Medikamentenübergebrauchskopfschmerz

Neue europäische Leitlinie soll den Teufelskreis brechen

Remagen - 23.06.2020, 17:49 Uhr

Kopfschmerzen durch zu viele Schmerztabletten – kein seltenes Phänomen. Eine neue Leitlinie befasst sich mit dem Problem. (m / Foto: imago images / Westend61)

Kopfschmerzen durch zu viele Schmerztabletten – kein seltenes Phänomen. Eine neue Leitlinie befasst sich mit dem Problem. (m / Foto: imago images / Westend61)


Die European Academy of Neurology (EAN) hat eine Leitlinie zum Management des Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes publiziert. Sie gibt Präventions- und Therapieempfehlungen, mit denen der „circulus vitiosus“ zwischen Kopfschmerzen und Einnahme von Schmerzmedikamenten und Migränemitteln vermieden oder durchbrochen werden soll.

Kopfschmerzen durch Medikamentenübergebrauch (medication-overuse headache/MOH) ist nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Neurologie ein häufiges Problem im klinischen Alltag. Ein MOH liegt nach der Klassifizierung der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft vor, wenn bei Patienten mit einer existierenden Kopfschmerzerkrankung an 15 oder mehr Tagen pro Monat Kopfschmerzen auftreten, wenn diese über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten mit einem oder mehreren Schmerzmedikamenten überbehandelt werden und wenn eine andere ICHD-3-Diagnose nicht besser zutrifft.

Fast immer Frauen betroffen

Nach den Recherchen der Leitlinienautoren liegt die Prävalenz der MOH in Europa in der Gesamtbevölkerung bei etwa ein bis zwei Prozent, wobei mit weitem Abstand Frauen betroffen sind (bis zu 93 Prozent). Bei Patienten mit chronischen Kopfschmerzen, insbesondere chronischer Migräne, beträgt die Prävalenz von MOH bis zu 70 Prozent. Migräne ist auch die häufigste zugrunde liegende primäre Kopfschmerzstörung (80 Prozent der MOH-Patienten). Die verbleibenden zwanzig Prozent haben Spannungskopfschmerzen oder seltener posttraumatische Kopfschmerzen, neue tägliche anhaltende Kopfschmerzen oder andere sekundäre Kopfschmerzen. Triptane, einfache Analgetika, Kombinationsanalgetika und Opioide sind die Medikamente, die am häufigsten mit MOH in Verbindung gebracht werden. Die meisten Patienten mit MOH nehmen mehr als ein Präparat ein. Häufige Begleiter des Phänomens sollen Angsterkrankungen, Depressionen und Abhängigkeitsverhalten sein.

Information und Anleitung der Patienten als wichtigste Präventionsmaßnahme

Die neue Leitlinie der European Academy of Neurology gibt anhand von sieben sogenannten PICO questions (P= popular, I= intervention, C= control, O= outcome) Empfehlungen für das Management von Medikamentenübergebrauchskopfschmerz. Die grundlegende und wichtigste Präventionsmaßnahme ist nach Meinung der Autoren die Information und Anleitung der Patienten. Sie können maßgeblich dazu beitragen, dass es bei Migränepatienten gar nicht erst zu dem Übergebrauchskopfschmerz kommt. Die Leitlinie empfiehlt darüber hinaus, dass MOH-Risikopatienten in regelmäßigen Abständen, das heißt alle drei bis sechs Monate, bei ihrem Hausarzt oder Neurologen vorsprechen sollten. Diese Empfehlung sei zwar nicht evidenzbasiert, meint Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der DGN und Erstautor der Leitlinie, aber eine „Common Sense“-Empfehlung. „Wir wissen, dass Patienten seltener einen MOH entwickeln, die umfassend über den Zusammenhang von Schmerzmitteln und Schmerzmittelübergebrauchskopfschmerz informiert wurden“, erläutert Diener.

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Außerdem zeigten Studien, dass ein Beratungsgespräch plus Print-Informationsmaterial um einiges effektiver sei als Informationsmaterial alleine. Für den Schmerzexperten liegt auf der Hand, dass regelmäßige Gespräche die Sensibilität für die Thematik erhöhen und die Patienten darin bestärken, trotz Schmerzen gelegentlich auf Medikamente zu verzichten oder die Dosis zu reduzieren. 

Wann geht es nicht mehr ohne Spezialisten oder Schmerzzentrum?

Als Mittel zur MOH-Prävention mag die intensive Beratung zwar ausreichend sein, führt die Leitlinie weiter aus, nicht aber, wenn es um die MOH-Behandlung geht. Bei größeren psychiatrischen Komorbiditäten oder beim Übergebrauch von Opioiden, Barbituraten oder Tranquilizern wird auf jeden Fall zur Überweisung an einen Kopfschmerzexperten oder in ein spezialisiertes Schmerzzentrum geraten. Denn grundsätzlich müsse immer ein Entzug oder zumindest eine sanfte Reduzierung der Übergebrauchsmedikamente erfolgen, um den MOH langfristig zu therapieren, so die Begründung. Und um die Schmerzmedikation erfolgreich auszuschleichen oder abzusetzen, brauche es fast immer eine Betreuung, die je nach Komplexität und Zustand des Patienten stationär, teilstationär oder ambulant durchgeführt werden könne. Außerdem müssten neben Neurologen und Schmerzmedizinern auch Verhaltenspsychologen darin eingebunden sein.

Erst entwöhnen, dann spezifische Migränetherapie

Die Leitlinie äußert sich auch zu der Frage, zu welchem Zeitpunkt bei Patienten mit MOH und chronischer Migräne eine gezielte Migränetherapie, zum Beispiel durch Onabotulinumtoxin Typ A oder CGRP (calcitonin gene-related peptide)-Antikörper sinnvoll ist. „Im Prinzip ist es ratsam, die Patienten zunächst vom Schmerzmittelübergebrauch zu entwöhnen, bevor man diese spezifischen Migränemittel einsetzt“, erklärt Diener dazu, „auch um beurteilen zu können, wie stark und häufig die Kopfschmerzen sind, wenn der Übergebrauchskopfschmerz wegfällt. Auf der anderen Seite seien gerade Patienten mit chronischer Migräne stark leidgeprüft und eine wirksame Medikation dürfe ihnen nicht über eine längere Zeit vorenthalten werden. Die Entscheidung, wann die Migränetherapie initiiert wird, sei demzufolge immer nur individuell zu treffen.

Ärzte für das Problem sensibilisieren

„Die Bedeutung der vorliegenden Leitlinie liegt darin, dass sie auf das Problem des MOH aufmerksam macht und auch Ärztinnen und Ärzte für das Phänomen sensibilisiert“, kommentiert der Generalsekretär der DGN Peter Berlit, Essen, die Publikation. Angesichts von geschätzt über eine halbe Million Menschen, sei der Medikamentenübergebrauchskopfschmerz ein relevantes Gesundheitsproblem, das eine gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit verdiene. Die europäische Leitlinie trage dazu bei und werde hoffentlich vielen Betroffenen zur Schmerzfreiheit oder zumindest einer deutlichen Verbesserung der Kopfschmerzen verhelfen, so seine Hoffnung.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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2 Kommentare

Mük, Migräne-Therapie und der Onlinehandel

von M. M. am 24.06.2020 um 0:16 Uhr

Natürlich sind gerade chronisch Kranke eher dazu geneigt einen MÜK zu entwickeln. Dies sieht man vor allem bei Migränepatienten.
Migräniker müssen zum Einen darauf achten nicht mehr als 10 Tage pro Monat zu behandeln um nicht in den Mük zu gelangen, zum Anderen müssen sie aber auch funktionieren. Kein Arbeitnehmer akzeptiert auf Dauer monatliche Krankmeldungen. Also flüchten viele zum Versandhandel. Er stellt selten nervige Fragen, wenn man direkt mehrere Packungen an Triptanen bestellt (zwischen 3 unf 10 Packungen je nach Händler) und es erfolgt keine als lästig empfundene Beratung am HV. Manche PTAs und Apotheker haben da noch Nachholbedarf.

Die andere Sache ist, dass leider nicht immer optimal berichtet wird: Es stimmt, dass Botox und Antikörper eine Therapie-Option bei chronischer Migräne ist. Doch hier kommt das aber: Beide Therapien benötigen erst 5 vorhergegangen, missglückten Therapieversuche mit Arzneimitteln, wie zB. Amitriptylin, Metoprolol, Flunarizin, Topiramat und Valproat. Wer genaueres wissen will, darf sich gerne auf der Homepage der Schmerzklinik Kiel informieren.

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Schmerztabletten-Konsum

von Heiko Barz am 23.06.2020 um 19:04 Uhr

Solange diese Thematik den holländischen Pseudoapos völlig abgeht, braucht darüber nicht viel diskutiert zu werden.
Je mehr Packungen, in diesem Fall eben Schmerztabletten, um so besser für die Aktionäre.
Der Patient und seine Gesundheit spielen dabei keine Rolle. Auch hier gilt eigentlich nur das RXVV, um die Ernsthaftigkeit pharmazeutischer Bemühungen zu dokumentieren.
Ob sich der Herr Spahn darüber mal Gedanken macht?

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