Valproat

EMA hört erstmals Öffentlichkeit zu Arzneimittel-Risiken

London - 05.10.2017, 07:00 Uhr

In Europa soll es tausende Betroffene geben, deren Mütter in der Schwangerschaft Valproat genommen haben. (Foto: picture alliance / maxppp)

In Europa soll es tausende Betroffene geben, deren Mütter in der Schwangerschaft Valproat genommen haben. (Foto: picture alliance / maxppp)


Anlässlich des Skandals um Fehlbildungen des Epilepsie-Mittels Valproat in der Schwangerschaft hat die Europäische Arzneimittelagentur zum ersten Mal Vertreter verschiedener Verbände in einer öffentlichen Anhörung befragt. Patientenvertreter, Hersteller Sanofi sowie Apotheker lieferten Vorschläge, wie Risiken für Frauen zukünftig vermieden werden können.

In ganz Europa haben mögliche Fehlbildungen und kognitive Einschränkungen von Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft das Antiepileptikum Valproat nahmen, für Entsetzen gesorgt. In Frankreich, wo zwischen 2007 und 2014 rund 15.000 Frauen während der Schwangerschaft das Arzneimittel genommen haben sollen, beschloss das Parlament im vergangenen Jahr, Betroffene mit einem Fonds zu unterstützen. Arzneimittelbehörden haben sich schon mehrfach mit dem Thema auseinandergesetzt, Apotheker dürfen in Deutschland Valproat nur noch mit einer Patientenkarte aushändigen.

Seit einigen Monaten läuft bei der Europäischen Arzneimittelagentur EMA ein Anhörungsverfahren zu dem Verfahren. In der vergangenen Woche lud die Behörde zu einem Termin in London, eine Videoaufzeichnung ist auch online verfügbar. „Ich fühle mich sehr geehrt, die erste öffentliche Anhörung zur Arzneimittelregulierung in Europa zu eröffnen“, erklärte EMA-Chef Guido Rasi zu Beginn. Diese passe zur langen Tradition der Behörde, Patienten einzubeziehen – und sei auch der letzte Schritt der Pharmakovigilanz-Gesetzgebung der EU. Dies bekräftigte EU-Parlamentarierin Linda McAvan, die die Gesetzgebung als Berichterstatterin mit koordiniert hatte. „Wir wollten ein System öffentlicher Anhörungen“, sagte sie. Die Vorsitzende des Pharmakovigilanzausschusses (PRAC), June Raine, betonte, dass das Komitee sehr von Patientenerfahrungen profitieren könne.

Wie Vertreter verschiedener Betroffenenverbände erklärten, reichen die bisherigen Verschreibungs-Restriktionen, Änderungen in der Fachinformation sowie Informationen für Patienten noch nicht aus. Eine Befragung habe kürzlich ergeben, dass 70 Prozent aller Frauen nicht über die Risiken für Föten aufgeklärt wurden, sagte Catherine Cox von der britischen „Fetal Anti-Convulsant Support Association“. Sie betonte, dass das Problem schon sehr lange bekannt sei: Cox erklärte, dass das britische Komitee für die Sicherheit von Arzneimitteln schon 1973 Informationen an Ärzte verschickt hätte – mit der Anweisung, diese nicht an ihre Patienten weiterzugeben. „Diese Warnungen hätten schon 1974 gegeben werden können“, kritisierte sie bei der Anhörung.

Hunderte Familien klagen

Marine Martin, Präsidentin eines französischen Verbands betroffener Eltern, sagte, dass es rund 4900 Betroffene gebe. „Die Situation der Opfer bleibt extrem schwierig“, betonte sie – seit 2012 hätten 1500 Familien juristische Schritte eingeleitet. Hersteller Sanofi würde eigene Verantwortlichkeiten abstreiten und stattdessen die französische Arzneimittelbehörde beschuldigen, während veraltete Informationen verbreitet würden.

Laut dem französischen Gesundheitsministerium hätten 14.322 schwangere Frauen unter Valproat nur 8701 Kinder lebend geboren, sagte Martin. Noch im Februar 2017 hätten Pariser Ärzte vielfach die aktuellen Empfehlungen der EMA noch nicht gekannt. Sie kritisierte auch, dass die EMA einen optischen Hinweis auf der Arzneimittelverpackung 2014 abgelehnt habe. „Die Anzahl der Todesfälle unter Valproat ist sehr groß“, erklärte sie. 

„Familien wurden von Sanofi und Regierungen im Stich gelassen“

Auf der Anhörung sprach mit Branwen Mann auch eine junge betroffene Frau, deren Mutter während der Schwangerschaft Valproat nahm. „Jeden Tag kämpfen wir mit komplexen, lebens-limitierenden und seltenen Gesundheitsproblemen“, sagte die Britin. Der älteste bekannte Betroffene sei mit 46 in einem Heim für Demenzkranke. „Die Familien wurden von Sanofi, den Regierungen und dem nationalen Gesundheitsdienst im Stich gelassen“, erklärte sie. Nun müssten sie um medizinische Unterstützung und Behindertenhilfe kämpfen.

Die Ignoranz und die fehlende Bildung sei so schlimm wie die Krankheit selber, betonte Mann. Ein Hausarzt aus ihrer Gegend habe erst vor fünf Wochen die aktuellen Informationen zu Valpraot bekommen, in Apotheken sei noch nichts angekommen. Mann schlug vor, dass in der Software von Ärzten und Apothekern eine rote Lampe aufleuchten sollte, wenn sie das Mittel verschreiben oder abgeben. „Zu wissen, dass es hätte verhindert werden können, ist herzensbrechend“, erklärte sie. Ihr sei kürzlich gesagt worden, dass sie jederzeit sterben könnte. „Ich stehe hier als Repräsentantin des angerichteten Schadens“, erklärte sie. „Wenn ich von hier weggehe, vertraue ich darauf, dass Sie die richtigen Entscheidungen treffen.“

Sanofi-Vertreter ging nicht auf die Vorwürfe ein

Als Vater fühle er mit den Patienten, die ihre Geschichten geteilt haben, erklärte Eric Teo, der bei Sanofi für die Arzneimittelsicherheit zuständig ist. Basierend auf den besten verfügbaren Daten sei klar, dass es ein erhöhtes Risiko für vorgeburtliche Fehlbildungen wie auch kognitive Beeinträchtigungen gebe. Die Frage, die auf der Hand liege, sei: Warum verschreibt ein Arzt Valproat für eine schwangere Frau?

Allerdings sei das Arzneimittel als lebensrettendes Arzneimittel weithin akzeptiert – und auch auf der WHO-Liste der essenziellen Arzneimittel. Für manche Frauen ist es die einzige Behandlungsmöglichkeit, sagte Teo. Er ging nicht näher auf die gravierenden Vorwürfe gegen Sanofi ein, sondern sagte nur allgemein, dass die Firma immer die aktuellsten wissenschaftlichen Informationen kommuniziert habe. Zwar habe sich das Verschreibungsverhalten für Frauen im gebärfähigen Alter in den letzten Jahren noch nicht geändert – doch immerhin habe sich die Anzahl von Schwangerschaften unter Valproat seit 2014 halbiert, betonte Teo.

Beratung auch durch Apotheker wichtig

Als Lösungsansätze führte der Sanofi-Vertreter an, dass Ärzte ihre Patientinnen einmal im Jahr Aufklärungsunterlagen unterschreiben lassen sollten. Außerdem könnten regelmäßige Schwangerschaftstests helfen, sofern keine ausreichende Verhütungsmethode eingesetzt wird – sowie Hinweise in der Software von Ärzten und Apothekern. Teo erklärte, man müsse aber auch sehen, dass für Frauen ohne andere Behandlungsmöglichkeit ein echtes Dilemma bestünde.

Jurate Svarcaite vom Apotheker-Dachverband “Pharmaceutical Group of the European Union” brachte sich für die 400.000 europäischen Pharmazeuten ein, die in 160.000 Apotheken tätig sind. „Wir sind die Heilberufler, die Patienten als letztes sehen, bevor sie die Arzneimittel nehmen“, erklärte sie. Svarcaite verwies auf ein Best-Practice-Paper, das ihr Verband zur Pharmakovigilanz und Risikominimierung herausgegeben hat.

Neben Software-Lösungen betonte sie, dass Beratungen von Apothekern sowohl bei der erstmaligen Arzneimittel-Abgabe wesentlich seien – wie auch wiederkehrende Beratungen, wie sie in einigen EU-Ländern Patienten mit Mehrfachmedikation halbjährlich angeboten werden. „Warum passiert dies nicht auch bei Frauen mit Valproat?“, fragte sie. Alle Heilberufler trügen zusammen eine gewisse Verantwortung – daher bedürfe es wiederholter Information der Patientinnen, wie auch mehr Zusammenarbeit. Gleichzeitig setze sie sich für digitale Patientenakten ein, die auch von Apothekern sowie Patienten eingesehen werden können – sowie dafür, dass in Ausschüssen von Arzneimittelbehörden mehr Praktiker sitzen. „Ich denke, dass unsere Erfahrungen und Ratschläge sehr wertvoll sind, um voranzukommen“, betonte Svarcaite. 



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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