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Arzneimittelverknappungen in der EU
EP-Gesundheitsausschuss fordert „europäische Notfallapotheke“
Wie können Arzneimittelengpässe in der Europäischen Union in Zukunft vermieden werden? Hierzu hat der Gesundheitsausschuss des Europäischen Parlaments jetzt seine Positionen festgelegt: Die Abgeordneten wollen insbesondere die pharmazeutische Produktion in Europa steigern, ein koordinierteres Vorgehen bei Engpässen und eine Vorratshaltung für Notfälle.
Der Ausschuss für Umweltfragen, Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) des Europäischen Parlaments fordert mehr Selbstversorgung der EU mit Arzneimitteln und besser koordinierte Strategien zur Bekämpfung von Verknappungen. In einem Bericht über Arzneimittel-Lieferengpässe, der am gestrigen Dienstag mit 79 gegen eine Stimme und ohne Enthaltungen angenommen wurde, befasst sich der Ausschuss mit den Ursachen und Lösungsmöglichkeiten für die missliche Situation. Da das Problem sich durch die COVID-19-Gesundheitskrise in ganz Europa verschärft habe, müsse die EU nun verstärkt reagieren, heißt es in einer Pressemitteilung dazu.
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Den Berichtsentwurf hatte Nathalie Colin-Oesterlé, Mitglied der Fraktion der Europäischen Volkspartei aus Frankreich, Anfang Mai vorgelegt. Über die Stellungnahmen anderer Ausschüsse waren zahlreiche Ergänzungen hinzugekommen.
Produktion zurück nach Europa
In dem Bericht fordert der Ausschuss die Kommission auf, die bevorstehende Pharmastrategie zu nutzen, um die Frage der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Erschwinglichkeit sicherer Arzneimittel in Europa anzugehen. In diesem Rahmen soll die Kommission nach Wegen suchen, um die pharmazeutische Produktion in Europa wiederherzustellen. Derzeit haben 40 Prozent der in der EU vermarkteten Arzneimittel ihren Ursprung in Nicht-EU-Ländern und 60 bis 80 Prozent der pharmazeutischen Wirkstoffe werden in China und Indien hergestellt. Besonders wesentliche und strategische Arzneimittel sollen künftig wieder aus europäischer Produktion kommen. Was darunter zu verstehen ist, soll eigens definiert werden.
Das dürfte allerdings kein Selbstläufer sein. Deshalb fordern die Europaabgeordneten finanzielle Anreize für die Unternehmen. Da die Versorgung somit aller Voraussicht nach teurer wird, muss aus ihrer Sicht Schluss sein mit dem Kostenkriterium als ausschlaggebendem Argument für die Zahler im Gesundheitswesen. Die Parlamentarier wollen, dass in Zukunft die Versorgungssicherheit als vorrangiges Kriterium in Ausschreibungsverfahren aufgenommen wird.
Mehr Solidarität und Verteilungsgerechtigkeit
Außerdem soll die EU verstärkt aktiv werden, um die gesundheitspolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten besser zu koordinieren und zu ergänzen. Unter anderem wird eine zentralisierte Steuerungsstruktur empfohlen, um mehr Transparenz in die Vertriebsketten zu bringen. Eine neue Stelle für den Umgang mit Versorgungsstörungen soll eine europäische Strategie festlegen, um solche Störungen künftig zu verhindern und zu beheben. Darüber hinaus fordert der Bericht die Mitgliedstaaten auf, bewährte Verfahren bei der Bestandsverwaltung auszutauschen und koordinierte Gesundheitsstrategien zu entwickeln. Sie sollen systematisch auf eine Politik der gemeinsamen Beschaffung zurückgreifen, um die Kosten für bestimmte Ausrüstungsgegenstände und Arzneimittel niedrig zu halten.
Außerdem soll die Kommission eine europäische Reserve für Arzneimittel von strategischer Bedeutung nach dem Vorbild des RescEU-Mechanismus schaffen. Diese soll als „europäische Notfallapotheke" fungieren und Engpässe minimieren. Ein neuer Verteilungsmechanismus soll dafür sorgen, dass alle Mitgliedstaaten gleichberechtigten Zugang zu der Reserve haben.
Mehr Transparenz und Flexibilität in der Vertriebskette
Die in den Mitgliedstaaten verfügbaren Arzneimittelbestände sollen nach den Vorstellungen des Ausschusses in Zukunft in Echtzeit verwaltet werden – auch um „Überbestände“ zu vermeiden. In Krisenzeiten wünschen sich die EU-Abgeordneten mehr Flexibilität. So sollen gegebenenfalls unterschiedliche Verpackungsformen für Arzneimittel, Wiederverwendungsverfahren, eine Verlängerung der Verfalldaten oder auch die Verwendung von Tierarzneimitteln ermöglicht werden. Weiterhin fordern sie innovative digitale Instrumente für den Austausch von Informationen über Engpässe und medizinische Ausrüstung in den Mitgliedstaaten. Für Arzneimittel, die auf dem Gebiet der Union verkauft werden, sollen in allen Sprachen der EU zugängliche elektronische Beipackzettel erstellt werden.
Gesundheit als „geostrategische Waffe“
„Die öffentliche Gesundheit ist zu einer geostrategischen Waffe geworden, die einen Kontinent in die Knie zwingen kann“, sagte die Berichterstatterin Colin-Oesterlé nach der ENVI-Abstimmung. „Unsere Abhängigkeit von Drittländern ist durch die derzeitige Pandemie exponiert. Ich fordere in meinem Bericht eine echte pharmazeutische Industriestrategie.“
Der CDU-Europaabgeordnete und gesundheitspolitische Sprecher der EVP-Fraktion, Peter Liese, pflichtet ihr bei: „Die Coronakrise hat uns noch einmal verdeutlicht, wie sehr wir bei der Produktion von Arzneimitteln in den Händen von Drittstaaten wie China und Indien liegen“, erklärt der Christdemokrat. „Wir wollen deshalb eine generelle Diversifizierung der Produktion. Das ist fraktionsübergreifend Konsens.“ Liese wünscht sich, dass bei den Ausschreibungen durch die Krankenkassen oder die staatlichen Gesundheitssysteme auch andere Kriterien einbezogen werden müssen als allein der Preis. So sollen seiner Meinung nach mindestens zwei Produktionsstätten für die Ausgangssubstanz bereitstehen, wovon eine in Europa sein muss.
Der Bericht wird voraussichtlich auf der Tagesordnung der Plenartagung des Europäischen Parlaments im September stehen.
1 Kommentar
Sanktionen
von Holger am 12.08.2020 um 13:16 Uhr
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