Gepanschte Krebsmittel?

Verteidigung will Zyto-Prozess neu aufrollen

Essen - 06.02.2018, 07:00 Uhr

Die Verteidigung will den Prozess gegen den Bottroper Zyto-Apotheker komplett neu aufrollen, weil Journalisten Teile der Ermittlungsakte im Internet veröfentlicht hatten. (Foto: hfd)

Die Verteidigung will den Prozess gegen den Bottroper Zyto-Apotheker komplett neu aufrollen, weil Journalisten Teile der Ermittlungsakte im Internet veröfentlicht hatten. (Foto: hfd)


Am Montag beantragte ein Verteidiger des beschuldigten Zyto-Apothekers Peter S., den Prozess um womöglich unterdosierte Arzneimittel auszusetzen: Journalisten hätten vor Monaten einen Teil der Ermittlungsakten ins Internet gestellt, erklärte die Verteidigung. Außerdem berichtete ein ehemals in der Bottroper Zyto-Apotheke angestellter Pharmazeut über „hohe Intransparenz“ in der Apotheke: Er kündigte noch innerhalb der Probezeit.

Noch bevor es am gestrigen Montag am Landgericht Essen zu der ersten Zeugenvernehmung kommen konnte, verlas ein Verteidiger des Zyto-Apotheker Peter S. aus Bottrop einen überraschenden Antrag: Das Hauptverfahren müsse ausgesetzt werden, erklärte der Anwalt – damit müsste es von vorne beginnen und die Zeugen erneut verhört werden. Der Grund: Nach dem Verteidiger soll ein Journalist des Recherchebüros Correctiv schon Anfang November – und schon vor Beginn der Hauptverhandlung – eine nur teilweise geschwärzte Ermittlungsakte im Internet veröffentlicht haben, samt Haftbefehl und Stellungnahmen der Verteidiger. Der Zugang sei unbeschränkt, erklärte der Verteidiger, nach dessen Ansicht eine versehentliche Veröffentlichung ausscheide.

Sowohl die Laienrichter als auch die Zeugen hätten daher Kenntnis von den Unterlagen haben können, mutmaßte der Verteidiger. Jedem Zeugen sei es daher möglich gewesen, sich auf kritische Fragen des Gerichts vorzubereiten und interessensgeleitet und glaubhaft, aber nicht wahrheitsgemäß auszusagen, erklärte der Verteidiger, der von einer Allianz zwischen Nebenklagevertretern und Medien sowie einer „medialen Vorverurteilung“ sprach. Die Zeugen müssten erneut verhört werden. „Das Verfahren ist daher auszusetzen“, erklärte der Verteidiger – was auch das rechtstaatliche Gebot auf „Waffengleichheit“ gebiete. Er sah durch eine mögliche Weitergabe der Akten durch einen Nebenklagevertreter auch das Recht auf „Guttuung“ vermindert.

Staatsanwaltschaft leitet Ermittlungen ein

Nach einer kurzen Unterbrechung erklärte der Vorsitzende Richter Johannes Hidding, er wolle allen Verfahrensbeteiligten bis Donnerstag Zeit für eine Stellungnahme geben. Ein Dokument „305 Js 330 16 HA Bd 10 Geschwärzt“ war zumindest nach Verlesung des Antrags der Verteidigung nicht mehr frei auf der Internetseite des Recherchenetzwerkes online verfügbar.

Wie eine Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft gegenüber DAZ.online erklärte, wurden tatsächlich Ermittlungen wegen Anfangsverdachtes eines Verstoßes gegen § 353d Strafgesetzbuch eingeleitet, offenbar gegen einen correctiv-Mitarbeiter. Hiernach ist es verboten, amtliche Dokumente eines Strafverfahrens vor Prozessende – oder bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert wurden – zu veröffentlichen. „Die Ermittlungen richten sich gegen diejenige Person, die auf der betreffenden Internetseite als Veröffentlicher genannt ist“, erklärte die Pressesprecherin. „Dabei handelt es sich um einen Journalisten, der bekanntermaßen in dem Verfahren gegen den Apotheker recherchiert und Beiträge in den Medien veröffentlich hat.“

Nur ein Zeuge musste aussagen

Anschließend kam es gleich zur nächsten Überraschung: Eigentlich sollte ein Finanzermittler verhört werden, doch kritisierten Nebenklagevertreter, dass sie nicht ausreichend Zeit zur Einsichtnahme in Unterlagen gehabt hätten. Einen Antrag auf Unterbrechung der Hauptverhandlung wies der Vorsitzende Richter zwar zurück, doch entließ er den Finanzbeamten ohne Vernehmung: Er soll zu einem späteren Termin gehört werden.

Auch die nächste Zeugenvernehmung war schnell beendet: Geladen war eine 48-jährige PTA. Das sie im früheren Zyto-Labor von Peter S. gearbeitet haben soll, räumte Richter Hidding ihr ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht ein – da sie sich durch ihre Aussage womöglich selbst belasten könnte. Hiervon machte die PTA daraufhin Gebrauch, während Nebenklagevertreter das Vorgehend von Hidding beanstandeten.

Der anschließend geladene Anfang-40-jährige Apotheker Henrik M. wurde von Hidding hingegen zur Aussage verpflichtet, da seine Mitarbeit im Zyto-Labor außerhalb der Verjährungszeit liegt. Der sichtlich nervöse promovierte Pharmazeut erklärte, dass er nach seiner Tätigkeit in einer Apothekerkammer gerne praktische Erfahrungen sammeln wollte und so im Jahr 2011 ins Gespräch mit Peter S. gekommen sei. Dieser habe ihm verschiedenste Aufgabenfelder in Aussicht gestellt – so die Leitung des Zyto-Labors oder auch die Gründung einer Filialapotheke. „Deswegen bin ich dorthin gewechselt“, erklärte der Zeuge.

„Viele der Dinge“ habe S. aber nicht realisiert, erklärte M. Er habe anders als vorab suggeriert auch keinen Kontakt zu Ärzten gehabt. „Ich habe dann in dem Labor hergestellt wie auch die pharmazeutisch-technischen Angestellten“, erklärte der Apotheke: Im Labor seien täglich 100 bis 150 Zytostatika hergestellt worden, was rund 90 Prozent seiner Arbeitszeit ausgemacht hab – inklusive der Kontrolle von Therapieschemata und dem Bedrucken von Herstellanweisungen auf Etiketten.

6000 Euro brutto für den angestellten Apotheker

Zur Warenwirtschaft habe er keinen Zugang gehabt und sei auch über „Verbräuche des Lagers“ nicht informiert gewesen, erklärte M., der über eine „hohe Intransparenz“ in der Zyto-Apotheke sprach. „Das ist kein guter Arbeitsplatz für mich“, erklärte er seine Motivation, am Ende der Probezeit von einem Tag auf den anderen seine Vollzeitstelle beendete – für die er 6000 Euro brutto erhielt. Doch habe sich „wirklich gar nichts“ in seinem Sinne getan, erklärte der Apotheker, der auch über mangelnde Einweisungen und fehlende Schulungen sprach.

Hidding frage, ob im Labor immer nach dem vier-Augen-Prinzip hergestellt wurde. „Soweit wie es nur irgendwie ging“, erklärte M. – bei Krankheitsfällen sei es vielleicht zu Abstrichen gekommen. Mit S. habe er selbst nie zusammen hergestellt, auch habe er ihn nie herstellen sehen. Er habe wie auch seine Kollegen die nötige Schutzkleidung getragen. Doch kritisierte er vor Gericht einen „Mangel an Datenintegrität“, da nicht alle Schritte nachvollziehbar dokumentiert worden seien: So hätten die Kollegen nicht mit Unterschriften auf den Etiketten die Herstellung dokumentiert.

Krebsmittel für Angehörige sollte S. nicht herstellen

An viele der Begebenheiten aus dem Jahr 2012 erinnerte sich M. nicht mehr, „weil das sehr lange zurückliegt“. In einigen Punkten entlasteten die Aussagen den Apotheker: So sei das Arbeitsklima „durchaus gut“ gewesen, erklärte der Zeugen. Auch seien anders als teils von einer Zyto-PTA berichtet Rückläufer, „soweit ich mich an die Situation erinnern kann“, entsorgt und nicht umetikettiert worden, erklärte M. Doch eine Ausnahme habe es gegeben: Wenn eine Therapie abgesagt wurde und ein anderer Patient dasselbe Arzneimittel in leicht höherer oder niedrigerer Dosis erhalten sollte, sei auch umetikettiert worden.

Der Zeuge bestätigte frühere Aussagen, dass Mitarbeiter erzählt hätten, dass Krebsmittel für eine Angehörige „tunlichst“ nicht vom Apotheker Peter S. hergestellt worden seien. Auch habe er gehört, dass ein Arzneimittel von einer Praxis reklamiert worden sei, da es „augenscheinlich falsch hergestellt worden war – oder unterdosiert“, erklärte M., der hierzu jedoch nichts weiteres berichten konnte. Er selber habe „natürlich“ die Dosis von hergestellten Krebsmittel immer genau eingehalten, erklärte der Apotheker. „Die Dosis ist für den Therapieerfolg entscheidend – das ist das wichtigste dabei“, sagte er.

Die Frage eines Verteidigers, ob S. ihm mal eine Unterdosierung angewiesen habe, verneinte der Zeuge. Soweit er es gesehen habe, hätten auch die Kollegen „ordnungsgemäß“ hergestellt – auch habe es immer genug Wirkstoff-Bestände gegeben.

Im Gerichtssaal kam es kurz danach zu einem Arzneimittel-Bedarf: Dem Angeklagten ging es nicht gut, so dass seine Verteidiger nach einem Schmerzmittel fragten. Der Zeuge hatte zwar keine Hausapotheke dabei – doch gab ihm die Nebenklägerin Heike Benedetti eine Tablette, so dass das Verfahren kurz danach fortgeführt werden konnte.

Hidding wies einen Antrag auf Beschlagnahme des Handys eines Fahrers der Apotheke zurück, der sich am Tag der Razzia im November 2016 womöglich mit Kollegen ausgetauscht hatte: Es gebe keine Anhaltspunkte, dass dies zur Aufklärung der vorgeworfenen Taten hilfreich sei, erklärte Hidding. Der Richter bat die Prozessbeteiligten außerdem, mitzuteilen, an welchen Tagen bis Ende Mai sie verhindert sind. Bislang waren bis Mitte März Verhandlungstermine angesetzt. Eigentlich wollte Hidding demnächst die Zeugenbefragungen abschließen und ab Mitte Februar mit der Verlesung der Plädoyers beginnen. Für kommenden Donnerstag ist ein weiterer früherer Mitarbeiter von S. geladen – sowie ein Mitarbeiter der Firma Hexal.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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