Fingolimod bei Kindern und Jugendlichen

Gilenya erhält Zulassung für schubförmige MS bei Kindern

Stuttgart - 04.12.2018, 17:45 Uhr

Fingolimod in Gilenya: Die erste kranheitsmodifizierende Therapie für Kinder mit MS hat die EU-Zulassung erhalten. ( r / Foto: Novartis)

Fingolimod in Gilenya: Die erste kranheitsmodifizierende Therapie für Kinder mit MS hat die EU-Zulassung erhalten. ( r / Foto: Novartis)


Der Markt therapeutisch zugelassener Arzneimittel bei pädiatrischen MS-Patienten ist überschaubar, vor allem bei hochaktiven Formen der multiplen Sklerose gibt es nichts. Das hat Novartis geändert: Kinder mit hochaktiver schubförmig-remittierender multipler Sklerose dürfen künftig mit Fingolimod behandelt werden, für Kinder unter 40 Kilogramm bringt Novartis zudem Gilenya® 0,25 mg auf den Markt. Bislang war Gilenya® nur bei Erwachsenen zugelassen. Fingolimod ist die erste krankheitsmodifizierende Therapie bei MS, die bei Kindern in einer Phase-III-Studie geprüft wurde. 

Kinder und Jugendliche im Alter von zehn bis 17 Jahren, die an hochaktiver schubförmig-remittierender multipler Sklerose (MS) leiden, dürfen künftig mit Fingolimod behandelt werden. Die Europäische Kommission hat im November 2018 die Zulassung von Gilenya® für diese Patientengruppe erweitert. Bis dato war der der Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator nur für Erwachsene mit hochaktiver schubförmiger MS indiziert. Für die Vereinigten Staaten hat die FDA diesen Schritt schon im Mai ermöglicht und pädiatrischen MS-Patienten zu einer Therapieoption verholfen. Für Kinder, die weniger als 40 Kilogramm wiegen, wird es ein neues niedriger dosiertes Präparat, Gilenya® 0,25 mg, geben. Alle übrigen Kinder und Jugendlichen dürfen mit dem „alten“ Gilenya® 0,5 mg therapiert werden.

Studien bei MS-Kindern: Mangelware

Wie der Hersteller Novartis erklärt, ist Gilenya® „die erste und bislang einzige krankheitsmodifizierende MS-Therapie, die in einer speziellen klinischen Phase-III-Studie mit dieser jungen Patientengruppe geprüft wurde.“ Das bedeutet: Gilenya® ist zwar nicht das einzige MS-Präparat, das bei Kindern oder Jugendlichen angewendet wird, aber bislang das einzige, das in klinischen Studien an dieser Altersgruppe untersucht wurde. 

Auch die aktuelle S1-Leitlinie: Pädiatrische Multiple Sklerose aus dem Jahr 2017 erklärt: „Es gibt derzeit keine Ergebnisse aus kontrollierten prospektiven klinischen Studien über die Behandlung der pädiatrischen MS. Die Therapie erfolgt daher weitgehend in Anlehnung an die MS im Erwachsenenalter.“ Vor diesem Hintergrund kommt der Zulassung von Gilenya® aufgrund klinischer Daten tatsächlich ein enormer Stellenwert bei.

Wie wirkt Fingolimod?

Fingolimod zählt zu den selektiven Immunsuppressiva. Als Prodrug wird Fingolimod durch die Sphingosin-Kinase zum aktiven Metaboliten Fingolimod-Phosphat metabolisiert. Es bindet an den Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor (S1P-Rezeptor) auf Lymphozyten und wirkt dort als funktioneller Antagonist und blockiert deren Migration. Dadurch verhindert, Fingolimod, dass Lymphozyten aus den Lymphknoten wandern können. Die Wirkung von Fingolimod auf Lymphozyten lässt sich somit eher als Umverteilung von Lymphozyten beschreiben als durch eine Depletion. Aufgrund des Festhaltens der Lymphozyten in den Lymphknoten sollen auch weniger pathogene Lymphozyten (Th17-Zellen) das Zentralnervensystem infiltrieren, die dort neuronale Entzündungen und Nervendestruktion fördern. Letzteres konnte in tierexperimentellen Studien gezeigt werden. Nach Gabe von Fingolimod (oral) sinkt bereits nach wenigen Stunden die Lymphozytenzahl im Blut auf 75 Prozent des Ausgangswertes. Gilenya wirkt vorwiegend auf Lymphozyten (B- und T-Lymphozyten), die regelmäßig durch die Lymphknoten zirkulieren, wohingegen T-Lymphozyten mit Effektor-Memory-Phänotyp in den peripheren Geweben nicht beeinflusst werden (15 bis 20 Prozent).

Darüber hinaus kann Fingolimod-Phosphat auch die Blut-Hirn-Schranke überwinden und dort direkt an den S1P-Rezeptor auf Nervenzellen binden. 

Pädiatrische MS zeigt mehr Schübe

MS wird zunehmend auch im kindlichen Alter diagnostiziert. Bei 1,7 bis 5,6 Prozent aller MS-Patienten liegt der Krankheitsbeginn zwischen zehn und 18 Jahren, 0,2 bis 0,7 Prozent aller MS-Patienten erkranken sogar vor dem zehnten Lebensjahr. Auffällig ist, dass bei präpubertären MS-Patienten die Geschlechterverteilung einheitlich ist: Mädchen und Jungen erkranken gleich häufig, im Erwachsenenalter sind es häufiger Frauen. Kindliche oder jugendliche Patienten weisen eine höhere Schubrate auf als Erwachsene. Jedoch bilden sich die Symptome im jungen Alter „schneller und vollständiger“ zurück, so die Autoren der Leitlinie. Somit schreite die Behinderung langsamer fort, und es dauere in der Regel 20 Jahre, „bis eine das Alltagsleben einschränkende Behinderung von EDSS 4 eintritt“ (Definition EDSS siehe nächste Seite). Da die Krankheit jedoch bereits früh beginnt, sind die Patienten im Mittel erst 34 Jahre alt. Das zeigt eine Studie aus dem Jahr 2007, die im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde. Der Haupterkrankungsgipfel der schubförmigen MS liegt bei 30 Jahren.

Gilenya reduziert jährliche Schubrate bei Kindern

Grundlage für die Zulassungserweiterung von Gilenya® ist eine Phase-III-Studie, PARADIGMS. Die doppelblinde, randomisierte Studie war multizentrisch ausgerichtet und schloss 215 Kinder und Jugendliche im Alter von zehn bis 17 Jahren ein. Der Schweregrad ihrer MS wurde anhand des EDSS (Expanded Disability Status Scale) bewertet, dieser lag bei den Studienteilnehmern zwischen 0 und 5,5. Wobei ein EDSS von 5,5 beschrieben wird mit „gehfähig ohne Hilfe und Rast für etwa 100 m. Eine Behinderung, die schwer genug ist, um tägliche Aktivitäten zu verunmöglichen.

Was ist der EDSS?

Der EDSS (Expanded Disability Status Scale) bewertet den Schweregrad der Behinderung bei Patienten mit multipler Sklerose. Die Skala reicht von null bis zehn (in 0,5-er Schritten) und bewertet Störungen in unterschiedlichen Funktionellen Systeme (FS) des Körpers:

  • Pyramidenbahn, zum Beispiel Lähmungen
  • Kleinhirn, zum Beispiel Störungen des Bewegungsablaufs, Tremor
  • Hirnstamm, zum Beispiel Sprach- und/oder Schluckstörungen
  • Sensorium, zum Beispiel verminderter Berührungssinn
  • Blasen- und Mastdarmfunktion, zum Beispiel Harn- und/oder Stuhlinkontinenz
  • Sehfunktion, zum Beispiel eingeschränktes Gesichtsfeld
  • Zerebrale Funktionen, zum Beispiel Wesensveränderung, Demenz

Je nach Anzahl der betroffenen Funktionsbereiche und dem Ausmaß der Einschränkung erfolgt die Abstufung von EDSS null (keine Symptome, kein Funktionsbereich betroffen) bis EDSS zehn (Tod durch MS).

Schubrate um 82 Prozent reduziert

Die Studiendauer war flexibel angelegt – bis zu zwei Jahre – und verglich in dieser Zeit Fingolimod mit Interferon-β. Von den Dosierungen erhielten 107 Patienten Fingolimod 0,5 mg oral täglich (Patienten ≤ 40 Kilogramm 0,25 mg), die restlichen 108 Patienten Interferon-β mit 30 µg pro Woche als intramuskuläre Injektion. Der primäre Endpunkt war die jährliche Schubrate der Patienten, sekundäre Endpunkte umfassten die Anzahl neuer oder neu vergrößerter T2-Läsionen, Gadolinium-aufnehmender T1-Läsionen.

Unter Fingolimod betrug die jährliche Schubrate 0,12, unter Therapie mit Interferon-β 0,67: Fingolimod reduzierte im Vergleich zu Interferon-β die jährlich Schubrate signifikant um 82 Prozent.

Häufiger schwere Nebenwirkungen unter Fingolimod

88,8 Prozent der Fingolimod-Patienten litten unter unerwünschten Arzneimittelwirkungen, in der Interferon-β-Gruppe waren es mehr, 95,3 Prozent. Allerdings litten die Patienten unter Fingolimod häufiger unter schweren Nebenwirkungen (16,8 Prozent) – unter anderem Infektionen, Leukopenie und Krampfanfälle –, wohingegen nur bei 6,5 Prozent der Interferon-β-Patienten schwere unerwünschte Arzneimittelwirkungen auftraten.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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