Rote-Hand-Brief zum MS-Arzneimittel Gilenya

Akutes Leberversagen unter Fingolimod

Stuttgart - 13.11.2020, 10:45 Uhr

Erhöhte Leberenzymwerte sind eine sehr häufige Nebenwirkung von Fingolimod. Nach schweren Leberschäden und transplantationspflichtigem akutem Leberversagen gibt es nun neue Empfehlungen, um das Risiko von Leberschäden unter Gilenya bei MS zu reduzieren. (Foto: Novartis)

Erhöhte Leberenzymwerte sind eine sehr häufige Nebenwirkung von Fingolimod. Nach schweren Leberschäden und transplantationspflichtigem akutem Leberversagen gibt es nun neue Empfehlungen, um das Risiko von Leberschäden unter Gilenya bei MS zu reduzieren. (Foto: Novartis)


Unter dem bei Multipler Sklerose eingesetzten Arzneimittel Gilenya (Fingolimod) kann es zu schweren Leberschäden und akutem, transplantationspflichtigem Leberversagen kommen. In einer Roten Hand informiert Zulassungsinhaber Novartis nun, welche risikominimierenden Maßnahmen Fingolimod-induzierte Leberschäden minimieren sollen.

Gilenya® wird als krankheitsmodifizierende Monotherapie (Disease Modyifying Drug) bei Patienten mit hochaktiver schubförmiger Multipler Sklerose (MS) angewendet. Eingesetzt werden darf es bereits bei Kindern ab einem Alter von zehn Jahren. Im Rahmen der periodischen Reviews der Sicherheitsdaten von Fingolimod fielen drei Fälle von Leberversagen unter mit Gilenya® behandelten MS-Patienten auf, die eine Lebertransplantation erforderlich machten. Darüber informiert der Zulassungsinhaber Novartis in einer Roten Hand. Bei einem der Patienten sei ein „starker Kausalzusammenhang mit dem Medikament impliziert“. Daneben seien auch Fälle von klinisch relevanter Leberschädigung beschrieben, die Anzeichen (erhöhte Leberenzymwerte und Gesamtbilirubin) seien sowohl bereits zehn Tage nach Therapiebeginn als auch bei längerer Therapiedauer mit Fingolimod beschrieben.

Leberwerte regelmäßig kontrollieren

„Erhöhte Leberenzymwerte sind eine sehr häufige Nebenwirkung des Medikaments, aber aufgrund des Schweregrads und des Ausmaßes von kürzlich berichteten Fällen wurden die Empfehlungen zu Therapieabbruch sowie zur Überwachung verstärkt und verdeutlicht, um das Risiko von DILI („drug-induced liver injury“)  zu minimieren“, erklärt Novartis. Künftig sollen Leberfunktionstests (einschließlich Serumbilirubin) vor Therapiebeginn und in den Monaten 1, 3, 6, 9 und 12 Monaten erfolgen und danach regelmäßig bis zwei Monate nachdem Gilenya abgesetzt wurde. Auch ohne klinische Symptome einer Leberschädigung (und ohne erhöhte Bilirubinwerte) soll bei erhöhten Leberwerten zwischen dem 3-Fachen und 5-Fachen der Obergrenze des Normalwerts eine häufigere Überwachung eingeleitet werden. Dabei sollten neben den Transaminasen auch die Bilirubinwerte sowie die alkalische Phosphatase (ALK) jeweils bestimmt werden. Übersteigen die Lebertransaminasen das 5-Fache des Normalwerts, sollte die Fingolimod-Therapie unterbrochen werden. Das gilt auch bei Transaminasenwerten zwischen dem 3- und 5-Fachen des oberen Normwerts, wenn zusätzlich die Bilirubinspiegel erhöht sind.

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Sollten sich die Leberwerte normalisieren, kann die Fingolimod-Therapie unter sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung wieder aufgenommen werden. In klinischen Studie sei es allerdings bei Wieder-Exposition gegenüber Fingolimod bei einigen Patienten erneut zu erhöhten Lebertransaminasen-Werten gekommen, erklärt Novartis. Das deute auf einen Zusammenhang mit Fingolimod.

Bei klinischer Symptome, die auf eine Leberfunktionsstörung hinweisen, sollten Leberenzyme und Bilirubin „umgehend überprüft“ werden. Bestätige sich eine relevante Schädigung der Leber, sollte Fingolimod abgesetzt werden.

Wie wirkt Fingolimod?

Fingolimod zählt zu den selektiven Immunsuppressiva. Als Prodrug wird Fingolimod durch die Sphingosin-Kinase zum aktiven Metaboliten Fingolimod-Phosphat metabolisiert. Es bindet an den Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor (S1P-Rezeptor) auf Lymphozyten, wirkt dort als funktioneller Antagonist und blockiert deren Migration. Dadurch verhindert Fingolimod, dass Lymphozyten aus den Lymphknoten wandern können. Die Wirkung von Fingolimod auf Lymphozyten lässt sich somit eher als Umverteilung von Lymphozyten beschreiben als durch eine Depletion. Aufgrund des Festhaltens der Lymphozyten in den Lymphknoten sollen auch weniger pathogene Lymphozyten (Th17-Zellen) das Zentralnervensystem infiltrieren, die dort neuronale Entzündungen und Nervendestruktion fördern. Letzteres konnte in tierexperimentellen Studien gezeigt werden. Nach Gabe von Fingolimod (oral) sinkt bereits nach wenigen Stunden die Lymphozytenzahl im Blut auf 75 Prozent des Ausgangswertes. Gilenya® wirkt vorwiegend auf Lymphozyten (B- und T-Lymphozyten), die regelmäßig durch die Lymphknoten zirkulieren, wohingegen T-Lymphozyten mit Effektor-Memory-Phänotyp in den peripheren Geweben nicht beeinflusst werden (15 bis 20 Prozent). Darüber hinaus kann Fingolimod-Phosphat auch die Blut-Hirn-Schranke überwinden und dort direkt an den S1P-Rezeptor auf Nervenzellen binden.

Nicht in der Schwangerschaft

Erst im Juli 2019 schränkte die EMA die Anwendung von Fingolimod ein: Fingolimod ist seither bei Schwangeren und MS-Patientinnen mit Kinderwunsch kontraindiziert. Die EMA warnte vor Fehlbildungen an Herz, Nieren, Knochen und Muskeln beim Kind, wenn Frauen unter dem Multiple-Sklerose-Arzneimittel schwanger werden. Besteht unter Gilenya® ein Kinderwunsch, müssen Frauen nach Absetzen von Fingolimod noch zwei Monate sicher verhüten.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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