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Trojanisches Pferd?
Viele offene Fragen bei der europäischen Nutzenbewertung für Arzneimittel
Eines der vielen Themen für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ist die Einführung einer europäischen Nutzenbewertung für neue Arzneimittel. Auch die EVP-Fraktion im EU-Parlament dringt auf ein europäisches Bewertungsverfahren. Der Vorschlag der EU-Kommission vom Januar 2018 ist jedoch ins Stocken geraten. Denn dabei treffen viele unterschiedliche Interessen der Mitgliedstaaten aufeinander.
Der Zugang neuer Arzneimittel zum deutschen GKV-Markt findet seit 2011 über ein zweistufiges Verfahren statt. Zunächst führt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) eine „frühe Nutzenbewertung“ durch, auf deren Grundlage der Gemeinsame Bundesausschuss über den Zusatznutzen gegenüber einer Vergleichstherapie entscheidet. In einigen anderen EU-Ländern gibt es ähnliche Verfahren. In der zweiten Stufe handeln der Arzneimittelhersteller und der GKV-Spitzenverband einen Erstattungspreis für die Zeit ab dem 13. Monat nach Markteinführung aus. In anderen EU-Ländern gibt es vielfach ganz andere Regeln zur Erstattungsfähigkeit und Preisbildung.
Vorschlag für einheitliche europäische Nutzenbewertung
Im Januar 2018 präsentierte die Europäische Kommission einen Verordnungsentwurf, gemäß dem der erste Teil zentral für die ganze EU organisiert werden soll. Dafür sollen „EU-HTA“ (europäische health technology assessments) erstellt werden. Dies soll auch für Medizinprodukte der höheren Risikoklassen gelten. Deutschland, Frankreich und Tschechien werteten dies als zu starke Einmischung in die national organisierten Gesundheitssysteme und reagierten darauf mit einer Subsidiaritätsrüge.
Der Vorschlag der Kommission wurde überarbeitet und dabei klargestellt, dass die nationalen Gesundheitssysteme weiterhin für die Erstattungsfähigkeit und für die Preisbildung zuständig bleiben sollen. Daraufhin schloss das EU-Parlament im Februar 2019 die erste Lesung dazu ab. Nun ist der Europäische Rat für die weitere Bearbeitung zuständig. Doch scheint sich dabei wenig zu bewegen und am 26. Juni 2020 titelte die „Ärzte Zeitung“ sogar „Europäische Nutzenbewertung auf Eis gelegt?“ In dem Beitrag wird ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums zitiert. Demnach werde die deutsche EU-Ratspräsidentschaft das Dossier „bestmöglich voranbringen“ und sich weiterhin für eine zügige Beratung einsetzen.
Wie weit sind Nutzenbewertung und Preisbildung trennbar?
Darum soll hier betrachtet werden, um was es bei dem Vorschlag geht und welche Interessen die Beteiligten verfolgen. Theoretisch erscheint die Trennung zwischen Nutzenbewertung und Preisbildung überzeugend. Doch praktisch kann es Wechselwirkungen geben. Die Auswahl des Vergleichsarzneimittels kann einen Preisanker setzen. Das Wissen um die Konsequenzen kann die Entscheidung über die Nutzenbewertung beeinflussen. Ob die Negierung des Zusatznutzens in einem System zum Ausschluss des Produktes vom Markt oder anderswo nur zu einem geringeren Preis führt, kann über Nuancen der Bewertung entscheiden. Bei einer zentralen Bewertung wäre das nicht mehr möglich. Fraglich wäre auch, wie mit Vergleichstherapien umzugehen ist, die nicht überall zugelassen sind. Derzeit kann dies zu unterschiedlichen Bewertungen führen.
Komplexe politische Interessenlage
Doch eine zentrale Bewertung bietet auch Vorteile. Der international tätigen Industrie sind die nationalen Verfahren schon lange ein Dorn im Auge. Denn dafür müssen in jedem Land mühsam Unterlagen erstellt und nationale Besonderheiten beachtet werden. Eine gemeinsame Bewertung könnte den Aufwand verringern und verspricht in manchen Ländern zudem einen schnelleren Marktzugang. Vier maßgebliche deutsche Verbände der Pharmaindustrie haben schon in einem Positionspapier vom 4. Juli 2018 ihre Unterstützung für das europäische Verfahren bekundet, insbesondere mit Blick auf die Angleichung der Anforderungen, die Schaffung von Synergien und die Verbesserung des Zugangs der Patienten zu neuen Arzneimitteln. Allerdings bemängelte die Industrie, dass im Vorschlag der EU-Kommission konkrete methodische Vorgaben fehlen würden. Oberste Prämisse müsse sein, dass sich die Versorgungssituation der Patienten in Deutschland nicht verschlechtere.
Folgen für Patienten
Von der europäischen Bewertung würden vermutlich insbesondere Patienten in solchen Ländern profitieren, in denen Innovationen bisher eher langsam ankommen. Dort wäre der Nutzen von Innovationen deutlicher zu erkennen. Über die Auswirkungen auf Länder mit großen Institutionen für die Nutzenbewertung, wie Deutschland und Frankreich, lässt sich dagegen nur spekulieren. Denn es hinge von den Details künftiger Regularien ab, ob das zentrale Verfahren strenger oder milder als die derzeitigen nationalen Verfahren sein wird. Die Arbeit würde ohnehin bei den bestehenden Institutionen bleiben, die dann aber nach den gemeinsamen Regeln arbeiten müssten. Allgemein vorteilhaft könnte sich die Bewertung von Medizinprodukten auswirken, die im Vergleich zu Arzneimitteln bisher eher lückenhaft erscheint.
Viel komplexer sind dagegen die politischen Interessen. Der Gesundheitsökonom Professor Reinhard Busse von der TU Berlin konstatierte in einer Präsentation vom 4. Juni 2019 eine „unheilige Allianz“ zwischen ganz verschiedenen EU-Mitgliedstaaten. Länder mit ausgeprägten Strukturen für die Nutzenbewertung würden mit ihrer Methodik spezifisch auf ihre Bedürfnisse eingehen und diese erhalten wollen, während Länder wie Polen oder Bulgarien „nicht wollen, dass der Mehrwert neuer Technologien sichtbar wird, weil sie dann ihrer Bevölkerung diese nicht mehr vorenthalten können“. Daher setzen sich einige Länder im Europäischen Rat für eine Regelung mit Rücksicht auf nationale Besonderheiten ein, andere Länder fordern dagegen verbindliche europäische Bewertungen.
Die Vor- und Nachteile im Überblick
Ein fraglicher Punkt ist demnach die Verbindlichkeit. In einer Publikation des Gemeinsamen Bundesausschusses über die „Verhandlungsperspektiven zur EU-HTA-Verordnung“ von Ortwin Schulte, Leiter des Gesundheitsreferates in der Ständigen Vertretung bei der EU, vom 3. Dezember 2019 werden als weitere offene Fragen der gerichtliche Rechtsschutz, der Anwendungsbereich und die Streitbeilegung genannt. Die Kommission wolle demnach Rechtsschutz auch zur wissenschaftlichen Bewertung vor dem Europäischen Gericht, während Deutschland und Frankreich für diesen Fall eine Überlagerung mit nationalen Verfahren fürchten. Die Kommission wolle alle neu zugelassenen Arzneimittel zentral bewerten, Deutschland und Frankreich dagegen nur etwa zehn ausgewählte Produkte pro Jahr. In Streitfällen wolle die Kommission zudem Abstimmungen mit einfacher Mehrheit ermöglichen.
Im Newsletter „Europapolitik“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vom 28. Januar 2020 wurden die rechtlichen Möglichkeiten, gegen die Bewertungen vorzugehen, die Einbeziehung von Medizinprodukten, die Kompetenzen der Europäischen Kommission und die Verbindlichkeit für die Mitgliedstaaten als kritische Punkte benannt. Außerdem hieß es dort, dass die damalige finnische Ratspräsidentschaft im Juli 2019 eine schrittweise Einführung des EU-HTA als Kompromiss vorgeschlagen habe. Demnach sollte sie in den ersten fünf Jahren zunächst auf fünf bis zehn Produkte eines Indikationsgebietes beschränkt sein.
Mischt sich die EU zu sehr ein?
Unabhängig von den divergierenden Interessen der Mitgliedstaaten sprechen aus gesamteuropäischer Perspektive folgende Vorteile für die europäische Bewertung: Mehrfache Arbeit wird vermieden, die Zusammenarbeit zwischen den Ländern wird verstärkt, die Industrie erhält eine vereinheitlichte Grundlage für ihre Arbeit und die Bedeutung der EU steigt. Der letzte Aspekt könnte aber zu einem fundamentalen Problem werden. Trotz einiger Vorteile in der Sache stellt sich die Frage, ob die EU-Kommission mit dieser Idee einen Fuß in die Tür der Gesundheitssysteme bekommen will, die gemäß den Regeln der EU eine nationale Angelegenheit sind. Überspitzt gesagt: Ist der sachlich durchaus attraktive Vorschlag eine Art trojanisches Pferd, um die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für ihre Gesundheitssysteme auszuhebeln? Würde sich die EU-Kommission dann künftig mit ganz anderen Regeln mehr in die Systeme der Mitgliedstaaten einmischen?
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