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Flüchtlinge und Beipackzettel
Wie die AfD den Namen der Bundesapothekerkammer missbraucht
Am vergangenen Freitag wurde im Bundestag der Haushalt des Bundesgesundheitsministeriums diskutiert. Die AfD-Abgeordnete Birgit Malsack-Winkemann behauptete in ihrer Rede, dass dem Gesundheitssystem Milliardenkosten entstünden, weil Flüchtlinge ihre Beipackzettel nicht lesen könnten. Sie bezog sich dabei auf die Bundesapothekerkammer. Ein Faktencheck von DAZ.online zeigt: Die Behauptung ist dreist konstruiert.
Als es am vergangenen Freitag in der sogenannten Haushaltsdebatte im Bundestag um den Einzelplan des Bundesgesundheitsministeriums ging, zeigte sich – wie schon in den Besprechungen der anderen Einzelpläne zuvor – wie sich die Diskussionskultur im Parlament geändert hat: Die AfD nutzt nahezu jeden Redebeitrag zu jedem Thema, um die Zuwanderungspolitik in den Vordergrund zu stellen. Abgeordnete anderer Parteien unterbrechen AfD-Politiker mit lauten Zwischenrufen, Zwischenfragen von AfD-Abgeordneten zu ihren Redebeiträgen lassen sie grundsätzlich nicht zu.
Den Einzelplan Gesundheit kommentierte unter anderem Birgit Malsack-Winkemann, die AfD-Obfrau im Haushaltsausschuss des Bundestages. Malsack-Winkemann ist promovierte Juristin und arbeitete nach 1993 als Richterin im Land Berlin. Fast unbemerkt versteckte sie in ihrer Rede eine Behauptung, die insbesondere für die Apotheker von Interesse sein dürfte. Um diesen Auszug aus ihrer Rede geht es:
„Fraglich ist auch, welche Schäden dem Gesundheitssystem entstehen, weil ein großer Teil der Flüchtlinge Analphabeten sind. Nach einer im Rahmen einer Konferenz der Bundesapothekerkammer vorgestellten Studie sind 14,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland Analphabeten; weitere 26 Prozent können nur fehlerhaft lesen und schreiben. Daraus entstehen nach Schätzung dieser Studie jährliche Kosten zwischen 9 und 15 Milliarden Euro, und zwar weil Beipackzettel nicht gelesen werden können oder die Medikation nicht verstanden wird, sodass mehr Notfallbehandlungen und Krankenhausaufenthalte die Folge sind.“
Schaut man sich die Zusammenhänge und Zahlen in diesem Argument genauer an, fällt schnell auf, wie hier Zahlen unzulässig miteinander kombiniert und Fakten kreiert wurden, um Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen. Um diese Fakten geht es:
- Es ist unklar,
von welcher „Konferenz“ die AfD-Abgeordnete spricht. Auch eine Nachfrage bei
der Bundesapothekerkammer brachte hier kein Licht ins Dunkel – selbst dort weiß
man nicht, bei welcher Konferenz das Thema „Flüchtlinge und Beipackzettel“ eine
Rolle gespielt haben soll. Eine Sprecherin der AfD-Abgeordneten verweist auf
Nachfrage von DAZ.online auf eine Pressekonferenz der Bundesapothekerkammer,
die im März 2018 stattgefunden hat. Um den Zusammenhang zwischen Flüchtlingen,
die ihre Beipackzettel nicht richtig lesen können, und den Gesundheitsausgaben
ging es bei dieser Pressekonferenz allerdings nicht. Vielmehr stand die
Gesundheitskompetenz der Menschen im Mittelpunkt: Prof. Marie-Luise Dierks von
der Medizinischen Hochschule Hannover stellte einen Zusammenhang her zwischen
der geringen Gesundheitskompetenz und medizinischen Auswirkungen, wie etwa
Medikationsfehlern oder häufigeren Notfallbehandlungen im Krankenhaus. Dass „Flüchtlinge“
eine besonders schlechte Gesundheitskompetenz haben, geht aus der von Dierks
zitierten Studie allerdings nicht hervor. Vielmehr heißt es, dass „Menschen mit
Migrationshintergrund“ – also alle schon seit Jahrzehnten in Deutschland
lebenden Einwanderer – eine tendenziell schlechtere Gesundheitskompetenz haben (übrigens ähnlich schlecht wie chronisch Kranke oder Menschen mit niedrigem Bildungsgrad).
- Die Bundesapothekerkammer erklärte gegenüber DAZ.online: „Eine eigene Studie zu Analphabetismus (oder zu den daraus möglicherweise resultierenden Gesundheitskosten) haben weder Bundesapothekerkammer noch ABDA durchgeführt.“ Einzig und allein in einer Pressemitteilung aus dem November 2016 hat sich die Standesvertretung der Apotheker jemals (öffentlich) mit dem Thema beschäftigt. In der Mitteilung ging es um die Bedeutung der Apotheke vor Ort für die Arzneimittelberatung von 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland ging. An keiner Stelle geht es aber um die Kosten, die sich durch Zuwanderer ergeben, die kein Deutsch können und somit keine Beipackzettel lesen können. Die BAK weist in dieser Pressemitteilung lediglich darauf hin, dass Migration einer der Gründe für funktionalen Analphabetismus sein kann. Stellt dazu aber sofort klar: „Nicht nur Migranten sind betroffen: Mehr als die Hälfte der funktionalen Analphabeten sind deutsche Muttersprachler. Rechnet man Zuwanderer ohne ausreichende mündliche Deutschkenntnisse hinzu, liegt die Zahl der Betroffenen noch höher.“ Für weitere Zahlen zum Analphabetismus verweist die ABDA auf ihrer Seite auf eine Themenseite der Bundeszentrale für politische Bildung.
Wie kommt die AfD zu solchen Äußerungen?
- Selbst wenn man sich die eigentlichen Studien zu
diesem Thema anschaut, wird klar, dass die AfD-Behauptungen schlichtweg falsch sind.
Malsack-Winkelmann behauptet zwar richtigerweise, dass 14,5 Prozent der
erwachsenen Bevölkerung funktionale Analphabeten sind – sie können also Einzelwörter
lesen, verzweifeln aber schon an kurzen Sätzen bzw. längeren Textabschnitten.
Dass zu diesem Bevölkerungsteil hauptsächlich Flüchtlinge gehören, ist aber nirgends erwähnt. Sogar das Gegenteil ist der Fall: So heißt es etwa auf der oben genannten Themenseite der Bundeszentrale für politische Bildung: „Wer
nun glaubt, dass es sich bei den 14,5 Prozent der sehr gering literalisierten
Personen (…) vornehmlich um Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte handelt,
der irrt. Zwar ist der Anteil der mehrsprachigen Menschen im Vergleich zur
Verteilung in der Gesamtbevölkerung überproportional, doch für die Mehrheit der
Betroffenen (58 Prozent) ist Deutsch die Muttersprache." Nichtsdestotrotz ist es richtig, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge teils besorgt ist, was das Lerntempo der Zuwanderer in Sprachkursen betrifft. Medienberichten zufolge erreichen 80 Prozent der Kursteilnehmer nicht das Sprachniveau B1, das Jobcenter als Mindestanforderung heranziehen. Allerdings: Hier ging es aber um etwa 43.000 Kursteilnehmer im ersten Halbjahr 2017. Dass diese Menschen milliardenschwere Auswirkungen auf die deutsche Analphabeten-Quote oder die Gesundheitsausgaben haben, ist unwahrscheinlich.
- Und auch was die Benennung der Kosten für das Gesundheitssystem betrifft, hat die AfD entweder schlecht recherchiert oder ganz bewusst falsche Behauptungen aufgestellt. Wie oben schon erwähnt, hat die Bundesapothekerkammer sich selbst nie mit den Auswirkungen des Analphabetismus auf die Volkswirtschaft befasst, schon gar nicht mit Blick auf Flüchtlinge und Beipackzettel. Bezüglich der Kosten hat sich die AfD wohl an einer Pressemitteilung der Stiftung Lesen aus dem Jahr 2013 bedient. Dort heißt es: „Mangelnde Lesefähigkeit stellt die Betroffenen vor große Herausforderungen, ihren Alltag zu bewältigen und sich für einen Beruf zu qualifizieren. Das hat Folgen für die gesamte Gesellschaft: Hochgerechnet ist in den kommenden 10 Jahren mit 15 Milliarden Euro Folgekosten zu rechnen, wenn es nicht gelingt, niedrig qualifizierten Menschen Bildungschancen und Perspektiven zur Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben zu ermöglichen beziehungsweise zu erhalten.“ Auch in der oben genannten Darstellung von Prof. Marie-Luise Dierks aus Hannover wird diese Zahl genannt. Dass diese Mehrkosten auf analphabetische Flüchtlinge zurückgehen, davon ist dort keine Rede. Überhaupt werden die Mehrkosten nicht mit dem Gesundheitssystem verbunden. Vielmehr nennt die Stiftung Lesen die Branchen „Baugewerbe, Gastronomie und Gebäudereinigung“ als Wirtschaftszweige, in denen es die meisten funktionalen Analphabeten gibt.
Dass jährlich „zwischen 9 und 15 Milliarden Euro“ Mehrkosten entstehen, weil „Beipackzettel nicht gelesen werden können oder die Medikation nicht verstanden wird, sodass mehr Notfallbehandlungen und Krankenhausaufenthalte die Folge sind“, ist also eine These, die mit Blick auf die vorliegenden Fakten keinerlei Wahrheitsgehalt hat.
Auf Nachfrage im Büro Malsack-Winkemann dazu, wie man zu einer solchen Aussage kam, relativierte eine Mitarbeiterin die Behauptungen und kritisierte die Fragestellung von DAZ.online: „Eine gute Pressearbeit setzt voraus, dass die Berichterstattung sachlich und inhaltlich bezogen ist. Diese Fragestellung verdreht den Vortrag bis zur Unkenntlichkeit.“ Konkret stellt das Büro Malsack-Winkelmann in Frage, dass sich die AfD-Abgeordnete mit ihrer Rede nur auf Flüchtlinge bezogen habe. „Woraus meinen Sie aus der Formulierung ‚... 14,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland sind Analphabeten; weitere 26 Prozent können nur fehlerhaft lesen und schreiben‘ erkennen zu können, dass dies die Gruppe der Geflüchteten darstellt?“
Schließlich weist das AfD-Büro auf das Wort „fraglich“ hin, das am Anfang des Redeabsatzes steht: „Sollte der tatsächlich in der Rede enthaltene einleitende Satz ‚Fraglich ist auch, welche Schäden dem Gesundheitssystem entstehen, weil ein großer Teil der Flüchtlinge Analphabeten sind?‘, bei Ihnen zu derartigen Schlussfolgerungen führen, so möchte ich gern anmerken, dass bereits das einleitende Wort ‚Fraglich‘ eben wortgemäß auf Unklarheit abstellt. Ihre Bezugnahme ist daher, es wird wiederholt, sachlich falsch.“
Die Bundesapothekerkammer wollte die Äußerungen der AfD-Politikerin und das Verwenden ihres Namens in diesem Kontext nicht weiter kommentieren.
6 Kommentare
Wahrheiten oder Stimmungsmache?
von Heiko Barz am 23.05.2018 um 11:37 Uhr
» Auf diesen Kommentar antworten | 2 Antworten
AW: Wahrheiten oder Stimmungsmache
von Felix Maertin am 23.05.2018 um 13:25 Uhr
AW: Wahrheiten oder Stimmungsmache
von le D am 12.10.2018 um 20:29 Uhr
AFD und Bundesapothekerkammer
von Rumpelstilzchen am 22.05.2018 um 21:18 Uhr
» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort
AW: AFD und Bundesapothekerkammer
von Felix Maertin am 23.05.2018 um 8:41 Uhr
was ist schlimmer
von conny am 22.05.2018 um 18:01 Uhr
» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten
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