Digitaler Eppendorfer Dialog

Großes Potenzial für bewährte Wirkstoffe

Hamburg - 20.01.2021, 12:15 Uhr

Am Dienstag fand der 25. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik statt – erstmals als Online-Veranstaltung. (Screenshot: eppendorferdialog.de)

Am Dienstag fand der 25. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik statt – erstmals als Online-Veranstaltung. (Screenshot: eppendorferdialog.de)


Beim ersten komplett online veranstalteten Eppendorfer Dialog zeigte sich das große Potenzial bewährter Wirkstoffe auch für neue Anwendungsgebiete. Neue Nutzungen zu erschließen, scheitert allerdings an Fehlanreizen bei der Preisbildung für Arzneimittel. Über Lösungsansätze für dieses Problem wurde ebenso kontrovers diskutiert wie über geeignete Instrumente gegen Lieferengpässe.

Am Dienstag fand der 25. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik statt. Das Jubiläum war zugleich die Premiere als Online-Veranstaltung. Dabei ging es um die große Bedeutung der bewährten Arzneimittel als Fundament für die Versorgung. Durch die Veranstaltung führte Professor Achim Jockwig, Vorstandsvorsitzender des Klinikums Nürnberg, als Moderator. Zunächst stand das Repurposing im Vordergrund, also der Einsatz bekannter Arzneistoffe für neue Indikationen.

Chancen durch Wirkstoffe gegen viele Targets

Professor Theo Dingermann aus Frankfurt am Main erläuterte die großen Vorteile, wenn unter bekannten Arzneistoffen nach neuen Anwendungen gesucht wird. Die Ausfallrate bei der Forschung sei viel geringer als bei neuen Stoffen, die vorklinischen Untersuchungen und Tierversuche könnten entfallen und damit seien die Kosten niedriger. Da ältere Arzneistoffe noch nicht gezielt für ein bestimmtes Target entwickelt, sondern empirisch gefunden worden seien, böten sie große Chancen, auch neue Ziele im menschlichen Körper zu adressieren. 

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Mit Blick auf die Pandemie schränkte Dingermann jedoch ein, dies gelte nicht für Strukturen in Viren, gegen die gezielte Mittel nötig seien. Ein neues positives Beispiel für das Repurposing biete das Antidiabetikum Sitagliptin, das in Kombination mit Tacrolimus oder Sirolimus gegen Abstoßungsreaktion bei Stammzelltransplantationen untersucht werde. Außerdem zeichne sich für Metformin eine neue Perspektive als „Star der seriösen Anti-Aging-Forschung“ ab.

Fehlanreize bei der Preisbildung

Dr. Norbert Gerbsch, Leiter des Innovations- und Healthcare-Managements beim mittelständischen Pharmaunternehmen Pohl-Boskamp, beschrieb bewährte Wirkstoffe als Domäne der mittelständischen Industrie. Auf solche Wirkstoffe entfielen etwa 95 Prozent der Versorgung, aber nur etwa die Hälfte des Umsatzes der Arzneimittel. Sie seien zunehmend von Lieferengpässen betroffen, zumal die Wirkstoffproduktion seit dem Jahr 2000 zunehmend aus Europa abgewandert sei.

Im Vergleich zur Suche nach neuen Wirkstoffen erfordere das Repurposing zwar deutlich geringere Investitionen. Doch die Pharmaindustrie wende diese Beträge nicht auf, wenn sie keine Aussicht auf Refinanzierung habe. Die bestehenden Regularien würden damit gerade wirtschaftlich aussichtsreiche Entwicklungen verhindern, bei denen keine exorbitanten Preise drohen. Daher wies Gerbsch auf die Forderung der betroffenen Unternehmen hin, die Festbeträge und das Preismoratorium für neue Anwendungsgebiete auszusetzen, wenn dabei bestimmte Absatz- und Umsatzschwellen nicht überschritten werden. Öffnungsklauseln bei der Erweiterung der Indikation würden nicht weiterhelfen, wenn es um eine ganz neue Indikation gehe. Weiteren regulatorischen Handlungsbedarf sieht er bei altersgerechten Darreichungsformen für Kinder. Außerdem erinnerte Gerbsch an die Forderung, bei Rabattverträgen an jeweils drei Hersteller Zuschläge zu erteilen.

Sorge vor immer mehr Hochpreisern

Der Vorstandsvorsitzende des AOK Bundesverbands, Martin Litsch, ging mehr auf den Einsatz bewährter Wirkstoffe bei ihren etablierten Indikationen ein. Sie bildeten das Fundament der Arzneimittelversorgung. Durch Festbeträge und Rabattverträge seien sie wirtschaftlich gut steuerbar. Dagegen würden patentgeschützte Arzneimittel mit 7 Prozent der Versorgungsmenge etwa 50 Prozent des Umsatzes erzielen. Dieses Verhältnis sorge die Krankenkassen, zumal inzwischen jedes vierte neue Produkt Jahrestherapiekosten von mehr als 100.000 Euro habe.

Litsch kritisierte insbesondere die freie Preisbildung im ersten Jahr der Vermarktung. Stattdessen schlug er vor, die Nutzenbewertung und die Preisverhandlung so zu verkürzen, dass nach spätestens neun Monaten ein Betrag ausgehandelt sei. Bis dahin sollte ein Interimspreis gelten, der sich an der Vergleichsmedikation orientiert, und anschließend sollte die Differenz zum ausgehandelten Preis verrechnet werden, forderte Litsch.

Als Mittel gegen Lieferengpässe forderte Litsch Transparenz. Es müsse deutlich werden, wo die Wirkstoffe in Arzneimitteln herkommen und dass bei der Produktion Sozial- und Umweltstandards eingehalten werden. Litsch betonte, dass die AOKen dies nun in Ausschreibungen fordern, deswegen aber vor den Vergabekammern beklagt würden. Auch Freihandelsabkommen könnten dabei problematisch sein. Zum Repurposing verwies Litsch zunächst auf den Markt als Regulativ, zeigte sich in der Diskussion aber offen, diesen Ansatz zu nutzen. Allerdings müsse dann gleichzeitig das Problem mit den Hochpreisern angegangen werden.

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Politik offen für Anregungen

Die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karin Maag, betonte die Bedeutung der Versorgungssicherheit. Die Produktion von Notfall-Arzneimitteln sei auch sicherheitspolitisch relevant. Deutschland solle als Produktionsstandort gestärkt werden, aber sie zeigte sich wenig optimistisch, die Wirkstoffproduktion von Asien nach Deutschland zurückholen zu können. Maag erinnerte an die neuen gesetzgeberischen Anforderungen, bei Ausschreibungen die Lieferfähigkeit und die Vielfalt der Anbieter zu berücksichtigen. Für den Fall, dass dies nicht wirke, zeigte sich Maag offen für weitere Regelungen. Die Parteien, die derzeit an ihren Wahlprogrammen arbeiten, seien für Anregungen dankbar.

Nachbessern im Detail oder alles neu regeln?

In der Diskussion betonte Jockwig die strategische Komponente der Liefersicherheit. Er fürchtet, das Zurückhalten von Wirkstoffen könnte sogar zu einer Form der modernen Kriegführung werden. Litsch bekräftigte, dass immer mehrere Quellen für ein Produkt vorhanden sein müssten, sah darin aber keinen Widerspruch zum Ein-Partner-Modell bei Ausschreibungen. Als zusätzlichen Aspekt brachte er eine verstärkte Lagerhaltung ins Gespräch. Gerbsch verwies dagegen auf die hohe Qualität und die Produktionsstandards in Europa. Maag erklärte, Lagerhaltung allein reiche nicht aus. Sie erinnerte an die Knappheit von Schutzausrüstungen zu Beginn der Pandemie. Dies solle sich nicht bei Arzneimitteln wiederholen, betonte Maag. Litsch und Gerbsch lieferten sich eine Kontroverse zu den Folgen der Vergabe an nur einen Partner. Gerbsch argumentierte, dies erhöhe den Druck auf die Anbieter und reduziere die Anbietervielfalt. Darum forderte er die konsequente Abkehr vom Ein-Partner-Modell. Litsch hielt dagegen, dass in mehreren Ausschreibungen verschiedene Anbieter gewinnen und dann besser kalkulieren könnten.

Mit Blick auf die teilweise extrem niedrigen Generikapreise erklärte Dingermann, wenn die Preise für einige Innovationen absurd seien, dann könnten auch Preise für einige etablierte Arzneimittel absurd sein. Angesichts des Streits über detaillierte Regeln regte Dingermann an, stattdessen größere Korrekturen auf einer übergeordneten Ebene vorzunehmen, weil das System auseinandergedriftet sei.



Dr. Thomas Müller-Bohn (tmb), Apotheker und Dipl.-Kaufmann
redaktion@daz.online


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