Lieferengpässe bei Arzneimitteln

Klinikapotheker Hug: „Ich weiß nicht, wo das alles enden wird“

Berlin - 02.09.2020, 15:30 Uhr

Lieferengpässe bei Arzneimitteln bereiten längst nicht mehr nur Apothekern Kopfzerbrechen: Die Bundesregierung hebt das Problem während ihrer EU-Ratspräsidentschaft auf die europäische Bühne. (s /Foto: imago images / Future Image)

Lieferengpässe bei Arzneimitteln bereiten längst nicht mehr nur Apothekern Kopfzerbrechen: Die Bundesregierung hebt das Problem während ihrer EU-Ratspräsidentschaft auf die europäische Bühne. (s /Foto: imago images / Future Image)


Die Zahl der Lieferengpässe bei Arzneimitteln steigt – und das bereitet Professor Martin Hug, Leiter der Krankenhausapotheke des Klinikums Freiburg, große Sorge. Gemeinsam mit BfArM-Präsident Professor Karl Broich und Stada-Vertreter Eelco Ockers diskutierte er bei der virtuellen Jahrestagung des House of Pharma, wie es gelingen kann, die Verfügbarkeit von Medikamenten wieder zu sichern.

Arzneimittel haben ein Problem: Einerseits sind sie besondere Güter, die Menschen heilen oder deren Leid lindern können. Andererseits unterliegen sie den Regeln des Marktes – und das ist vor allem dann kritisch, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt. Werden sie knapp, kann das im Extremfall für jene Patienten, die auf eine bestimmte Behandlung angewiesen sind, ein lebensbedrohlicher Zustand sein.

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In den vergangenen Jahren hat sich die Zahl der Lieferengpässe in etwa vervierfacht, berichtete Professor Martin Hug am heutigen Mittwoch bei der Jahrestagung des House of Pharma. „Als ich 2013 angefangen habe, mich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen, hatten wir etwa 100 Ausfälle im Jahr. Heute sind es 400“, so der Klinikapotheker. „Ich weiß nicht, wo das alles enden wird.“

Gemeinsam gegen Lieferengpässe

Inzwischen ist das Thema auf höchster politischer Ebene angekommen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich für die deutsche Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 fest vorgenommen, Liefer- und Versorgungsengpässe bei Medikamenten wirksam zu bekämpfen. Ein Pfeiler seines Vorhabens ist es, die Produktion zurück nach Europa zu holen. Doch löst man damit wirklich das Problem?

Aus der Sicht von Professor Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), gilt es dabei zu differenzieren. „Das Problem ist nicht der Ort an sich, sondern die Monopolisierung der Produktion“, betonte er. Als kürzlich das Narkosemittel Propofol knapp zu werden drohte, lag das an Schwierigkeiten eines Herstellers mit Sitz in Italien. Und auch die Versorgungslücke mit dem Krebsmedikament Melphalan vor einigen Jahren hatte ihren Ursprung in Italien.

Auch ZNS-wirksame Arzneimittel machen Probleme

Die Lieferschwierigkeiten bei Melphalan seien ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein Engpass zur akuten Bedrohung für Patienten entwickeln könne, ergänzte Hug. Er wies darauf hin, dass der Wirkstoff damals auch in Indien produziert wurde und in der Not von dort für die Versorgung der Betroffenen hierzulande eingekauft wurde. „Wir nehmen in solchen Situationen anderen Nationen ihre Arzneimittel weg“, kritisierte er. Er gab zu bedenken, dass es womöglich keinen guten Eindruck hinterließe, wenn die „reichen“ Europäer kranken Menschen in Schwellenländern ihre dringend benötigten Medikamente wegkauften.

Weg mit den Exklusivverträgen

Was die Verlagerung der Produktion vieler Wirkstoffe nach Indien und China betrifft, hätten sich diese beiden Länder während der Coronavirus-Pandemie in puncto Lieferfähigkeit fast besser behauptet als Hersteller in Europa, sagte Hug mit Blick auf die Propofol-Situation. „Das ist nicht per se ein Nachteil.“ Wie Broich plädierte er dafür, die Herstellung an mehreren Standorten zu stärken. Eelco Ockers vom Generikahersteller Stada warb in diesem Zuge dafür, bei der Vergabe von Rabattlosen von exklusiven Verträgen abzusehen. „Wenn es nur einen Gewinner mit nur einer Wirkstoffquelle gibt, wird ein Lieferengpass schnell zu einem echten Versorgungsengpass“, warnte er.

Zudem habe das Preisdumping bei Medikamenten wesentlich dazu beigetragen, dass die Pharmafirmen abgewandert seien. Wenn die Unternehmen zum Beispiel für eine Dosis eines Grippeimpfstoffs lediglich noch etwa 1 Euro erhielten, setzten sie halt auf andere Pferde. „Für Grippeimpfstoffe hatten wir eine Produktionsstätte vor der Haustür“, sagte Ockers mit Verweis auf Novartis. Inzwischen habe der Konzern umgestellt und produziere stattdessen ein Biologikum in jenen europäischen Hallen, die einst für die Vakzinen vorgesehen waren.

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Krebsmedikamente und Antibiotika – da waren sich die Diskutanten einig – gehören ganz oben auf die Liste der Wirkstoffe, für die in Europa wieder Produktionskapazitäten geschaffen werden müssen. Hug ergänzte die Liste noch um eine dritte Arzneistoffgruppe: ZNS-wirksame Pharmaka. Diese stünden besonders häufig auf der Engpassliste des BfArM. Für die betroffenen Patienten sei es mehr als problematisch, wenn sie ihr Antidepressivum, ihr Parkinson-Medikament oder ihr Antiepileptikum plötzlich nicht mehr bekämen. Ein Austausch – das ist auch an den jüngst veröffentlichten Äquivalenzdosistabellen für Antidepressiva abzulesen – stellt Ärzte und Patienten oft vor schwerwiegende Probleme. Daher sei es wünschenswert, für diese Mittel wieder mehr Liefersicherheit zu schaffen.



Christina Müller, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (cm)
redaktion@daz.online


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