Neue Studienergebnisse

NRW will Medikamentenversuche an Heimkindern weiter aufarbeiten

Berlin - 23.03.2020, 17:45 Uhr

Die nordrhein-westfälische Landesregierung setzt sich für eine Weiterführung der Aufklärung von Medikamentenversuchen an Heimkindern in NRW in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren in Einrichtungen der Jugend- und Behindertenhilfe ein. (t/Foto: imago images / Schneider)

Die nordrhein-westfälische Landesregierung setzt sich für eine Weiterführung der Aufklärung von Medikamentenversuchen an Heimkindern in NRW in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren in Einrichtungen der Jugend- und Behindertenhilfe ein. (t/Foto: imago images / Schneider)


Bundesweit stehen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe unter dem Verdacht, im Zeitraum der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre Medikamentenversuche an ihren Schutzbefohlenen durchgeführt zu haben. Die nordrhein-westfälische Landesregierung setzt sich für eine Weiterführung der Aufarbeitung dieses Skandals ein. Noch in diesem Jahr sollen Ergebnisse neuester Studien über medizinisch nicht indizierte Medikamentengaben an Heimkindern in NRW vorliegen.  

Es handelt sich um ein wichtiges Thema, das bei weitem nicht nur Nordrhein-Westfalen betrifft: die in den 1950er bis Mitte der 1970er Jahre in der Bundesrepublik durchgeführten medizinisch nicht indizierten Medikamentengaben in Kinderheimen und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Aus unterschiedlichsten Gründen und zu unterschiedlichsten Zwecken sollen diese damals durchgeführt worden sein. Unter dem Verdacht stehen nicht nur Heime und Psychiatrien der alten Bundesländer, sondern auch vergleichbare Einrichtungen der damaligen DDR.

Gesundheitsministerium will dem Verdacht weiter nachgehen

NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) teilte laut Angaben des Deutschen Ärzteblattes Anfang Februar dem Gesundheitsausschuss im Landtag mit, dass die Landesregierung die Aufarbeitung des Verdachtes auf Medikamentenversuche an Heimkindern in NRW weiter vorantreibe. Aufgrund bisheriger Untersuchungsergebnisse und Studien sei davon auszugehen, dass damals den Betroffenen „durch die medizinisch nicht indizierte Verabreichung von Arzneimitteln schweres Leid zugefügt“ worden sei, so Laumann.

Das Gesundheitsministerium habe, um Licht ins Dunkle zu bringen, Kontakt zu insgesamt 50 entsprechenden Einrichtungen aufgenommen. Fünf Heime hätten daraufhin eine externe wissenschaftliche Untersuchung zu möglicherweise bei ihnen durchgeführter Arzneimittelversuche beauftragt. Die Lage in anderen Einrichtungen sei teilweise nicht so einfach aufzuklären. So gebe es in 18 Fällen keine Unterlagen aus den betreffenden Zeiträumen mehr. 15 Heimen hätten Arzneimittelversuche an ihren Schutzbefohlenen ausgeschlossen und in 12 Fällen gebe es keine Hinweise auf solche Vorkommnisse. Laumann wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass noch in diesem Jahr die Ergebnisse weiterer Studien vorliegen sollen – und anschließend über das weitere Vorgehen entschieden werde.

Landesregierung seit 2016 mit Thematik befasst

Die nordrhein-westfälische Landesregierung befasste sich 2016 zum ersten Mal mit der Thematik. Anlass war damals die Veröffentlichung einer Studie der Pharmakologin Sylvia Wagner mit dem Titel „Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte. Arzneimittelstudien an Heimkindern“. In dieser Studie dokumentierte Wagner zahlreiche Fälle von Zwangsmedikationen und von Arzneimittelversuchen in Einrichtungen der Jugend- und Behindertenhilfe in der Bundesrepublik zwischen 1950 und 1975. Im Jahre 2019 veröffentlichte Wagner zudem weiterführende Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit im Rahmen ihrer Dissertation. Die NRW-Landesregierung kündigte daraufhin die Aufklärung der Fälle, soweit heutzutage noch möglich, und eine Diskussion über mögliche Entschädigungsleistungen an.

Ergebnisse der Wagner-Studien

Die Pharmakologin Sylvia Wagner sorgte bundesweit mit ihrer Studie und ihrer Dissertationsarbeit für viel Aufmerksamkeit. Vielfach wurde sie zitiert und die Thematik wurde medial aufgegriffen. Auch die Politik konnte sich nicht entziehen und nahm, wie beispielsweise Nordrhein-Westfalen, diese Arbeit Wagners zum Anlass, eigene Studien in Auftrag zu geben.

Die Ergebnisse der Wagner-Studien sind – im negativen Sinne – beeindruckend. Die Pharmakologin konnte mittels ihrer Untersuchungen rund 80 an Heimkindern durchgeführte Arzneimittelstudien nachweisen. Diese Studien seien zumindest teilweise mit Wissen oder im Auftrag von Behörden erfolgt. Wagner habe für die wissenschaftliche Aufarbeitung der Vorgänge Publikationen in Fachzeitschriften ausgewertet und zudem teilweise Zugang zu Archiven beteiligter Pharmafirmen und auch der betroffenen Einrichtungen gehabt. Getestet wurden beispielsweise Impfstoffe, Psychopharmaka und Medikamente zur Senkung der Libido. Wagner habe zudem keine Einwilligung der Betroffenen bzw. ihrer gesetzlichen Vertreter zu diesen Arzneimitteltestungen finden können.

Wagner beschreibt ihre Ergebnisse in ihrer Dissertationsschrift aus dem Jahre 2019 wie folgt: „Die Rechercheergebnisse zeichnen ein bedrückendes Bild, das sich aus einer medizinisch nicht indizierten Ruhigstellung von Kindern und Jugendlichen zum Teil über Jahre und mit deutlich erhöhten Psychopharmaka-Dosen, der Anwendung triebdämpfender Mittel und der Nutzung  von Heimkindern für Arzneimittelprüfungen zusammensetzt.“

Situation der Heimkinder im Nachkriegsdeutschland

Die Situation in der damaligen Zeit ist nicht vergleichbar mit der heutigen. Die Auswirkungen des Heimsystems für die Betroffenen aber bis heute präsent. Wagner schreibt dazu: „Die ärztlichen Maßnahmen stellen neben den im deutschen Heimsystem bekannten körperlichen, psychischen und sexuellen Gewaltformen eine weitere Form von Gewalt, eine medikamentöse Gewalt, dar. Dabei wurden Menschen zu Objekten medizinischer Forschung unter Missachtung rechtlicher und ethischer Bestimmungen.“

Viele ehemalige Heimkinder leiden bis heute an den Spätfolgen der Missstände in den damaligen Einrichtungen. Im betreffenden Zeitraum lebten bis zu 800.000 Kinder und Jugendliche in Heimen (Quelle: Runder Tisch Heimerziehung der Bundesregierung). In den 1950er und 60er Jahren wurde unterschieden zwischen der Betreuung von Waisenkindern und von verlassenen beziehungsweise sozial verwaisten Kindern. Diese Betreuung fand im Rahmen der „Minderjährigen-Fürsorge“ statt.

Sogenannte „verwahrloste Kinder und Jugendliche“ wurden  in der „Fürsorgeerziehung“ „diszipliniert“. Aus heutiger Sicht ist besonders der Blickwinkel, unter dem eine „Verwahrlosung“ bescheinigt wurde, sehr befremdlich. Von „Verwahrlosung“ wurde gesprochen zum Beispiel bei „Unordnung, Ungehorsam, Schule schwänzen, Frechheit, Bockigkeit, Jähzorn, Unehrlichkeit, Kriminalität, Vagabondage, Genussleben, Prostitution, aber auch das Tragen eines zu kurzen Rockes oder das Hören lauter Musik“ (Quelle: Abschlussbericht Runder Tisch Heimerziehung).

Aufarbeitung durch Bundesregierung – und die Kritik daran

Die Bundesregierung richtete 2009 den „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ ein. Zusätzlich wurde ein Bericht zur „Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR“ angefertigt. Als Ergebnis wurden die Heimkinderfonds Ost und West eingerichtet. 2017 wurde zusätzlich von der Bundesregierung, den Bundesländern sowie der katholischen und der evangelischen Kirche die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ gegründet.

Es sollten Entschädigungen an die Betroffenen gezahlt werden. Dennoch gibt es einiges an Kritik von Seiten der Betroffenenverbände. So sei es vielen Betroffenen aus unterschiedlichsten Gründen innerhalb der Fristen nicht möglich gewesen, Anträge an die Fonds zu richten. Dies konnte nur bis 2014 erfolgen. Statt einmaliger Entschädigungszahlungen werden Opferrenten von den Verbänden gefordert. Dies würde gleichzeitig auch eine Anerkennung der Verantwortung des Staates bedeuten, der in der Pflicht gewesen sei, eine entsprechende Sorgfaltspflicht gegenüber seinen Schutzbefohlenen auszuüben.

Dokumentarische Aufarbeitung

Das Thema Arzneimittelversuche an Kindern und Jugendlichen in Heimen und Psychiatrien im Nachkriegsdeutschland ist auch Gegenstand der aktuellen NDR-Dokumentation von Daniela Schmidt-Langels. Unter dem Titel „Versuchskaninchen Heimkind“ beschreibt der Film die damals häufig praktizierte systematische Ruhigstellung von Heimkindern mit Medikamenten und deren Teilnahme an medizinischen Versuchsreihen. Außerdem wird über schmerzhafte, zudem schon damals umstrittene Diagnoseverfahren berichtet.

In Schmidt-Langels Film kommen sowohl Betroffene als auch Experten zu Wort. Es wird nach Ursachen und auch nach Auswirkungen gefragt. Wie konnte dies geschehen? Wer machte sich schuldig? Was bedeuteten diese Misshandlungen für die Betroffenen? Welche Entschädigungen beziehungsweise Wiedergutmachungen erhoffen sie sich? Und wie sieht für sie die Realität aus? Der Film wirft ein Schlaglicht auf das dunkle Kapitel der in der Öffentlichkeit bislang noch wenig bekannten Geschehnisse in deutschen Heimen. 



Inken Rutz, Apothekerin, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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