Biotech-Report 2020

Deutschland muss bei Arzneimitteln für neuartige Therapien Boden gutmachen

Remagen - 14.07.2020, 17:30 Uhr

Der Schwerpunkt des Biotech-Reports 2020 liegt auf Arzneimitteln für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMP).  Was sie betrifft, ist Deutschland den Autoren zufolge ins Hintertreffen geraten.  (s / Foto: imago images / Imaginechina-Tuchong)

Der Schwerpunkt des Biotech-Reports 2020 liegt auf Arzneimitteln für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMP).  Was sie betrifft, ist Deutschland den Autoren zufolge ins Hintertreffen geraten.  (s / Foto: imago images / Imaginechina-Tuchong)


Biopharmazeutika nehmen im deutschen Arzneimittelmarkt einen immer größeren Raum ein. Bei den Arzneimitteln für neuartige Therapien läuft der Innovationsmotor hierzulande allerdings nicht rund. Das geht aus dem aktuellen Biotech-Report 2020 hervor, den die Boston Consulting Group für vfa bio erstellt hat.

In den letzten zehn Jahren (2009 bis 2019) haben Biopharmazeutika im deutschen Arzneimittelmarkt erheblich an Boden gewonnen. Die Umsätze haben sich über den Zehnjahreszeitraum von 4,7 auf 12,7 Milliarden Euro fast verdreifacht. Gleichzeitig kletterte ihr Umsatzanteil am Gesamtmarkt von 16 auf 28,7 Prozent und ihre Zahl (inklusive biotechnologisch hergestellter Impfstoffe) wuchs von 188 auf 319. „Biopharmazeutika sind medizi­nisch wie kommerziell eine Erfolgsgeschichte“, schreiben die Autoren des aktuellen Biotech-Reports 2020, den die Boston Consulting Group (BCG) im Auftrag von vfa bio, der „Biotechnologie-Sparte“ innerhalb des Verbands der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa), erarbeitet hat.

Umsatzzuwächse in allen Anwendungsgebieten

Nach dem Bericht hat sich der Umsatz mit Biopharmazeutika im Apotheken- und Klinikmarkt in 2019 gegenüber dem Vorjahr um 13 Prozent erhöht. Wie in den Jahren zuvor war die Immunologie mit etwa einem Drittel der umsatzstärkste Sektor. Auf die drei größten Anwendungsgebiete Immunologie, Onkologie und Stoffwechselerkrankungen entfielen im letzten Jahr zusammen drei Viertel des biopharmazeutischen Gesamtumsatzes. Insge­samt verzeichneten alle Anwendungsgebiete Umsatzzuwächse.   

Knapp die Hälfte aller Neuzulassungen sind Biopharmazeutika

Im Jahr 2019 wurden in der EU 33 Medikamente mit einem neuen Wirkstoff, einem biosimilaren Wirkstoff oder einer neuen Kombination bekannter Wirkstoffe zugelassen, die niedrigste Zahl seit 2012. 15 dieser Neuzulassungen sind Biopharmazeutika. Damit waren Ende 2019 insgesamt 319 biopharmazeutische Arzneimittel inklusive biotechnologisch hergestellter Impf­stoffe für den deutschen Markt zugelassen. Knapp die Hälfte davon entfällt auf monoklonale Antikörper und Impfstoffe. 

Seit 2007 schneiden sich die Nachahmprodukte immer mehr von dem Umsatzkuchen ab. Nach dem Biotech-Report wächst der Gesamtumsatz der Biosimilars pro Jahr im Schnitt um rund 70 Prozent. In den letzten Jahren soll die Zuwächse besonders durch die Zulassungen für biosimilare Infliximab-, Rituximab-, Trastuzumab- und Adalimumab-Antikörper getrie­ben worden sein. Wo Biosimilars in Konkurrenz zu Originalen stehen, erzielen sie nach den Erhebungen im Durchschnitt einen Umsatzanteil von 42 Prozent am Markt.

Gut gefüllte Pipeline

Die biopharmazeutische Pipeline hat sich nach den Berechnungen der Autoren in den letzten fünfzehn Jahren weit mehr als verdoppelt, und zwar von 256 klinischen Entwick­lungskandidaten auf 640 (Ende 2019). Wie bereits in den Vorjahren stellt die Wirkstoff­gruppe der monoklonalen Antikörper mit fast zwei Dritteln den Löwenanteil, für die BCG-Experten der Wachstumsmotor der medizinischen Biotechnologie. Aus dem medizinischen Blickwinkel nehmen onkologi­sche Projekte schon seit vielen Jahren den größten Raum ein (2019: 279 Projekte, 44 Prozent), gefolgt von der Immunologie (106) und der Prävention und Therapie von Infektionen (92). Zusammengenommen stellen diese drei Bereiche rund drei Viertel aller Entwicklungsprojekte.

Zehn Arzneimittel für neuartige Therapien in der EU zugelassen

Der Schwerpunkt des Biotech-Reports 2020 liegt auf Arzneimitteln für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMP), das heißt den Gentherapeutika, Zelltherapeutika und biotechnologisch bearbeiteten Gewebeprodukten. Im Mai 2020 hatten in der EU zehn ATMP eine zentrale Zulassung (Tabelle). Mit weiteren laufen derzeit weltweit mehr als 1.000 kli­nische Studien.

WirkstoffHandelsnameIndikation

Gentherapien

Autologe ZellenStrimvelis®Immundefizienz ADA-SCID
Betibeglogen autotemcelZynteglo®Beta-Thalassämie
Talimogen laherparepvecImlygic®Melanom (nicht resezierbar, metastasiert)
Onasemnogen abeparvovecZolgensma®Spinale Muskelatrophie Typ 1
Voretigen neparvovecLuxturna®Retinitis pigmentosa und Lebersche ererbte Amaurose

Gentherapien (CAR-T)

Axicabtagen ciloleucelYescarta®B-Zell-Lymphom (DLBCL und PMBCL)
Tisagen lecleucelKymriah®Akute lymphatische Leukämie (ALL) / B-Zell-Lymphom (DLBCL)

Biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte

Lebendes (Hornhaut) GewebeäquivalentHoloclar®Limbusstammzelleninsuffizienz nach Verbrennung/Verätzung des Auges
Sphäroide aus autologen ChondrozytenSpherox®Reparatur von bestimmten Knorpeldefekten

Zelltherapien

DarvadstrocelAlofisel®Perianale Fisteln bei Morbus Crohn

An welchen ATMP wird geforscht?

Der Report der Boston Consulting Group wirft auch einen kleinen Blick in die Zukunft der Arzneimittel für neuartige Therapien. Zu den vielversprechenden Technologien gehört die CRISPR/Cas9-Technik, mit der ein DNA-Abschnitt positionsgenau in Chromosomen eingefügt oder entfernt oder ein defekter Abschnitt in einem Chromosom durch einen intakten ersetzt werden kann (Gene Editing). Die Technik ist universell einsetzbar und kommt für Gen­therapien bei Patienten mit Erbkrankheiten oder bestimmten Krebserkrankungen in Frage. Als innovativer Ansatz zur Krebsbekämpfung wird die Individualized Neoantigen Specific Immunotherapy (iNeST, individualisierte Neoantigen-spezifische Immuntherapie) angeführt und als mögliche Alternative zu iNesT und zur CAR-T-Zelltherapie die TCR-T-Zelltherapie. Daneben versprechen nach Einschätzung der Autoren pluripotente Stammzellen vielfältige Ein­satzmöglichkeiten im Bereich der regenerativen Medizin.

Deutschland bei ATMP weit im Rückstand

So solide die Biopharmazie in Deutschland insgesamt dazustehen scheint, so trübe sieht es im Bereich ATMP aus. In den Anfängen der Entwick­lung eines der Pionierländer, ist es zwischenzeitlich deutlich ins Hintertreffen geraten. Im Jahr 2018 belegte Deutschland bei der Zahl der Genthera­pie-Studien zwar den dritten Platz, lag aber mit einem Anteil von 4,4 Prozent dennoch weit abgeschlagen hinter den USA (47,5 Prozent) und China (39,2 Prozent). Für das schlechte Abschneiden machen die Experten der Boston Consulting Group die schleppende Überführung (Translation) neuer Therapieansätze aus der Forschung in die klinische Prüfung, den Mangel an Gründungs- und Risikobe­reitschaft, fehlende ATMP-Cluster und -Produktionskapazitäten sowie die begrenzte Innova­tionsfreundlichkeit verantwortlich. Die Autoren sehen hier dringenden Handlungsbedarf und schlagen selbst Lösungsmöglichkeiten vor. Dazu gehören unter anderem die Einrichtung eines Deutsches Zentrums der Gesundheitsforschung für ATMP und die Aufstockung des Fachpersonals beim Paul-Ehrlich-Institut. Außerdem sollte ihrer Meinung nach Deutschland auch als ATMP-Produktionsstandort etabliert werden. Als Ziel stellen sie sich eine „ATMP welcome“-Kultur und -Struktur vor, mit der Deutschland den Rückstand aufholen und zu einer führenden Rolle zurückfinden könnte.

„Ohne die medizinische Biotechnologie wird die Pandemie nicht beherrschbar sein“

Last but not least erachten die BCG-Experten die medizinische Biotechnologie auch als Schlüssel zur Bewältigung der Corona-Pandemie. Sie habe geholfen, das Genom des neuen Coronavirus SARS-CoV-2 durch die weiterentwickelten molekularbiologischen und biotechnologischen Methoden in wenigen Tagen zu entziffern und innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von Impfstoffprojekten auf den Weg zu bringen. „Noch nie zuvor haben Pharma- und Biotech-Unter­nehmen sowie Forschungseinrichtungen so schnell auf einen neuen Erreger reagiert“, stellen die Autoren des Reports fest. Das Potenzial der Branche werde damit einmal mehr sichtbar und anfassbar.

Der Bericht „Medizinische Biotechnologie 2020 - Biopharmazeutika: Wirtschaftsdaten und Fortschritte für Patienten durch Zell- und Gentherapien“ kann beim vfa kostenfrei bestellt oder von der Webseite herunterladen werden.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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