Das Urteil im Zyto-Prozess (Teil 2)

Warum wurde Peter S. nicht wegen Totschlag oder Mord verurteilt?

Karlsruhe - 15.11.2018, 17:55 Uhr

Das Landgeriht Essen hat den Zyto-Apotheker Peter S. wegen Betrug zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Warum aber nicht wegen Mord? (Foto: hfd)

Das Landgeriht Essen hat den Zyto-Apotheker Peter S. wegen Betrug zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Warum aber nicht wegen Mord? (Foto: hfd)


Das Landgericht Essen verurteilte den Apotheker Peter S. zu zwölf Jahren Haft – jedoch nicht wegen Körperverletzung, Totschlag oder wegen Mord, sondern wegen Betrug und Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz. In der schriftlichen Urteilsbegründung erklären die Richter dies ausführlich.

Aufgrund jahrelanger Unterdosierungen von Krebsmittel hatte die 21. Strafkammer des Landgerichts Essen im Juli den Bottroper Zyto-Apotheker Peter S. zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt – wegen Verstößen gegen das Arzneimittelgesetzes und Betrugs an den Krankenkassen. Insbesondere die Nebenkläger sowie einige ihrer Anwälte hatten gefordert, S. auch wegen Tötungsdelikten sowie Mordes zu bestrafen – doch die Richter verurteilten ihn nicht einmal wegen versuchter Körperverletzung. Warum? 

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Zwar stellt das Verabreichen unterdosierter Zytostatika durch einen insoweit gutgläubigen Arzt für den angeklagten Apotheker eine tatbestandliche Körperverletzung „in mittelbarer Täterschaft“ dar, schreiben die Richter. Denn onkologische Medikamente seien hoch toxisch, ihre Einnahme stelle aufgrund ihrer Nebenwirkungen eine nicht nur unerhebliche Beeinträchtigung dar. „Die Einwilligung eines Patienten in die Gabe des Arzneimittels bezieht sich nur auf die Gabe der ärztlich verordneten Dosis“, schreiben die Richter. Die Verabreichung der laut dem Urteil von Peter S. hergestellten Infusionsbeutel mit keinerlei Wirkstoff führten aufgrund der nötigen Infusion gleichzeitig zu Schmerzen, die ebenfalls nicht von einer wirksamen Einwilligung des unwissenden Patienten gedeckt waren.

Gab es eine vorsätzliche Körperverletzung?

Doch eine vorsätzliche Körperverletzung wird nach § 223 Strafgesetzbuch nur auf Antrag des Geschädigten oder eines Angehörigen eines Verstorbenen verfolgt – oder wenn ein besonderes öffentliches Interesse vorliegt. Doch in Bezug auf die zehntausenden Zytostatika, die Peter S. im angeklagten Zeitraum von Anfang 2012 bis zum Tag vor der Razzia am 29. November 2016 hergestellt hat, sah die Staatsanwaltschaft Essen kein besonderes öffentliches Interesse: Sie klagte nur Unterdosierungen an, die bei der Razzia sichergestellt wurden, und brachte 27 Taten der versuchten Körperverletzung zur Anklage. Zwar lagen in Bezug auf die vorher hergestellten Zytostatika einige Strafanträge von Betroffenen vor – doch ließ sich im Nachhinein nicht mehr feststellen, welche genau minderwertig waren.

Die Richter nahmen Schätzungen vor und ermittelten im Wege einer „gleichartigen Wahlfeststellung“, dass mindestens 14.498 Zubereitungen unterdosiert waren – ohne dass festellbar war, um welche es sich handelte. Hierbei nahm die Kammer zugunsten des angeklagten Apothekers an, dass die Zubereitungen korrekt hergestellt worden waren, auf die sich die Strafanträge bezogen – sodass die Basis für eine versuchte Körperverletzung fehlte.

Verurteilung wegen Beibringung von Gift wurde geprüft

Für die sichergestellten unterdosierten Arzneimittel kamen sie am Ende zum selben Ergebnis – wenn auch aufgrund eines anderen Grundes: Diese waren zwar nicht korrekt hergestellt, aber noch nicht vom Apotheker freigegeben und daher auch nicht an die Ärzte ausgeliefert worden. „Mangels Taterfolgs“ schied für die Richter daher eine vollendete Körperverletzung aus. Doch lag nicht einmal eine versuchte Körperverletzung vor. „Der Angeklagte hat nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestands nicht unmittelbar angesetzt“, schreiben sie. Das sei aber laut Strafgesetzbuch nötig: Handlungen müssen „im ungestörten Fortgang“ unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen sollen oder im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr stehen.

„Der Täter muss subjektiv die Schwelle zum ‚jetzt geht es los‘ überschreiten und objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzen, so dass sein Tun ohne Zwischenakte in die Tatbestandserfüllung übergeht“, erklärt die Strafkammer. Doch wiederum aufgrund der nötigen und nicht erfolgten Freigabe der Zytostatika als „Zwischenakt“ konnte der Apotheker nicht bereits bei Herstellung der Infusionsbeutel am Vortag annehmen, dass sein Handeln direkt in die Vollendung übergehen würde: Er hätte auch etwa die Beutel erneut mit korrekter Dosierung herstellen können.

Der Zyto-Prozess - die Urteilsbegründung (Teil 1)

Die Richter diskutieren in ihrem Urteil auch, ob die Verurteilung wegen „Beibringung von Gift oder eines anderen gesundheitsschädlichen Stoffes“ nach § 224 Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch in Frage käme – doch sei dies weder vollendet noch versucht. „Die verabreichten unterdosierten Medikamente sind bei bestimmungsgemäßer Verwendung weder Gifte noch andere gesundheitsschädliche Stoffe, da sie mit dem Ziel der Gesundheitsförderung und -Verbesserung verabreicht werden“, erklären sie. Mit Blick auf die Unterdosierungen könne auch nicht auf ein Unterlassen abgestellt werden: Der Tatbestand solle die besondere Gefährlichkeit einer Körperverletzung erfassen – ein Unterlassen entspräche ihm nicht.

Keine hinreichenden Feststellungen für Mord

Der Angeklagte habe sich auch nicht des versuchten oder vollendeten Totschlags oder Mordes strafbar gemacht, urteilten die Richter – auch nicht durch Unterlassen. Denn die Kammer habe keine hinreichenden Feststellungen mit dem für eine Verurteilung erforderlichen Grad an Wahrscheinlichkeit treffen können. Bei den am Tag der Durchsuchung sichergestellten unterdosierten Zubereitungen wären derartige Delikte aufgrund der fehlenden Freigabe nicht verwirklicht. Bei den 14.498 früheren Fällen des Organisationsdeliktes konnte die Kammer nicht feststellen, dass ein Patient aufgrund einer unterdosierten Zubereitung des Angeklagten vorzeitig verstorben ist.

Dies scheiterte aus Sicht der Richter bereits daran, dass offen blieb, welche Zubereitungen im Einzelnen betroffen waren. Und auch eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen eines versuchten Tötungsdeliktes hat die Kammer nicht angenommen, da nicht nachweisbar war, dass der Apotheker mit einem früheren Tode eines einzelnen Patienten rechnete. So schreiben die Richter: „Es fehlt bereits am Tatentschluss, da der Angeklagte nicht feststellbar damit rechnete, dass einer der betroffenen Patienten aufgrund einer bestimmten unterdosierten Zubereitungen zu Tode kommen oder zu einem früheren Zeitpunkt sterben würde.“

Die Mini-Serie zum Zyto-Urteil

Das war der zweite Teil der DAZ.online-Mini-Serie zu den Urteilsgründen im sogenannten Zyto-Prozess gegen den Apotheker Peter S. Im ersten Teil hat sich DAZ.online-Autor damit beschäftigt, wie die Richter das Vorgehen des Apothekers einschätzen.

Im dritten Teil wird es um die Frage gehen: Wie begründen die Richter die zwölfjährige Haftstrafe für Peter S.?



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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