Medizinische Anwendung von CRISPR/CAS9

Casgevy – EMA empfiehlt erstmals Zulassung einer Genscherentherapie

Stuttgart - 21.12.2023, 11:00 Uhr

Eines der beiden Anwendungsgebiete für Casgevy ist die Sichelzellanämie. (Abbildung: SciePro / AdobeStock) 

Eines der beiden Anwendungsgebiete für Casgevy ist die Sichelzellanämie. (Abbildung: SciePro / AdobeStock) 


Die Europäische Arzneimittel-Agentur empfiehlt, das vor kurzem in Großbritannien und in den USA zugelassene Gentherapeutikum Casgevy auch in der EU „bedingt“ zuzulassen. Es soll bei den Erbkrankheiten β-Thalassämie und Sichelzellanämie eingesetzt werden. Beide Erkrankungen schränken die Funktion des Hämoglobins ein, durch die Therapie können Komplikationen für die Patienten verringert werden.

Am 15. Dezember hat die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) ihre Empfehlung bekannt gegeben, das neue Gentherapeutikum Casgevy „bedingt“ zuzulassen [1]. Casgevy (Exagamglogene autotemcel, exa-cel) ist ein neuartiges Arzneimittel, welches mittels CRISPR/Cas9 Stammzellen des Patienten so verändert, dass anstelle eines defekten Hämoglobins wieder ein funktionales gebildet werden kann [2]. 

Davon profitieren zum einen Patienten mit β-Thalassämie. Durch verschiedene Mutationen ist bei der Erbkrankheit die Produktion der β-Untereinheit des Hämoglobins verringert oder bleibt aus [3]. Infolgedessen kommt es zu einer Anämie. Patienten mit schweren Varianten sind ohne kausale Behandlung von Bluttransfusionen abhängig. Als eine entsprechende kausale Therapie der Wahl gilt die Stammzelltransplantation mit Zellen eines geeigneten Spenders [3]. 

Mehr zum Thema

Zum anderen können auch Patienten mit Sichelzellanämie mit Casgevy behandelt werden. Bei dieser Erbkrankheit wird anstelle der funktionalen β-Untereinheit ein entartetes, Hämoglobin S genanntes Protein gebildet. Das Hämoglobin S sorgt in den Erythrozyten dafür, dass sich anstelle der normalen die charakteristische Sichellzellform der Zellen ausbildet [4]. Durch die Sichelzellen kann es zu vaso-okklusiven Krisen (Sichelzellkrisen) kommen, bei denen die entarteten Zellen Gefäße verstopfen. Für Patienten mit Sichelzellanämie war eine Stammzelltransplantation von einem Spender ebenfalls bisher eine Therapieoption (lesen Sie hierzu auch unseren ausführlichen Bericht in der DAZ 47) [4].

In Großbritannien wurde Casgevy bereits am 16. November von der Regulierungsbehörde für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte (Medicines and Healthcare products Regulatory Agency, MHRA) zur Therapie der beiden Erkrankungen zugelassen [5]. Die US-amerikanische Lebens- und Arzneimittelbehörde (Food and Drug Administration, FDA) hat dem Arzneimittel Anfang des Monats am 8. Dezember die Zulassung erteilt, allerdings nur zur Therapie der Sichelzellanämie [2].

Wirkmechanismus der Gentherapie

Bei der Gentherapie mit Casgevy werden dem Patienten zuerst Stammzellen entnommen, um sie mit dem Gentherapeutikum zu behandeln [2]. Analog zu anderen Stammzelltransplantationen wird der Patient dann einer Hochdosis-Chemotherapie unterzogen. Durch diese Konditionierung wird das Knochenmark von den bisherigen Stammzellen bereinigt. Mittels einer Infusion werden dem Patienten danach die modifizierten, neuen Stammzellen wieder zugeführt [2]. 

Auf zellulärer Ebene sorgt die Behandlung der Stammzellen mit dem CRISPR/Cas9-System dafür, dass fetales Hämoglobin exprimiert wird [6]. Diese spezifische Hämoglobinvariante wird im Fetus produziert, damit der Sauerstoff aus dem Nabelschnurblut der Mutter besser aufgenommen werden kann. Nach der Geburt setzt normalerweise die Produktion adulten Hämoglobins ein. Dazu unterdrücken spezifische Proteine wie BCL11A die Genexpression des fetalen Hämoglobins [6]. Die Behandlung mit CRISPR/Cas9 verändert das Gen für BCL11A so, dass weniger von dem Protein produziert wird. Da der Spiegel von BCL11A in der Zelle sinkt, ist auch das Gen für fetales Hämoglobin nicht mehr wie im bisherigen Ausmaß unterdrückt. Folglich kann wieder entsprechendes Hämoglobin produziert werden [6].

CRISPR/Cas9

CRISPR/Cas9 ist eine sehr zielgenaue Genschere. Das System stammt aus der Natur: Bakterien nutzen es, um so eine spezifische Immunabwehr gegen Bakteriophagen (Bakterien befallende Viren) aufzubauen. Mittels bestimmter Proteine wird im Bakterium DNA der Phagen in einen sogenannten CRISPR-Array der bakterieneigenen DNA eingebaut [7]. Aus diesem gebildete RNA kann zusammen im Komplex mit dem Enzym Caspase 9 (Cas9) die ursprünglichen Stellen auf der DNA der Bakteriophagen identifizieren und durch Zerschneiden unschädlich machen [7]. 

In der Gentechnik nutzt man diesen Komplex, um so Schnitte an spezifischen Stellen im Zielgenom durchzuführen. Da der variable „zielsuchende“ Abschnitt des CRISPR/Cas9-Systems quasi beliebig editierbar ist, hat man mit dem System eine Genschere, die sehr individuell auf ein zu veränderndes Gen einstellbar ist [7]. 

Durch zelleigene Reparaturmechanismen kommt es dann in der Regel zu einer Inaktivierung des Gens. Alternativ kann an der geschnittenen Stelle auch neue DNA eingeführt werden, beispielsweise mit einem anderen Gen [7].

Nebenwirkungen der Therapie

Häufigste Nebenwirkungen, die unter der Therapie mit Casgevy auftraten, sind eine verringerte Anzahl weißer Blutzellen inklusive febriler Neutropenie, weniger Blutplättchen, Lebererkrankungen, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen und Läsionen der Mundschleimhaut [1]. Diese Reaktionen sind auf die Arzneimittel zurückführbar, die zur Stammzellentnahme und zur Konditionierung vor der Transplantation angewendet werden [1].

Datenlage zur Zulassungsentscheidung

Die Entscheidung der Europäische Arzneimittel-Agentur erfolgt auf der Grundlage zweier noch laufender Studien. Beide Studien werden ohne Kontrollgruppe durchgeführt. In der ersten wurden bisher 42 Patienten mit transfusionsabhängiger β-Thalassämie und einmaligem Casgevy-Einsatz zur Bewertung eingeschlossen. 39 der Probanden haben für mindestens ein Jahr keine Bluttransfusion mehr benötigt [1]. In einer zweiten Studie an Patienten mit Sichelzellanämie wurden Daten zu bisher 29 Patienten ausgewertet. 28 von ihnen hatten für mindestens ein Jahr keine vaso-okklusiven Krisen [1]. Zur Sicherheitsbewertung wurde zusätzlich eine Langzeit-Follow-up-Studie miteinbezogen, aus der Daten zu 97 mit Casgevy behandelten Patienten vorlagen [1]. 

Insgesamt ist das eine wesentlich kleinere Datenmenge, als sie für Arzneimittelzulassungen üblich ist. Daher empfiehlt die Europäische Arzneimittelbehörde eine sogenannte „bedingte Marktzulassung“ (conditional marketing authorisation). Diese Form der Zulassung ermöglicht es, Patienten mit bisher nicht behandelbaren Erkrankungen neue Therapien zugänglich zu machen. Dazu muss die bisherige Evidenz klar demonstrieren, dass der Nutzen die Risiken überwiegt [1].

Um die Effektivität und Sicherheit von Casgevy zu bestätigen, hat der Antragssteller Vertex Pharmaceuticals bis zum August 2026 Zeit, die finalen Ergebnisse der beiden laufenden und der Follow-up-Studie sowie weiterer mit Casgevy durchgeführter Untersuchungen einzureichen [1]. Darüber hinaus werden behandelte Patienten für 15 Jahre nachverfolgt, um Langzeitdaten für einen größeren Zeitraum zu sammeln. Außerdem soll eine Studie aus Daten eines Patientenregisters durchgeführt werden, ebenfalls um langfristig Effektivität und Sicherheit festzustellen [1].

Literatur

[1] First gene editing therapy to treat beta thalassemia and severe sickle cell disease. Pressemitteilung der European Medicines Agency, www.ema.europa.eu/en/news/first-gene-editing-therapy-treat-beta-thalassemia-and-severe-sickle-cell-disease, 15.12.2023

[2] FDA Approves First Gene Therapies to Treat Patients with Sickle Cell Disease. Pressemitteilung der U.S. Food and Drug Administration, www.fda.gov/news-events/press-announcements/fda-approves-first-gene-therapies-treat-patients-sickle-cell-disease, 08.12.2023

[3] S1-Leitlinie Thalassämien. Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Aktualisierung 01/2023, www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/025-017.html, Zugriff am 18.12.2023

[4] Russ J. Hoffnung bei Sichelzellanämie. DAZ 2023; 47:28 www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2023/daz-47-2023/hoffnung-bei-sichelzellanaemie

[5] MHRA authorises world-first gene therapy that aims to cure sickle-cell disease and transfusion-dependent β-thalassemia, Pressemitteilung der Medicines and Healthcare products Regulatory Agency, www.gov.uk/government/news/mhra-authorises-world-first-gene-therapy-that-aims-to-cure-sickle-cell-disease-and-transfusion-dependent-thalassemia, 16.11.2023

[6] Casgevy. Informationen von Drugs.com, www.drugs.com/casgevy.html, Stand 18.12.2023

[7] Dingermann T et al. Gentechnik Biotechnik – Grundlagen und Wirkstoffe, 3. Auflage, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart 2019


Simon Siuts, Apotheker
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.