Engpässe vermeiden, Generika für alle

Brüssels Pläne für eine sicherere Arzneimittelversorgung

Berlin - 27.04.2023, 09:16 Uhr

Ihre Vorschläge gerieten sofort unter Beschuss: EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides. (Foto: IMAGO | Hans Lucas)

Ihre Vorschläge gerieten sofort unter Beschuss: EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides. (Foto: IMAGO | Hans Lucas)


Ein „historischer Tag für Bürger, Patienten und die Industrie“ sollte es laut EU-Kommission sein: Diese Woche Mittwoch stellte sie ihre „Reform der Arzneimittelregeln“ vor – die größte seit über 20 Jahren. Für Apotheken interessant: Auch die EU will das Problem der Arzneimittellieferengpässe stärker angehen. Kritik an den Gesetzesvorschlägen ließ nicht lange auf sich warten: Verbraucherschützer und auch Pharmaindustrie ließen mächtig Dampf ab.

Lange hat es gedauert, oft wurde sie verschoben, jetzt soll es der ganz große Wurf werden: Die EU-Kommission hat am Mittwoch in Brüssel ihre „Reform der Arzneimittelregeln“ vorgestellt. Schluss mit Engpässen bei Medikamenten, überhöhten Preisen und der ungleichen Versorgung der einzelnen EU-Staaten – es soll die „größte Reform des EU-Arzneimittelrechts seit über 20 Jahren“ sein, heißt es in einer Pressemitteilung der Kommission. Eigentlich hätte das Paket schon Ende des vergangenen Jahres vorgestellt werden sollen. Das wurde dann mehrere Male verschoben. Die Vorschläge – konkret geht es um ein Richtlinie und eine Verordnung – werden nun an das EU-Parlament und den Rat weitergeleitet.

„Dies ist ein historischer Tag für Bürger, Patienten und die Industrie“, sagte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides. Der europäische Verbraucherverband BEUC begrüßte die Vorschläge als Schritt in die richtige Richtung, forderte jedoch weitere Maßnahmen, insbesondere gegen Versorgungslücken und hohe Preise. Die großen Pharma-Konzerne hätten „wie verrückt Lobbyarbeit“ betrieben, um ihre Gewinne zu schützen, beklagte Generaldirektorin Monique Goyens. Der Präsident des Europäischen Pharmaverbands (EFPIA), Hubertus von Baumbach, begrüßte ebenfalls „die Bemühungen“ warnte dagegen, die Vorschläge gefährdeten die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie.

Die vorrangigen Ziele, die die EU-Kommission mit ihren Änderungen verfolgt, sind laut Pressemitteilung:

  • die Schaffung eines Binnenmarktes für Arzneimittel, der sicherstellt, dass alle Patienten in der EU einen zeitnahen und gerechten Zugang zu sicheren, wirksamen und erschwinglichen Arzneimitteln haben,
  • die Bewahrung eines innovationsfreundlichen Umfelds,
  • die Beschleunigung der Verfahren mit kürzeren Zulassungszeiten für Arzneimittel, 
  • die Stärkung der Verfügbarkeit von Arzneimitteln,
  • der Kampf gegen antimikrobielle Resistenzen und
  • die bessere Umweltverträglichkeit von Medikamenten

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Mit Blick auf Lieferengpässe und eine bessere Verfügbarkeit von Medikamenten plant die Kommission unter anderem, dass die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) eine stärkere Koordinierungsrolle einnimmt. Es soll eine EU-weite Liste kritischer Arzneimittel erstellt werden – für diese können konkrete Empfehlungen für Maßnahmen abgegeben werden. Auch die Kommission soll Maßnahmen ergreifen können, um die Versorgungssicherheit bei bestimmten kritischen Arzneimitteln zu erhöhen. Die Pharmaindustrie soll Engpässe und auch den Rückruf von Medikamenten zudem früher melden und Vorsorgepläne erstellen.

Neue Schutzfristen

Gegen die ungleiche Verfügbarkeit von Medikamenten innerhalb der EU will man mit „Innovationsanreizen“ vorgehen. Denn laut Brüssel haben die Patienten in westlichen und größeren Ländern wie Deutschland Zugang zu 90 Prozent der neuen Arzneimittel, während es in den östlichen und kleineren Staaten aber nur 10 Prozent seien. Daher will die Kommission an den Unterlagenschutz ran. Zwar soll es für innovative Arzneimittel einen Schutz von bis zu zwölf Jahren geben. Der Standardschutz soll aber von zehn auf acht Jahre fallen: Der Unterlagenschutz soll demnach nur noch bei sechs Jahren liegen  – plus (wie bisher) zwei Jahre Vermarktungsschutz. Dann ist der Weg frei für Generika. Eine weitere Verlängerung ist möglich und hängt von verschiedenen Kriterien ab. Beispielsweise können weitere zwei Jahre hinzukommen, wenn ein Unternehmen sein neues Medikament in allen EU-Staaten auf den Markt bringt. 

Ein besonderes Augenmerk will die EU laut eigenen Angaben dem Kampf gegen Antibiotikaresistenzen widmen. Die Kommission legte diesbezüglich jedoch nur nicht bindende Empfehlungen vor, die einen zurückhaltenden Gebrauch von Antibiotika vorsehen. Für die Hersteller plant Brüssel, die Entwicklung einiger besonderer Präparate durch „Gutscheine“, die einen weitergehenden zeitlichen Schutz der Daten bieten, attraktiver zu machen.

Schnellere Zulassung von Medikamenten

Auch die Zulassung von Medikamenten soll zukünftig schneller gehen. Die EMA soll im Regelfall innerhalb von 180 statt 210 Tagen ihre Einschätzung abgeben, die Zulassung der EU-Kommission soll innerhalb von 46 statt 67 Tagen erfolgen. Die Verfahren sollen digitaler und zügiger ablaufen. Die öffentliche Finanzierung der Entwicklung neuer Medikamente soll transparenter werden. Zudem sollen bestehende Regeln zum Schutz der Umwelt durch Arzneimittel besser durchgesetzt werden.

Unangetastet lassen die Pläne übrigens unter anderem die Regelungen zu traditionellen pflanzlichen Arzneimitteln, Homöopathika sowie Arzneimittelfälschungen. Sie sollen unveränderte aus der bestehenden Richtlinie übernommen werden.

Gesundheitskommissarin Kyriakides erklärte dazu: „Mit unseren Vorschlägen soll sichergestellt werden, dass Arzneimittel die Patientinnen und Patienten in ganz Europa zeitnah und auf gerechte Weise erreichen. Es handelt sich um eine Reform, mit der gewährleistet wird, dass Europa für Unternehmen attraktiv und unsere Arzneimittelindustrie ein weltweiter Innovationsmotor bleibt. Die Schaffung eines Binnenmarktes für Arzneimittel ist sowohl für unsere Bürgerinnen und Bürger als auch für unsere Unternehmen eine Notwendigkeit.“

Verbraucherschützer und Pharmaindustrie kritisch

Erwartungsgemäß sind Verbraucherschützer und auch Pharmaindustrie von den Vorschlägen nicht begeistert und mahnen zu mehr Zurückhaltung. BEUC-Generaldirektorin Goyens sagte: „Wenn die EU-Entscheidungsträger diese Vorschläge ändern, müssen sie entscheiden, ob sie den Zugang zu Arzneimitteln weiter verbessern wollen oder ob sie sich auf die hartnäckige Lobbyarbeit von Big Pharma einlassen.“ Sie begrüßte unter anderem den Vorschlag, die „Exklusivitätsfrist“ zu verkürzen, dass Unternehmen Pläne zur Vorbeugung von Engpässen vorlegen müssen und dass mehr Transparenz bei der öffentlichen Finanzierung von Medikamenten geschaffen werden soll. „Pharmaunternehmen profitieren oft von öffentlichen Geldern für die Entwicklung von Arzneimitteln, ohne dass sie im Gegenzug etwas dafür erhalten.“

Hubertus von Baumbach, Präsident von EFPIA, erklärte, die geplante Gesetzgebung „schwächt insgesamt die Attraktivität für Investitionen in Innovationen und behindert die europäische Wissenschaft, Forschung und Entwicklung. Um die Ambitionen der EU im Bereich der Biowissenschaften wirklich auf den Patienten auszurichten, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Auswirkungen der überarbeiteten Arzneimittelgesetzgebung auf die Wettbewerbsfähigkeit umfassend geprüft werden.“

Nathalie Moll, Generaldirektorin von EFPIA, kündigte an, in den kommenden Monaten sicherstellen zu wollen, „dass das überarbeitete Arzneimittelrecht und das Patentpaket den Bedürfnissen der Patienten, unserer Gesundheitssysteme, der Mitgliedstaaten und des europäischen Biowissenschaftssektors gerecht werden“.

Mit dem nun vorgelegten Vorschlag wird die Diskussion erst richtig starten – bis zur Verabschiedung der neuen Regelungen wird voraussichtlich noch einige Zeit vergehen. 


Matthias Köhler, DAZ-Redakteur
redaktion@daz.online


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