Broschüre ein besonderes Augenmerk auf diese Kategorie. Auffällig ist, dass die meisten Präparate ohne Mehrwert nicht etwa wegen erwiesener Nachteile so schlecht bewertet wurden, sondern weil dem G-BA schlicht zu wenig Daten vorlagen: Nur für 34 (11,5 Prozent) von 296 Subgruppen wurde das Ergebnis „kein Zusatznutzen“ aus den bewerteten Studienergebnissen abgeleitet. In allen anderen Fällen fehlten Nachweise oder die vorgelegten Daten wurden als unvollständig oder ungeeignet eingestuft. Damit sei nicht nachgewiesen, dass kein Zusatznutzen besteht, sondern es fehle nur der Nachweis, dass es einen Zusatznutzen gibt.

Unterschiede zwischen Indikationen

Zwischen den Indikationen bestehen deutliche Unterschiede. In der Onkologie wurde für 33,7 Prozent der potenziell betroffenen Patienten kein Zusatznutzen festgestellt, bei Stoffwechselerkrankungen betrifft dies dagegen über 80 Prozent der Patienten. Mit der umfangreichen Analyse zu diesen beiden besonders häufigen Indikationsgruppen liefert die Broschüre Material für die zunehmende Diskussion über die mögliche Anreizwirkung dieser Bewertungen. Denn wenn sich methodisch bedingt der Zusatznutzen für onkologische Arzneimittel insbesondere im palliativen Stadium besser nachweisen lässt als bei lang andauernden chronischen Krankheiten, könnte dies einen negativen Einfluss auf die künftige Forschung zu großen Volkskrankheiten haben.

Weitere Daten beziehen sich auf die Ergebnisse von Neubewertungen, und es wird auf Studien verwiesen, die die deutschen Bewertungen mit den Entscheidungen ausländischer Behörden vergleichen. Demnach können sich die Bewertungen durch neue Informationen erheblich ändern. Außerdem können die teilweise abweichenden Bewertungsmaßstäbe in anderen Ländern zu ganz anderen Ergebnissen führen.

Folgen der Preisverhandlungen

Auch zu den Preisverhandlungen nach der frühen Nutzenbewertung bietet die Broschüre Daten. Dazu werden 137 Arzneimittel betrachtet. Davon wurden vier Arzneimittel einer Festbetragsgruppe zugeordnet, in 13 Fällen zog der Hersteller sein Produkt vor der Preisverhandlung aus dem deutschen Markt zurück (Opt-out). In 120 Fällen wurden nach dem G-BA-Beschluss zum Zusatznutzen Erstattungsbeträge zwischen Kassen und dem jeweiligen Hersteller verhandelt oder festgelegt, davon in 99 Fällen auf dem Verhandlungsweg. In einigen Fällen ohne Einigung setzten die Hersteller ihre Arzneimittel außer Vertrieb. Andere Arzneimittel wurden gar nicht erst in Deutschland eingeführt.

Lernendes System gefordert

Letztlich plädieren die Autoren dafür, das Bewertungsverfahren stärker als lernendes System zu interpretieren, um Steuerungsproblemen, umstrittenen Bewertungen und Versorgungslücken zu begegnen. Probleme sehen sie in der Anreizwirkung für die Forschung, in der Subgruppenbildung, im Umgang mit der Kategorie „kein Zusatznutzen“ und bei den Schiedsstellenentscheidungen zu den Preisen. Das Verfahren laufe Gefahr, zu einer „vierten Hürde“ für Innovationen zu werden, die gesundheitspolitisch nicht gewollt ist. Zudem erinnern die Autoren daran, dass das Verfahren keine umfassende gesundheitsökonomische Evaluation darstellt. Eine solche Evaluation empfehlen die Autoren jedoch als Grundlage für die Preisverhandlung.

Kassen und Hersteller an vielen Stellen weiterhin uneinig

Erst kürzlich hatte der Gesetzgeber das Verfahren der frühen Nutzenbewertung mithilfe des Arzneimittelversorgungs-Stärkungsgesetzes (AMVSG) an einigen Stellen angepasst. Das AMVSG war größtenteils das Ergebnis des Pharmadialogs zwischen Pharmaindustrie und Bundesregierung. Und so konnten sich auch einige Forderungen der Hersteller durchsetzen. Unter anderem sollen Kinderarzneimittel von der Bewertung ausgeschlossen werden. Außerdem ist es nun in Einzelfällen möglich, bei der Vereinbarung von Erstattungsbeträgen bei nicht belegtem Zusatznutzen von der Vorgabe abzuweichen, dass der Erstattungsbetrag nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen darf als die wirtschaftlichste Vergleichstherapie.

Aber auch die Krankenkassen konnten sich mit einigen zentralen Forderungen durchsetzen – obwohl sie beim Pharmadialog gar nicht dabei waren. So wurde aus dem Gesetz gestrichen, dass die Preise neuer Arzneimittel vertraulich behandelt werden sollen. Außerdem wurde das Preismoratorium erneut bis 2022 verlängert. Trotzdem ist mit dem Status quo der frühen Nutzenbewertung immer noch niemand so richtig zufrieden: Die Pharmaindustrie beschwert sich – wie oben beschrieben – über die Systematik der Bewertungen, insbesondere die sogenannten „Mischpreise“ sorgen immer wieder für Aufregung. Die Krankenkassen hingegen meinen nach wie vor, dass Hersteller auch im ersten Jahr nach der Zulassung eine Preisregulation brauchen, um zu hohe Preise zu verhindern.



Dr. Thomas Müller-Bohn (tmb), Apotheker und Dipl.-Kaufmann
redaktion@daz.online


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