Fachgesellschaften stellen sich hinter Impfkommission

Corona-Impfung für Kinder: Spahn will nicht auf STIKO-Empfehlung warten

Marseille - 07.06.2021, 10:45 Uhr

Immer mehr medizinische Fachgesellschaften kritisieren Bundesgesundheitsminister Jens Spahn öffentlich für seinen Umgang mit der STIKO. (Foto: IMAGO / photothek)

Immer mehr medizinische Fachgesellschaften kritisieren Bundesgesundheitsminister Jens Spahn öffentlich für seinen Umgang mit der STIKO. (Foto: IMAGO / photothek)


Mit dem Beschluss, auch gesunde Kinder und Jugendliche gegen das Coronavirus zu impfen, wird sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wohl erneut über eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission hinwegsetzen. Nun hagelt es Kritik von mehreren Fachgesellschaften, die auf die Expertise der STIKO vertrauen. 

Die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut (STIKO) wird die Corona-Impfung wahrscheinlich nicht für alle Kinder und Jugendlichen empfehlen, sondern nur für solche mit Vorerkrankungen. Der Grund: Bei gesunden Kindern ist es nicht sicher, dass der Nutzen der Impfung deren Risiken überwiegt. Doch die Politik wartet nicht einmal ab, bis die Impfkommission am kommenden Mittwoch ihre Entscheidung bekannt gibt. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will bereits ab heute (Montag) allen Kindern und Jugendlichen ein “Impfangebot” machen. Sie können nun mit der Vakzine von Biontech/Pfizer geimpft werden, die in der EU ab zwölf Jahren zugelassen wurde. Die Einschätzung des Expertengremiums will der Minister dabei offenbar ignorieren.

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Dafür erntet Spahn massive Kritik, viele Experten stellen sich hinter die STIKO. Von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) gibt es eine Pressemitteilung zum Thema. Darin heißt es, DEGAM-Präsident Professor Martin Scherer sei „verärgert darüber, dass der Sinn einer unabhängigen STIKO-Empfehlung noch vor deren Veröffentlichung öffentlich infrage gestellt wird”. Spahns Vorgehen widerspreche „einer seit jeher etablierten Praxis”. Die Politik solle das Vertrauen in die wissenschaftliche Expertise der STIKO nicht untergraben, denn dadurch könne das Vertrauen der Bürger in wissenschaftlich fundierte Bewertungen insgesamt nachhaltig beschädigt werden.

Auch die  Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hat eine Stellungnahme zum Thema veröffentlicht, die von 27 Fachgesellschaften unterzeichnet wurde, darunter die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene, die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie.

Die Fachgesellschaften und die AWMF sprechen der STIKO darin „ihr ausdrückliches Vertrauen aus”. Indirekt wird in der Veröffentlichung davor gewarnt, die Impfkommission von außen beeinflussen zu wollen. Die STIKO-Mitglieder müssten „weiter unabhängig und objektiv agieren können,” heißt es darin. Im Hinblick auf die Impfstrategie für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren sei die STIKO zudem als „der Wissenschaft und Evidenz verpflichtetes Expertengremium dringend notwendig”.

Es ist äußerst ungewöhnlich, dass Empfehlungen der Ständigen Impfkommission durch die Politik übergangen werden. Spahn allerdings setzt sich nun schon zum wiederholten Mal über das Expertengremium hinweg und muss sich den Vorwurf politischen Kalküls gefallen lassen.

STIKO-Chef kritisiert Spahns Linie öffentlich

So empfiehlt die STIKO, den Vektorimpfstoff von AstraZeneca nur noch für Personen ab 60 Jahren, seitdem es vor allem bei jüngeren Frauen in einigen Fällen zu tödlichen Hirnvenenthrombosen in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung gekommen war. Auch der Vektorimpfstoff von Johnson & Johnson wird erst ab 60 Jahren empfohlen, da hier ebenfalls ein Thromboserisiko besteht. Trotzdem hatte Spahn beschlossen, dass AstraZeneca und Johnson & Johnson auch an Jüngere verimpft werden sollen. STIKO-Chef Professor Thomas Mertens hatte das daraufhin in einem Interview mit der FAZ als „nicht gerecht und nicht sinnvoll” bezeichnet.

Gleich zwei Argumente der STIKO zählen für Spahn offenbar nicht: Dass eine Nutzen-Risiko-Abwägung in verschiedenen Altersgruppen und bei verschiedenen Impfstoffen sehr unterschiedlich ausfallen kann. Und dass durch eine Freigabe der Impfungen für Jüngere oder gar Kinder Personen mit einem besonders hohen Risiko für schwere Verläufe länger auf eine Impfung warten müssen.

Mertens hatte im NDR-Podcast „Das Coronavirus-Update“ in der vergangenen Woche noch einmal deutlich gemacht, dass Kinder ausgesprochen selten schwer an COVID-19 erkranken. Tatsächlich leben in Deutschland etwa 13,5 Millionen Kinder und Jugendliche. Dem Robert Koch-Institut wurden aber bisher (Stand 1. Juni) nur 16 Todesfälle bei Unter-18-Jährigen in Zusammenhang mit einer Coronavirus-Infektion gemeldet, im Vergleich zu 89.132 Todesfällen bei Erwachsenen. Bei zwölf dieser an und mit dem Coronavirus verstorbenen Minderjährigen waren Vorerkrankungen bekannt, bei den restlichen vier wurden dazu keine Angaben gemacht. Es ist also nicht einmal sicher, ob in Deutschland überhaupt ein zuvor gesundes Kind an einer COVID-19-Infektion gestorben ist. Risiken der Impfung können laut STIKO hingegen nicht ausgeschlossen werden, da gerade einmal 1.100 Kinder in der Zulassungsstudie geimpft wurden und bereits bei 14 von ihnen schwere Reaktionen auftraten.

Der Gesundheitsminister konnte bisher keine wissenschaftlichen Gründe für seine Entscheidung entgegen der STIKO-Expertise anführen. Sie scheint vielmehr politisch motiviert zu sein: Spahn weiß, dass sich viele Eltern eine Impfung ihrer Kinder wünschen. Ob das wirklich medizinisch sinnvoll ist oder nicht, können diese aber nur schwer beurteilen – genau deshalb gibt es ja eigentlich das Instrument der STIKO-Empfehlungen.

Hausärzte: Schulunterricht nicht von Impfung abhängig machen

Etliche Eltern könnten zudem selbst ohne Empfehlung zu einer Impfung ihrer Kinder tendieren, weil sie fürchten, dass die Fortsetzung des Schulunterrichts daran geknüpft wird. Spahn selbst hatte das mehrfach ins Spiel gebracht. So hatte der Minister etwa gegenüber der „Bild am Sonntag” gesagt, ein Weg zu regulärem Unterricht nach den Sommerferien sei das Impfen der Jugendlichen.

Anschließend hatte unter anderem der Deutsche Hausärzteverband gefordert, die Rückkehr zum gesellschaftlichen Leben von Kindern und Jugendlichen nicht von den Impfungen abhängig zu machen. Auch Mertens hatte gesagt, es sei nicht besonders sinnvoll, das Thema Schule mit der Impfdebatte zu verknüpfen.

Inzwischen ist Spahn zumindest leicht zurückgerudert. Bei öffentlichen Auftritten hatte er sich zuletzt etwas weniger eindeutig für eine Impfung aller Kinder und Jugendlichen ausgesprochen und gesagt, es handele sich um „eine individuelle Entscheidung“, bei der die STIKO-Empfehlung „mit einbezogen” werden solle.



Irene Habich, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Impfung Kinder

von Tierärztin am 11.06.2021 um 7:42 Uhr

Das Verhalten des Herrn Spahns ist inakzeptabel und gefährlich! Mediziner und medizinisch Tätige werden sicher wissen wonach sie ihre (Evidenz basierte) Entscheidung ausrichten. Um die weiteren Menschen und die Kinder, die diese Entscheidungen dann betreffen, mache ich mir große Sorgen!

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