Weltweite Untersuchung

Nicht mehr als fünf Minuten beim Arzt, dafür aber mehr Verschreibungen

Remagen - 20.11.2017, 07:00 Uhr

Wie viel Zeit nehmen sich Ärzte für ihre Patienten? (Foto: gina sanders / stock.adobe,com)

Wie viel Zeit nehmen sich Ärzte für ihre Patienten? (Foto: gina sanders / stock.adobe,com)


Haben Sie mal die Zeit gestoppt, wenn Sie bei Ihrem Hausarzt waren? Eigentlich ist es gefühlt doch immer zu kurz, oder? Aber länger als fünf Minuten wahrscheinlich schon. Damit wären deutsche Patienten immer noch besser dran als die Hälfte der Weltbevölkerung. Dies hat eine umfangreiche Auswertung von Daten aus 67 Ländern ergeben. 

In der halben Welt dauern Besuche von Patienten bei ihrem Hausarzt nicht länger als fünf Minuten. Dies hat die größte internationale Studie ihrer Art ergeben, die jetzt online im British Medical Journal (BMJ) veröffentlicht wurde.

Um die potenziellen Auswirkungen der Dauer von Arztbesuchen in der Primärversorgung auf Patienten und das Gesundheitssystem zu ermitteln, hat ein Forscherteam von den Universitäten von Cambridge, Oxford, Edinburgh, Porto und Helsinki sowie vom Imperial College London umfangreiche Datenmengen durchforstet. Konkret sichtete die Gruppe 178 relevante Studien aus 67 Ländern mit mehr als 28,5 Millionen Arztbesuchen. Die Publikationen erstreckten sich auf den Zeitraum von 1946 bis 2016 und schlossen auch sogenannte „graue Literatur“ aus Quellen außerhalb der Wissenschaftlichen Welt mit ein. 

Zwischen 48 Sekunden und 22,5 Minuten Zeit für den Patienten

Die Ergebnisse zeigten, dass die durchschnittliche Länge der Beratung bei den Ärzten der Primärversorgung sehr unterschiedlich ist. Sie reichte von 48 Sekunden in Bangladesh bis 22,5 Minuten in Schweden. In 15 Ländern dauerte ein Termin weniger als 5 und in weiteren 25 Ländern weniger als 10 Minuten. 11 Länder kommen auf unter 15 und weitere 13 auf unter 20 Minuten. Die 18 Länder mit einer Dauer von 5 Minuten oder darunter repräsentieren nach der Studie die Hälfte der Weltbevölkerung. 

Deutschland im Mittelfeld

Nach den jeweils neuesten verfügbaren Daten rangieren die Länder Schweden, USA, Bulgarien (nur eine Studie von schlechter Qualität), Norwegen und Finnland unter den Top 5. Für Deutschland wurde gemäß einer einbezogenen Erhebung aus dem Jahr 2002 (889 Konsultationen) ein Schnitt von 7,6 Minuten ermittelt, was uns einen Platz im Mittelfeld beschert. Frankreich kommt ebenfalls nach nur einer Studie aus dem selben Jahr (44.000 Konsultationen) auf einen Schnitt von 16 Minuten, die Niederlande nach Erhebungen aus 1987 und 2001 auf knapp 10 und die Schweiz (Daten aus 2002 und 2009) auf 16 bis 17 Minuten. Großbritannien hat sich über mehr als sechzig Jahre (zwischen 1952 und 2014) von 5 auf rund 9 Minuten gesteigert. Erstaunlich sind die USA, die im Jahr 2003 immerhin schon mit mehr als 15 Minuten angefangen haben und bis zum Jahr 2012 trotz relativer konstanter Arztdichte auf gut 21 Minuten zulegen konnten. Besorgniserregend finden die Autoren, dass die Dauer der Beratung sich in manchen Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu verkürzen scheint.

Kürzere Beratung, mehr Antibiotika

Die Wissenschaftler analysierten auch den damit verbundenen Outcome für die Gesundheitssysteme und fanden folgende Schlüsselergebnisse: Die Länge der Konsultation war signifikant assoziiert mit den nationalen pro-Kopf-Ausgaben für das Gesundheitswesen, der Hausarztdichte, der Zufriedenheit der Ärzte mit der Betreuung der Patienten sowie den Krankenhauseinweisungen wegen Diabetes (aber nicht wegen Asthma oder COPD).  

Demgegenüber wurde keine signifikante Assoziation gefunden mit der Anzahl der Arztkonsultationen pro Patient in einem bestimmten Jahr, der Zahl der veranlassten diagnostischen Tests, der Anzahl der Besuche in der Notfallversorgung und auch nicht mit der Zufriedenheit der Patienten. Kürzere Beratungen waren eher mit einer Vielzahl von Verschreibungen pro Patient verbunden (Polypharmazie), außerdem mit einem übermäßigen Einsatz von Antibiotika und einer schlechten Kommunikation mit den Patienten, fügen die Forscher an. 

Stress und Burnout bei den Ärzten

In weniger als fünf Minuten könne nicht viel mehr erreicht werden als die Erfassung und das Management des Krankheitsstatus insgesamt, meinen die Wissenschaftler. Bei solch kurzen Beratungszeiten müsse deshalb mit negativen Auswirkungen auf die Patientenversorgung gerechnet werden. Außerdem erhöhten sie die Arbeitsbelastung und den Stress bzw. das Burnout unter den Ärzten. Bei vielen bleibe das Gefühl zurück, vor allem multimorbide Patienten nicht angemessen betreut zu haben. 

Trotz des erheblichen Umfangs der ausgewerteten Daten und deren Reichweite halten die Forscher ihre Ergebnisse für überwiegend deskriptiv. Die Qualität der Beweise bewerten sie bei weniger als der Hälfte der eingeschlossenen Studien mit „gut“. So hätten die Untersuchungen keine einheitliche Definition für die Bemessung der Dauer der Arztbesuche verwendet. Außerdem seien die Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen sowie zwischen öffentlichen und privaten Praxen nicht berücksichtigt worden.  

Etablierter Qualitätsstandard

Die durchschnittliche Dauer einer Arztkonsultation ist ein etablierter Qualitätsstandard, der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und vom Internationalen Netzwerk für die rationale Anwendung von Arzneimitteln (International Network for Rational Use of Drugs, INRUD) eingesetzt wird, um den sicheren und kosteneffektiven Einsatz von Arzneimitteln zu fördern. Sie sollte regelmäßig berichtet und in Zukunft als essenzieller Standard für die Qualität von Gesundheitsdienstleistungen überall in der Welt akzeptiert werden, empfehlen die Autoren.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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