Potenzielle Vergiftung Nawalnys

Was machen Cholinesterasehemmer?

Stuttgart - 25.08.2020, 17:50 Uhr

Auch wenn der Kreml die Diagnose der Ärzte der Berliner Charité als voreilig abtut, geht man derzeit davon aus, dass Alexej Nawalny mit einem Cholinesterasehemmer, vielleicht in einer Tasse Tee, vergiftet wurde. (Foto: M-SUR / stock.adobe.com)

Auch wenn der Kreml die Diagnose der Ärzte der Berliner Charité als voreilig abtut, geht man derzeit davon aus, 
dass Alexej Nawalny mit einem Cholinesterasehemmer, vielleicht in einer Tasse Tee, vergiftet wurde. 
(Foto: M-SUR / stock.adobe.com)


Alexej Nawalny, russischer Oppositioneller, wurde den Angaben der Berliner Charité zufolge aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Acetylcholinesterasehemmer vergiftet. Welche Substanz genau Nawalny untergemischt wurde, ist derzeit nicht bekannt. Doch Cholinesterasehemmer sind bekannt – als Kampf- und Nervengase wie Sarin und Nowitschok, als Insektizide wie Parathion und als Arzneimittel. Wie wirken Cholinesterasehemmer gleich nochmal?

Cholinesterasehemmer nutzt die Pharmazie therapeutisch: Die Carbaminsäure-Derivate Physostigmin, Neostigmin, Pyridostigminbromid und Distigminbromid hemmen reversibel das aktive Zentrum der Acetylcholin-Esterase (AChE), erhöhen dadurch die Konzentration des Neurotransmitters Acetylcholin im synaptischen Spalt und verstärken folglich dessen Wirkung. Sie werden auch als indirekte Parasympathomimetika bezeichnet. Atropin kann als Anticholinergikum der Acetylcholin-Flutung entgegenwirken, da es die Acetylcholin-Rezeptoren des parasympathischen Systems blockiert (Parasympatholytikum).

Acetylcholinesterasehemmer in Arzneimitteln

Distigminbromid

  • neurogene Blasenentleerungsstörungen mit hypotonem Detrusor im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts,
  • Myasthenia gravis
  • Postoperativer Darmatonie (nur i.m.)

Neostigmin (Neostigmin Rotexmedica 0,5 mg/ml Injektionslösung)

  • Antagonisierung der muskelrelaxierenden Wirkung nichtdepolarisierender Muskelrelaxantien (Aufhebung der Wirkung bestimmter muskelerschlaffender Arzneimittel, die bei Operationen angewendet werden)
  • Myasthenia gravis (Erkrankung mit vorzeitiger Ermüdung der Muskeln bei Belastung).

Physostigmin (Anticholium®) ist ZNS-gängig und wird eingesetzt zur Behandlung postoperativ auftretender Störungen:

  • Zentrales anticholinerges Syndrom (ZAS)
  • Verzögertes postoperatives Erwachen
  • Kältezittern (Shivering)

Als Antidot/ Antagonist bei Vergiftungen bzw. Überdosierung mit:

  • Alkohol
  • Tropanalkaloiden (Hyoscyamin, Atropin, Scopolamin, z. B. in      Engelstrompete, Stechapfel, Tollkirsche)
  • Panther- und Fliegenpilz
  • Trizyklischen Antidepressiva (Amitriptylin, Imipramin, Trimipramin,  Clomipramin, Doxepin)
  • Antiemetika/Antihistaminika (Phenothiazin, Thioridazin,  Chlorpromazin, Promethazin, Diphenhydramin, Dimenhydrinat)
  • Neuroleptika (vor allem Butyrophenone)
  • Benzodiazepinen
  • Spasmolytika (Tolderodin, Oxybutynin)
  • Antiparkinsonmitteln (Amantadin, Diphenhydramin)
  • Baclofen, 4-Hydroxybutansäure (GHB)
  • Inhalationsanästhetika
  • Ketamin
  • 3-Chinuclidinylbenzila

Pyridostigminbromid

  • zur Behandlung von Myasthenia gravis

Als einzige Substanz ist Physostigmin ZNS-gängig, was den Einsatz als Antidot bei Vergiftungen/ Überdosierungen mit unter anderem Tropanalkaloiden erlaubt. Pyridostigminbromid wirkt schwächer als Neostigmin, weist aber eine größere therapeutische Breite auf, die Wirkung setzt allmählich ein und dauert länger. Distigminbromid zeichnet sich durch eine besonders lange Halbwertszeit von 65 Stunden aus, was bei einer Dauertherapie ein Dosisintervall von zwei bis drei Tagen erlaubt.

Neben reversiblen AChE-Hemmstoffen, die als Arzneimittel eingesetzt werden, gibt es auch Substanzen, die das Enzym irreversibel blockieren – beispielsweise Organophosphate. Sie sind toxikologisch relevant – als Kampfgase wie Sarin oder die Nervengifte der Nowitschok-Gruppe – und werden auch als Insektizide (Parathion=E605) eingesetzt.

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Nervenkampfstoff Nowitschok

Wie Acetylcholin binden auch die Organophosphate an das katalytische Zentrum der Acetylcholin-Esterase. Marquardt, Schäfer und Barth erklären in ihrem Fachbuch „Toxikologie“ die Wirkungsweise wie folgt: „Nach Abspaltung des Acylrests reagiert die elekrophile, positiv geladene P-Gruppe des Organophosphats mit der funktionellen OH-Gruppe eines Serinrests im nukleophilen, katalytischen Zentrum der Cholinesterase. Diese Organophosphat-Enzymbindung ist jedoch noch instabil, sodass die Acetylcholinesterase spontan oder durch nukleophile Oxime reaktivierbar ist.“

Zur Erklärung: Beim Antidot Obidoxim werden die Phosphatgruppen, die die AChE blockieren, auf das Oxim übertragen. Das funktioniert allerdings nur in einem gewissen Zeitfenster: Denn wird ein „weiterer Substituent vom Organophosphat abgespalten, geht der monosubstituierte Phosphorsäurerest eine stabile Bindung mit dem Enzym ein, die nicht mehr durch Oxime reaktivierbar ist“. Dieser sogenannte Alterungsprozess dauert Marquardt, Schäfer und Barth zufolge in Abhängigkeit vom Wirkstoff mehrere Stunden bis Tage. Besonders schnell verläuft die Enzymhemmung bei Soman, neben Sarin und Tabun der dritte in Deutschland entwickelte chemische Kampfstoff, mit einer Halbwertszeit von nur 1,3 Minuten. Für Sarin wird eine Halbwertszeit von etwa drei Stunden angegeben.

Das Organophosphat (2) bindet kovalent an das Serin im aktiven Zentrum der AChE (1), nachdem es die Abgangsgruppe X abgespalten hat (3). Bei rechtzeitiger Anwendung eines Antidots wie Obidoxim kann der inaktivierte Enzymkomplex reaktiviert werden. Vergeht zu viel Zeit, wird ein weiterer Rest des Organophosphats abgespalten (4), und das Enzym wird irreversibel inaktiiviert.

Blockade der Atmung und des Herzmuskels

Die physiologischen Effekte durch Organophosphate, wie Nowitschok, lassen sich auf eine Anreicherung von ACh im zentralen und peripheren Nervensystem zurückführen. An muscarinergen Rezeptoren führt Acetylcholin zu muscarinergen Wirkungen, wie Tränenfluss, Speichelfluss, erhöhte Bronchialsekretion, gesteigerte Magen-Darm-Sekretion und Peristaltik mit Spasmen, Miosis (Pupille verengt) und Sehstörungen, Bradykardie, Blutdrucksenkung und vermehrte Schweißsekretion. Reichert sich ACh an nicotinischen Rezeptoren der parasympathischen und sympathischen Ganglien und der motorischen Endplatte an, kommt es zu Muskelsteife, Tremor, Muskelzuckungen, tonisch-klonischen Krämpfen, Sprachstörungen und Parästhesien, Bewusstseinsstörungen bis hin zur Atemlähmung. Zunächst kommt es durch die Acetylcholin-Flutung zu einer Dauererregung mit Kontraktion der Muskulatur, dieser schließt sich eine Lähmung an. Letztlich sterben die Opfer durch die Blockade der Atmung und des Herzmuskels.

Als Antidot wird Atropin eingesetzt und vor Alterung auch Obidoxim beziehungsweise Pralidoxim.

Der Neurotransmitter Acetylcholin

Der Neurotransmitter Acetylcholin spielt sowohl im peripheren und auch zentralen Nervensystem eine Rolle. Peripher übermittelt ACh an der neuromotorischen Endplatte die Signalübertragung von Nerven auf die Muskeln. Wichtige zentrale ACh-Gebiete sind das Corpus striatum, der Nucleus basalis Meynert und die Formatio septalis medialis.

Acetylcholin ist der wichtigste Transmitter im vegetativen Nervensystem – Parasympathikus und Sympathikus: ACh fungiert als Neurotransmitter aller autonomen – also parasympathisch und sympathisch – präganglionären Neurone, zudem vermittelt er beim Parasympathikus auch postganglionär die Signalübertragung. Hingegen ist beim Sympathikus der wichtigste postganglionäre Neurotransmitter Noradrenalin – einzige Ausnahme bilden die Schweißdrüsen, die, obwohl sympathisch innerviert, Acetylcholin als postganglionären Neurotransmitter nutzen.

ACh wird nach Freisetzung aus den Nervenfasern rasch durch die Acetlycholinesterase in der prä- und postsynaptischen Membran inaktiviert. Diese spaltet den Neurotransmitter in Cholin und Essigsäure, wobei Cholin wieder in das Axon aufgenommen wird (Essigsäure über den Blutweg abtransportiert). Mittels Acetylcholintransferase entsteht im Axon sodann aus Cholin plus Acetyl-CoA wieder Acetylcholin.

Acetylcholin bindet an Nicotin- oder Muscarinrezeptoren. Nicotinrezeptoren sind ligandengesteuerte Ionenkanäle, an welchen auch Nicotin agonistisch wirkt. Muscarinrezeptoren (M1 bis M5) sind G-Protein-gekoppelt, hier wirkt Muscarin agonistisch. Acetylcholin bewirkt, dass

  • die Herzfrequenz sinkt (Bradykardie),
  • der Blutdruck sinkt,
  • die Speichel-, Magensaft-, Bronchial- und Schweißsekretion steigt,
  • der Tonus der glatten Muskulatur des Magen-Darmkanals und der ableitenden Harnwege und der Bronchialmuskulatur steigt,
  • sich die Pupille verengt (Miosis) und das Auge auf den Nahpunkt akkomodiert.

Marquardt, Schäfer und Barth gehen noch auf einen weiteren Angriffsort der Organophosphate ein: die neurotoxische Esterase. Auch diese wird durch Phosphorylierung gehemmt. Neurotoxische Wirkungen, primär das Axon betreffende Schädigung und auch Destruktion der Myelinscheiden sind die Folge. Sie können mit einer Latenzzeit von bis zu vier Wochen auftreten und äußern sich in Parästhesien der unteren Extremitäten, Schwäche, Ataxie, spastische Paralyse, die sodann auch die oberen Extremitäten betrifft. Häufig bilden sich die Symptome nur sehr langsam und unvollständig zurück.

Fall Skripal und Nowitschok

Bislang ist unklar, mit welcher Substanz aus der Gruppe der Cholinesterasehemmer Alexej Nawalny womöglich vergiftet wurde. Die russische Regierung in Moskau dementiert aktuell noch den Tatverdacht einer Vergiftung und bezeichnet die Diagnose der Berliner Charité-Ärzte als „voreilig“. Laut Deutschlandfunk will Moskau erst dann Ermittlungen einleiten, wenn eine konkrete Substanz nachgewiesen wurde.

Ein Cholinesterasehemmer aus der Nowitschokgruppe, wurde auch beim Giftanschlag auf Sergei und Yulia Skripal 2018 im großbritannischen Salisbury verwendet.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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