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4. März 2020
Fertig-Desinfektionsmittel wie Sterillium und Co. sind dank Corona mittlerweile Mangelware und vielerorts bereits ausverkauft. Eigentlich kein großes Problem, denn Apotheken können desinfizierende Alkoholzubereitungen doch selbst mischen und herstellen – eigentlich, mein liebes Tagebuch, aber da gab es doch noch vor nicht allzu langer Zeit so eine mehr als abartige Verordnung, die Biozid-Verordnung. Sie besagt u. a., dass sogar Apotheken für die Herstellung von Bioziden eine gesonderte Zulassung brauchen! Man mache sich das klar: Apotheken, die sogar Arzneimittel wie Zytostatika selbst herstellen dürfen, dürfen verdünnten Isopropylalkohol und Co., mit denen man z. B. den Labortisch abwischt (Flächendesinfektion), nur herstellen, wenn sie dafür eine extra Zulassung haben. Krass, oder? In welcher Welt leben wir eigentlich? Und das hat unsere Berufsvertretung seinerzeit sogar einfach so geschluckt (also die Verordnung, nicht den Isoprop). Mein liebes Tagebuch, es ist doch wirklich ein Wahnsinn, mit welcher Bürokratie wir leben müssen. Und das fällt uns jetzt ein Stück weit auf die Füße.
Immerhin, das Regierungspräsidium Tübingen preschte dankenswerterweise mit einer klaren Ansage vor: Die Biozid-Verordnung gelte nicht für Desinfektionsmittel, die zur Hautdesinfektion eingesetzt werden, also am menschlichen Körper angewendet werden. Solche Hautdesinfizienzien sind Arzneimittel, sagt die Tübinger Behörde, Apotheken dürfen die bestehenden Standardzulassungen nutzen und sie selbst herstellen. Man könne die Alkoholverdünnung auch als Standgefäßware herstellen und bei Bedarf als „Rezeptur“ abfüllen. Ach wie schön ist doch Deutschlands Apothekenbürokratie!
Doch Halt, mein liebes Tagebuch, aus dem Berliner Apothekerhaus schallten andere Töne. Unsere Standesvertretung war uns da wieder mal eine echte Hilfe, und was für eine! „Uns ABDA“ legte da ein echtes Kabinettsstückchen aufs Parkett: Grundsätzlich nicht zulässig sei die Herstellung von Händesdesinfektionsmitteln in der Apotheke, posaunte sie in die Welt, da diese Mittel der Biozid-Verordnung unterlägen und so weiter blablaba. Mein liebes Tagebuch, wie hilfreich war das denn? Es mag ja alles formal richtig sein: Es gibt die mehr als schräge Biozid-Verordnung, es gibt, Bestimmungen, an die wir uns halten müssen usw., aber wir haben eine Epidemie! Die Bevölkerung, die Ärzte, die Pflegekräfte, selbst wir in Apotheken brauchen dringend Händedesinfektionsmittel – da kann man sich doch nicht einfach hinstellen und artig und devot den Gesetzestext zitieren. Mein liebes Tagebuch, von einer aktiven Standesführung hätte man sich schon mal gewünscht, dass sie auf den Tisch haut und Alarm schlägt und darauf drängt, dass sich da was ändert. Immerhin deutete die ABDA vorsichtig an, dass das Bundesgesundheitsministerium wohl den Ländern empfehle, die Herstellung solcher Händedesinfektionsmittel in den Apotheken als Ausnahmeregelung zu erlauben.
Sogar das Gesundheitsministerium von Nordrhein-Westfalen teilte die ABDA-Auffassung nicht und legte die Biozid-Verordnung anders aus. Aus NRW kam die Ansage, dass Händedesinfektionsmittel zur SARS-CoV-2-Infektionsprophylaxe Arzneimittel seien und daher als Defektur hergestellt werden dürften. Klare Worte, zumindest für NRW. Da fragt man sich, warum das nicht der ABDA eingefallen war.
Und Schleswig-Holstein zieht nach: Auch in diesem Bundesland dürfen Apotheken seit Montag Desinfektionsmittel mit Isopropanol oder Ethanol zur Hände- und auch zur Flächendesinfektion herstellen! Ja, wer sagt’s denn, geht doch!
Und dann der bundesweite Befreiungsschlag am Mittwoch: Apotheken in Deutschland dürfen befristet bis zum 31. August 2020 bestimmte isopropanolhaltige „Biozidprodukte zur hygienischen Händedesinfektion“ herstellen – ganz offiziell per Allgemeinverfügung erlaubt von der bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin angesiedelten Bundesstelle für Chemikalien.
Es geschehen noch Wunder in diesem unserem Land, mein liebes Tagebuch. Aber klar, so einfach macht es uns die Behörde nun auch wieder nicht. Die Ausnahmeregelung gilt nur für die isopropanolhaltige WHO-Formulierung sowie für ein 70-prozentiges Isopropanol-Wasser-Gemisch.
Und was ist mit ethanolhaltigen Händedesinfektionsmittel? Von der Ausnahmegenehmigung sind sie zwar nicht erfasst, aber für sie gilt wiederum, dass sie auch ohne biozidproduktrechtliche Zulassung verkehrsfähig sind. Eine Apotheke, die Händedesinfektionsmittel mit Ethanol herstellt, müsse lediglich – jetzt bitte festhalten – eine einfache und gebührenfreie elektronische Meldung des Biozidproduktes gemäß Biozid-Meldeverordnung tätigen auf einem Internetportal (www.baua.de > Themen > Anwendungssichere Chemikalien und Produkte > Chemikalienrecht > Die Biozid-Verordnung > Biozid-Meldeverordnung > Datenbank der gemeldeten Biozidprodukte). Herrlich, oder? Dafür kann man die deutsche Bürokratie so richtig knuddeln.
Mein liebes Tagebuch, jetzt hoffen wir, dass unser Apotheken-Computer nicht mit Corona-Viren infiziert ist – wenn doch, womit würden wir ihn dann biozid-verordnungsgerecht desinfizieren?
18 Kommentare
Fachpresse?
von Stefan Haydn am 10.03.2020 um 11:14 Uhr
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Erhellendes
von Barbara Buschow am 08.03.2020 um 18:39 Uhr
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AW: Erhellendes ... nur sitzend lesen ... nicht auf nüchternen Magen .....
von Christian Timme am 09.03.2020 um 10:13 Uhr
Warum Covid-19 ansteckender ist als SARS ...
von Gunnar Müller, Detmold am 08.03.2020 um 15:27 Uhr
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AW: Warum Covid-19 ansteckender ist als SARS
von Conny am 08.03.2020 um 16:17 Uhr
Corona ist nützlich...
von Reinhard Rodiger am 08.03.2020 um 13:54 Uhr
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Was ist da mal wieder los?
von Wolfgang Müller am 08.03.2020 um 11:39 Uhr
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Eigentlich wollte Herr Spahn mal „Zeit gewinnen“ ...
von Christian Timme am 08.03.2020 um 11:01 Uhr
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AW: Eigentlich wollte Herr Spahn mal „Zeit
von Karl Friedrich Müller am 08.03.2020 um 12:33 Uhr
AW: Eigentlich wollte Herr Spahn mal „Zeit
von Heiko Barz am 09.03.2020 um 11:12 Uhr
Quarantäne
von Christiane Patzelt am 08.03.2020 um 9:22 Uhr
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AW: Quarantäne
von A.Germann am 08.03.2020 um 15:25 Uhr
Unterstützung der niedergelassenen Ärzte statt Hamstern ...
von Gunnar Müller, Detmold am 08.03.2020 um 9:12 Uhr
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Laumann und Schmidt
von Ulrich Ströh am 08.03.2020 um 8:25 Uhr
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AW: Laumann und Schmidt
von Peter Ditzel am 08.03.2020 um 8:54 Uhr
2003
von Karl Friedrich Müller am 08.03.2020 um 8:23 Uhr
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AW: 2003
von Karl Friedrich Müller am 08.03.2020 um 8:48 Uhr
AW: 1003 wenn´s da schon Zeitungen gegeben hätte
von Bernd Jas am 08.03.2020 um 9:04 Uhr
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