Corona-Thesenpapier 4.0

Stabile Kontrolle und vernünftiger Diskurs

Berlin - 03.09.2020, 13:00 Uhr

Zielgruppen-orientierte Prävention bedeutet auch, Ziele des Infektionsschutzes selbst unter Pandemie-Bedingungen mit der Würde von Heimbewohnern in Einklang zu bringen. (c / Foto: imago images / Norbert Schmidt)

Zielgruppen-orientierte Prävention bedeutet auch, Ziele des Infektionsschutzes selbst unter Pandemie-Bedingungen mit der Würde von Heimbewohnern in Einklang zu bringen. (c / Foto: imago images / Norbert Schmidt)


Im August war die Zahl der gemeldeten SARS-CoV-2-Infektionen wieder gestiegen, während sich die klinischen Folgen der Infektion abschwächten. Wie lässt sich die Epidemie, die mittlerweile nicht mehr durch Cluster-Ausbrüche gekennzeichnet ist, angesichts der bevorstehenden kälteren Jahreszeit kontrollieren? Darüber haben sich verschiedene Experten, darunter Professor Gerd Glaeske, in ihrer nunmehr vierten Version eines Corona-Thesenpapiers Gedanken gemacht. Einer ihre Appelle lautet: Corona nicht politisieren.

Kurz vor Ostern machte ein Thesenpapier von Medizinern, Juristen und anderen Experten im Gesundheitsbereich zur SARS-CoV-2-Pandemie die Runde. Unter dem Titel „Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren“ nahmen unter anderem die ehemaligen Gesundheitssachverständigenrats-Mitglieder Professor Matthias Schrappe und Professor Gerd Glaeske, die frühere Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit Hedwig François-Kettner und der Vorsitzende des BKK-Dachverbands Frank Knieps die politischen Entscheidungen rund um die Coronakrise aus verschiedenen Blickwinkeln kritisch unter die Lupe. Anfang Mai folgte eine Version 2.0, Ende Juni das Thesenpapier 3.0.

Mittlerweile hat sich die Corona-Welt erneut weitergedreht. Zuletzt stiegen die Infektionszahlen wieder – in dieser Woche scheinen sie sich zu stabilisieren. Klar ist: In den vergangen Monaten wurden viele Erfahrungen gesammelt. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonte am gestrigen Mittwoch, dass man nach wie vor täglich dazulerne. Er steht noch immer zu den im vergangenen März ergriffenen Maßnahmen – zu diesem Zeitpunkt seien sie richtig gewesen. Heute wisse man: Die AHA-Regeln – Abstand, Hygiene, Alltagsmasken – seien die beste Waffe gegen das Virus. Etwa im Einzelhandel oder Pflegeheimen sei die Lage gut im Griff. Bund und Länder hätten zudem vereinbart, auf lokale Ausbrüche regional angepasst zu reagieren. Maßnahmen wie im März werde es „sicherlich nicht noch mal so flächendeckend“ geben, Spahn.

In dieser Situation haben die Thesenpapier-Autoren nun die vierte Version ihrer Überlegungen vorgelegt – eine Bestandsaufnahme mit Handlungsempfehlungen anlässlich des Übergangs der Pandemie in die „chronische Phase“.

Ihr Ausgangspunkt ist, dass nach der herdförmigen Ausbreitung von SARS-CoV-2 (Cluster) nun die „sporadische Dynamik“ dominiere. Zugleich stellen die Autoren fest, dass sich parallel zur Zunahme der gemeldeten Infektionen die klinischen Folgen abgeschwächt haben: Die Hospitalisierungsrate sei in den letzten Wochen von über 20 Prozent auf 9 Prozent abgefallen, die Zahl der intensivmedizinisch betreuten Patienten von 3.000 auf 230 und die Mortalität der Infizierten von 
7 Prozent auf 0,4 Prozent gesunken – das dürfte mit der zunehmenden Testung nicht-erkrankter Personen, einem jüngeren Durchschnittsalter und einer Verbesserung der organisatorischen Abläufe in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen zusammenhängen.

Verletzliche Gruppen würdevoll schützen, Ressourcen schonen

Die Autoren sind überzeugt: Die „schleichende“ sporadische Ausbreitung wird im begrenzten Umfang weiter zunehmen – auch ein deutlicher Anstieg kann nicht ausgeschlossen werden –, sie kann aber aufgefangen werden. Und zwar mit „einer stabilen Kontrolle durch klug geplante, Zielgruppen-orientierte Präventionsmaßnahmen“. Diese Situation sei zu bewältigen, wenn die vulnerablen Gruppen (wobei individuelle Würde und Humanität zu wahren sind!) geschützt und die Ressourcen des Gesundheitssystems (Organisation, Bettenkapazität) in der jetzigen Form aufrechterhalten werden. Therapie und Impfstoffentwicklung seien zwar denkbare Lösungen – die Epidemie müsse aber auch dann stabil kontrolliert werden, wenn sich hier Verzögerungen ergeben sollten.

Was die derzeit sehr breit durchgeführten Tests betrifft, so schlagen die Autoren vor, diese wieder zu beschränken. In erster Linie sollten Kollektive mit höherer Prävalenz, solche mit höherem oder unbekanntem Infektionsrisiko (z. B. Lehrer, Kindergartenmitarbeiter) und solche mit hohem individuellem Risiko für Komplikationen (z. B. Bewohner von Pflegeheimen und deren Angehörige, ambulante Pflege) getestet werden. Hier wie auch sonst gehe es um das primäre Ziel einer „stabilen Kontrolle“ der Epidemie. „Eine Eradikation scheidet ebenso aus wie die Strategie der Herdenimmunität“.

Eine weitere Botschaft von Glaeske und seinen Mitstreitern lautet: Corona nicht politisieren. „Die Interpretation der epidemiologischen Situation und die Auseinandersetzung über die beste Strategie der Pandemiebekämpfung sollte nicht von Kalkülen kurzfristiger politischer Positionsvorteile dominiert werden und ist auch nicht als Gegenstand des anstehenden Wahlkampfes geeignet“, heißt es im Papier. Die Autoren plädieren für einen vernünftigen, fairen und rationalen Diskurs zwischen Politik, Wissenschaft und Medien. Fakten und Meinungen seien zu trennen, Entscheidungen zu begründen – und zwar transparent. Die jeweiligen Rollenzuweisungen müssten klar zu erkennen sein, um daraus abgeleitet die Verantwortlichkeiten in einem demokratischen Rechtsstaat abzugrenzen. „Nur unter diesen Voraussetzungen ist es möglich, das Vertrauen der Bürger in die rechtsstaatlich demokratische Kommunikation zu stärken“.



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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