- DAZ.online
- News
- Pharmazie
- Warum Sildenafil in ...
Viagra und Co.
Warum Sildenafil in Deutschland nicht rezeptfrei wird
Dass es mit dem OTC-Switch für Sildenafil in Deutschland weiterhin erstmal nichts wird, ist schon seit Januar bekannt. Die Gründe, warum der Antrag auf Entlassung aus der Verschreibungspflicht einstimmig abgelehnt worden war, wurden nun im Ergebnisprotokoll des Sachverständigen-Ausschusses für Verschreibungspflicht veröffentlicht. Bei dessen Lektüre kann man sich fragen, ob aus Antragstellersicht ein Antrag auf EU-Ebene nicht sinnvoller gewesen wäre – auch, um in Deutschland einen einheitlichen OTC-Status zu erlangen.
Obwohl vorab viel darüber diskutiert wurde, kam die Entscheidung zum OTC-Switch von Sildenafil dann doch wie von vielen erwartet: Der Sachverständigen-Ausschuss für Verschreibungspflicht beim BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) lehnte im Januar den Antrag ab, Viagra und Co. aus der Verschreibungspflicht zu entlassen.
Mehr zum Thema
Sachverständigenausschuss-Empfehlung
Sildenafil bleibt verschreibungspflichtig
Sachverständigen-Ausschuss für Verschreibungspflicht
Sildenafil bald auch in Deutschland ohne Rezept?
Selbstmedikation bei PDE-5-Hemmern
OTC-Switch bei Viagra – sinnvoll, sicher und häufig?
Am 25. Januar 2022 hieß es im kurzfristig veröffentlichten Kurzprotokoll der 85. Sitzung des Sachverständigen-Ausschusses für Verschreibungspflicht lediglich: „Der Sachverständigen-Ausschuss für Verschreibungspflicht empfiehlt einstimmig, den Antrag auf Entlassung aus der Verschreibungspflicht für Sildenafil 50 mg zur oralen Anwendung abzulehnen.“ Also vorab viel Wind um nichts? Nicht ganz – das nun am vergangenen Freitag veröffentlichte Ergebnisprotokoll der Sitzung zeigt, dass der Sildenafil-Switch durchaus intensiv diskutiert wurde. Immerhin gibt es Sildenafil in manchen Ländern bereits ohne Rezept.
So wurde von einem Ausschussmitglied beispielsweise – im Anschluss an den Vortrag durch den Antragsteller – auch die Dosierung von Sildenafil für den OTC-Switch hinterfragt. Wären 25 mg als Dosierung nicht geeigneter als die vom Antragsteller genannten 50 mg – vor allem hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen? Der Antragsteller antwortete, dass die 25 mg insbesondere für spezielle Patienten vorgesehen seien und es keine Unterschiede im Nebenwirkungsspektrum gäbe. Das Ausschussmitglied merkte jedoch an, dass Studien durchaus eine Dosisabhängigkeit für die Nebenwirkungen zeigen würden.
Offene Fragen zur missbräuchlichen Anwendung
Wie steht es allgemein um das Nebenwirkungsrisiko von Sildenafil? Aus der Anlage zum Protokoll (eine Präsentation des BfArM) geht hinsichtlich der Nebenwirkungen beispielsweise hervor, dass Daten aus der EudraVigilance-Datenbank für Großbritannien – wo OTC-Sildenafil seit März 2018 verfügbar ist – zeigen, dass seit März 2018 180 Fälle von Nebenwirkungen für Sildenafil 50 mg oder eine unbekannte Wirkstärke gemeldet wurden. Für 36 dieser Fälle ist eine Anwendung im OTC-Setting wahrscheinlich. Davon gab es bei elf Fällen keine Angaben zum Einnahmegrund, vier davon waren jedoch schwerwiegend: drei Fälle von Priapismus, ein Fall von reduzierter Sehschärfe. In zwölf anderen Fällen war der Einnahmegrund hingegen bekannt: erektile Dysfunktion. Darunter hatte ein 46-jähriger Mann einen Herzstillstand mit konsekutivem Hirnschaden.
Hypotoniegefahr und Interaktionspotenzial beachten
Risiken von Viagra & Co
Vor- und Nachteile von Viagra ohne Rezept
Erektionsstörung kann Vorbote eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls sein
In zwölf weiteren Fällen lag keine erektile Dysfunktion vor und es wurde ein Arzneimittelmissbrauch berichtet. So wurde Sildenafil in sechs Fällen zur Steigerung der sexuellen Leistungsfähigkeit eingenommen, wobei in zwei Fällen Priapismus auftrat. In drei Fällen wurde von „psychologischer Abhängigkeit“ berichtet, und in einem Fall sogar über die Vorbereitung einer Straftat (Vergewaltigung).
Laut Protokoll gab ein Ausschussmitglied zu bedenken, dass ein nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch in der Regel von den Anwendern nicht gemeldet werde. „Die dargestellten Daten, die sich auf Nebenwirkungsberichte bezögen, seien daher nicht geeignet, um die missbräuchliche Anwendung adäquat abzubilden.“ Offenbar lässt sich die Frage nach missbräuchlicher Anwendung bislang nicht mit systematisch erhobenen Daten beantworten. Das lässt jedenfalls auch die Antwort des Antragstellers vermuten.
Langfristige Anwendung im OTC-Bereich grundsätzlich kritisch
Wie aus der Präsentation des BfArMs und der Fachinformation von Sildenafil außerdem hervorgeht, ist bei der Mehrzahl der Patienten von einem langfristigen Gebrauch von Sildenafil auszugehen. Dazu erklärt BfArM, dass die Anwendung von Arzneimitteln, für die eine langfristige Anwendung vorgesehen ist, grundsätzlich im Rahmen einer OTC-Anwendung kritisch zu betrachten sei. „Für eine Verfügbarkeit ohne ärztliche Verordnung sind vorrangig Arzneimittel zur Kurzzeitanwendung geeignet“, heißt es unter Berufung auf die „Switch-Guideline“ der Europäischen Kommission von 2006.
In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass einer erektilen Dysfunktion häufig eine andere Erkrankung wie Diabetes mellitus oder Hypertonie zugrunde liegt. In diesen Fällen hat Sildenafil nicht nur eine verminderte Wirksamkeit (gegenüber dem Einsatz bei psychogen bedingter erektiler Dysfunktion), zudem könnte die eigenmächtige Einnahme von Sildenafil ohne Arztkontakt dazu führen, dass zugrundeliegende Erkrankungen nicht erkannt werden.
Doch könnten Apotheker:innen diese Beratungslücke nicht füllen?
Die potenzielle Rolle der Apotheken
Kommt man zur potenziellen Rolle der Apotheken in der Abgabe von OTC-Sildenafil, muss man sich auch fragen: Würde der Großteil von OTC-Sildenafil überhaupt über stationäre Apotheken abgegeben? Und wäre die adäquate Patientenauswahl durch Apotheker:innen dann gewährleistet? Der Antragsteller gab dazu laut Protokoll an, dass Untersuchungen gezeigt hätten, dass die Patientenauswahl und -beratung durch Pharmazeuten korrekt erfolge. Eine kontraindizierte Komedikation mit Nitraten wurde als unproblematisch dargestellt, da die Blutdruckeffekte bei gleichzeitiger Nitrateinnahme relativ gering seien und beide Substanzen eine kurze Halbwertszeit hätten.
Ein Ausschussmitglied fragte, ob der Antragsteller Daten zum Nutzen vorgeschlagener Materialien (u.a. Checkliste für Apotheker) vorgelegt hätte. Die vom Antragsteller dargestellten Daten seien nämlich zu wenig aussagekräftig. Er bezog sich damit auf eine Beobachtungsstudie zur Situation in Großbritannien, deren Autor:innen bei Pfizer und Viatris beschäftigt sind. Sildenafil in Viagra wurde einst von Pfizer entwickelt und mittlerweile von Viatris vertrieben. Pfizer formte 2020 zusammen mit dem Arzneimittelunternehmen Mylan Viatris. Dem BfArM lagen jedenfalls keine weiteren Unterlagen zu dieser Thematik vor. In seiner Präsentation erläuterte das BfArM jedoch, dass aus Sicht des Antragstellers der OTC-Status das Potenzial „für eine frühere Interaktion mit dem primären Gesundheitssystem“ böte. (Schulungs-)Materialien für Patienten sowie Apotheker und ein „Multimedia Consumer Educational Programme“ zum Thema erektile Dysfunktion sollten die sichere OTC-Anwendung unterstützen. Doch dieses Schulungsmaterial könnte laut der Präsentation des BfArM nicht über die AMVV geregelt werden.
Nationale und zentrale Zulassungen
Zu welchem Fazit kamen also das BfArM und der Antragsteller? Ein erhöhtes Missbrauchspotenzial durch OTC-Sildenafil sah der Antragsteller laut BfArM nicht, weil Missbrauch bereits jetzt durch illegale Beschaffung möglich ist. Der OTC-Status würde dem Missbrauch also eher entgegenwirken. Das BfArM meint jedoch, dass durch den OTC-Status die Anwendungsschwelle bei (jungen) Männern ohne erektile Dysfunktion sinken würde.
Zudem erscheine es fraglich, Sildenafil in der 50-mg-Dosierung für den OTC-Gebrauch vorzusehen, Sildenafil 25 mg mit der gleichen Indikation aber verschreibungspflichtig zu lassen. Auch wären zentral zugelassene Arzneimittel von einer nationalen Änderung der Verkaufsabgrenzung gar nicht betroffen gewesen. Zu Sildenafil 50 mg gibt es laut BfArM nämlich 89 orale Arzneimittel, von denen 50 zentral zugelassen seien. Wie die DAZ berichtete, hatte schon im Jahr 2007 Pfizer versucht, mit einem Rundumschlag Sildenafil in der gesamten EU aus der Rezeptpflicht herauszubekommen. Die EMA und ihr Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) hatten jedoch Bedenken, sodass Pfizer im Jahr 2008 den Antrag wieder zurückzog.
Mehr zum Thema
Selbstmedikation bei PDE-5-Hemmern
OTC-Switch bei Viagra – sinnvoll, sicher und häufig?
Das BfArM empfahl nun also, den Antrag abzulehnen und die Verschreibungspflicht für Sildenafil ohne Ausnahmen in Deutschland beizubehalten. Der Sachverständigen-Ausschuss für Verschreibungspflicht folgte in seiner Abstimmung einstimmig dieser Empfehlung.
Angesichts des Protokolls der Diskussion, könnte man sich die Frage stellen, ob ein gut vorbereiteter Antrag auf EU-Ebene nicht sinnvoller wäre, sollten die Sildenafil-Hersteller zukünftig den OTC-Switch nochmals vorantreiben wollen. Laut BfArM verfügt Sildenafil bislang in wenigen Ländern über den OTC-Status: Großbritannien, Norwegen, Irland, Polen, Schweiz sowie Neuseeland.
2 Kommentare
Frage
von Sondershaus am 13.03.2022 um 8:12 Uhr
» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten
Weltfremd
von Dr Schweikert-Wehner am 09.03.2022 um 8:05 Uhr
» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.