Akute Ereignisse unter Neuroleptika häufiger

Antipsychotika bei Demenzpatienten riskanter als gedacht

24.05.2024, 07:00 Uhr

Pneumonien und venöse Thromboembolien sind unter Quetiapin seltener als unter Haloperidol. (Foto: Semi / AdobeStock)

Pneumonien und venöse Thromboembolien sind unter Quetiapin seltener als unter Haloperidol. (Foto: Semi / AdobeStock)


Demenzkranke, die Antipsychotika einnehmen, erleiden häufiger einen Schlaganfall, Myokardinfarkt, eine Herzinsuffizienz oder eine Pneumonie, um nur einige Risiken zu nennen. Diese und weitere Risiken deckte eine neue Kohorten­studie auf, die fast 174.000 Patienten mit Demenz beobachtete. Auch die Leitlinie mahnt zu zurückhaltendem Einsatz.

Im Rahmen einer Demenzerkrankung werden Antipsychotika zur Behandlung von psychiatrischen Symptomen und Verhaltensänderungen eingesetzt. Die Nebenwirkungen scheinen jedoch unterschätzt worden zu sein. Zu diesem Ergebnis kommt ein Team um Pearl Mok, das im Rahmen einer populationsbasierten Kohortenstudie die Daten von rund 174.000 britischen Patienten mit diagnostizierter Demenz untersuchte [1]. Jeder Patient, der neu ein Antipsychotikum erhielt (35.339 Patienten, davon 62,5 % Frauen), wurde in dieser Untersuchung mit bis zu 15 Demenzkranken ohne eine solche Medikation gematcht.

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Dabei war die Anwendung antipsychotischer Arzneistoffe assoziiert mit einem erhöhten Risiko für fast alle untersuchten negativen Ereignisse: 

  • Akute Nierenschädigung, 
  • venöse Thromboembolie, 
  • Schlaganfall, 
  • Fraktur, 
  • Myokardinfarkt und 
  • Herzinsuffizienz. 

Lediglich ventrikuläre Arrhythmie trat nicht gehäuft auf. Insgesamt war das Risiko durch die Antipsychotika-Einnahme innerhalb der 90 Tage nach Verordnung 1,5-fach (für venöse Thrombo­embolie) bis 2-fach (für Pneumonie) erhöht.

Höchstes Risiko bei Einnahmebeginn

Das höchste Risiko scheint bei Einnahmebeginn zu bestehen. So verzehnfachte sich das Risiko für Pneumonie binnen der ersten sieben Tage und nahm dann kontinuierlich ab. Welcher Mechanismus hinter diesem Zusammenhang steht, wird noch nicht vollständig verstanden. Denkbar ist laut den Autoren, dass die Anwendung der Antipsychotika potenzielle Risikofaktoren für Pneumonie wie Mund­trockenheit, Schluckstörungen und Sedierung hervorruft. Außerdem könnte eine reverse Kausalität bestehen: Bei Älteren äußere sich eine Pneumonie häufiger ohne bronchiale Beschwerden und mit Delir, das dann möglicherweise zu einer antipsychotischen Therapie führt, ehe die Pneumonie als solche diagnostiziert wird. Die langfristige Risikoerhöhung könne dies nach Aussage der Autoren jedoch nicht erklären.

Typische Antipsychotika etwas riskanter als atypische

Für die Analyse nutzten die Forscher anonymisierte elektronische Gesundheitsdaten der Clinical Practice Research Datalink (CPRD). Die Daten bilden rund 20 % der Population des Vereinigten Königreichs ab und enthalten beispielsweise Informationen zu Dia­gnosen und verordneten Arzneimitteln. Eingeschlossen wurden jene Patienten, die zwischen Januar 1998 und Mai 2018 Demenz als Erst-Diagnose erhielten und mindestens 50 Jahre alt waren. Zudem durfte ein Jahr vor der Diagnose kein Anti­psychotikum verordnet worden sein. In der Studie wurden insgesamt 544.203 anti­psychotische Verschreibungen erfasst. 

  • Risperidon (29,8 %), 
  • Quetiapin (28,7 %), 
  • Halo­peridol (10,5 %) und 
  • Olanzapin (8,8 %) 

wurden am häufigsten verordnet. Ein Viertel der Verordnungen waren typische Anti­psychotika, Dreiviertel atypische Antipsychotika.

Die Post-hoc-Analyse ergab, dass typische Antipsychotika im direkten Vergleich das Risiko für Schlaganfall, Herzinsuffizienz, Pneumonie und Fraktur stärker erhöhen als atypische Antipsychotika. In Bezug auf venöse Thromboembolie sowie Myokard­infarkt konnte hingegen kein signifikanter Unterschied festgestellt werden. Insbesondere im Hinblick auf Pneumonien und venöse Thromboembolien entpuppte sich Haloperidol riskanter als Quetiapin. Das Risiko für akute Nierenschwäche sowie Pneumonie, Schlaganfall und venöse Thromboembolie schien für Quetiapin etwas geringer als unter Risperidon.

Erhöhte Mortalität ist seit 20 Jahren bekannt

Erstmals warnte die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) im Jahr 2003, dass Risperidon in klinischen Studien das Risiko für zerebrovaskuläre Ereignisse wie Schlaganfall oder transitorisch-ischämische Attacke bei älteren Patienten mit Demenz erhöht. Der Wirkstoff zählt zu den atypischen Neuroleptika. Als eine Metaanalyse unter Einschluss von 17 Studien bei Anwendung atypischer Antipsychotika ein 1,6- bis 1,7-fach erhöhtes Mortalitätsrisiko gegenüber Placebo feststellte, folgte 2005 eine Black-Box-Warnung für alle Atypika. Zwei weitere Observationsstudien führten 2008 dazu, dass die Warnung auf typische Antipsychotika ausgeweitet wurde [1].

Leitlinien fordern Zurückhaltung

Aufgrund dieser Sicherheitsbedenken mahnen offizielle Leitlinien zu einer zurückhaltenden Anwendung der Arzneistoffe bei Demenz: Gemäß der Leitlinie des britischen National Institute for Health and Care Excellence sollten Antipsychotika nur dann verordnet werden, wenn eine nicht-pharmako­logische Behandlung unwirksam war und Patienten sich selbst oder andere gefährden oder aber unter Agitiertheit, Halluzinationen oder Wahnvorstellungen leiden. Sind Antipsychotika indiziert, sollen sie in der niedrigsten wirksamen Dosis und so kurz wie möglich eingesetzt werden [1].

Pharmakologie der Antipsychotika

Antipsychotika (Synonym: Neuroleptika) hemmen D2-Rezeptoren im zentralen Nervensystem, greifen aber auch an zahlreichen weiteren Rezeptor­typen an. Durch Hemmung des Dop­amin-Rezeptors können Positiv-Symptome wie Halluzinationen, Beziehungsideen und -wahn, Verfolgungswahn und Wahnvorstellungen sowie Gedankenlautwerden behandelt werden. Sogenannte konventionelle Neuroleptika wie Haloperidol, Melperon oder Fluspirilen wirken vor allem über ihre inhibitorische Wirkung am Dopamin-Rezeptor. Ihre antipsychotische Wirkung korreliert mit ihrer Affinität zum D2-Rezeptor und ist dosisabhängig.

Eine zusätzliche antagonistische Wirkung an 5-HT2-Rezeptoren unterstützt die Wirkung und schwächt zusätzlich Negativ-Symptome wie sozialen Rückzug, Depression, Motivations- und Antriebsarmut. Diese haben vor allem sogenannte Atypika oder atypische Neuroleptika (z. B. Risperidon, Olanzapin, Quetiapin oder Aripiprazol). Insgesamt wirken Antipsychotika rasch innerhalb von etwa 24 Stunden [2].

Die aktuelle Leitlinie „Demenzen“ mit Stand November 2023 sieht den Einsatz von Antipsychotika ebenfalls kritisch. Sie weist klar darauf hin, dass die Gabe von Antipsychotika bei Patienten mit Demenz wahrscheinlich mit einem erhöhten Risiko für Mortalität und für zerebrovaskuläre Ereignisse assoziiert sei. Haloperidol sei wohl mit dem höchsten Risiko assoziiert, ebenso sei das Risiko in den ersten Behandlungswochen am höchsten.

Zudem warnt die Leitlinie vor einer beschleunigten kognitiven Verschlechterung durch die Therapie. Sie mahnt ebenfalls dazu, die Behandlung in der geringstmöglichen Dosis über den kürzesten möglichen Zeitraum durchzuführen. Außerdem seien engmaschige Kontrollen nötig. Falls bei agitiertem und aggressivem Verhalten eine antipsychotische Therapie nötig sei, sollte Risperidon bevorzugt werden. Während alternativ auch Aripiprazol eingesetzt werden könne, wird von Olanzapin aufgrund der anticholinergen Wirkung und heterogenen Datenlage abgeraten. Bei Patienten mit Parkinson-Demenz sei der Einsatz von Anti­psychotika besonders kritisch zu sehen, da Patienten deutlich stärker von Nebenwirkungen wie einer Verschlechterung der Beweglichkeit und Vigilanz gefährdet sind [3]. Trotzdem werden international – insbesondere seit der COVID-19-Epidemie – vermehrt antipsychotische Medikamente verordnet [1].

Alternativen dürftig, Risiko­abwägung nötig

Im Editorial des British Medical Journal (BMJ), in dem die Studie erschien, vermutet Medizin-Professor Raya Elfadel Kheirbek, dass die größte Hürde in der Reduktion des Antipsychotika-Gebrauchs der Mangel an effektiven nicht-pharmakologischen Alternativen sei [4]. Ein Review habe nur wenige wirksame Interventionen gefunden, beispielsweise kognitive Stimulation und ausgewählte Verhaltens-Management-Therapien. Die Implementierung dieser Maßnahmen erfordere jedoch entsprechende Ressourcen, insbesondere hoch ausgebildetes Personal mit adäquater Zeit sowie spezialisiertem Equipment.

Im Fazit sind sich Leitlinien sowie Experten einig: Der Einsatz antipsychotischer Arzneistoffe für die Behandlung von Demenz-bedingten Verhaltens­störungen erfordere eine nuancierte, individuelle Entscheidungsfindung mit sorgfältiger Abwägung der Risiken gegenüber dem potenziellen Nutzen. Zudem muss regelmäßig eine Re-Evaluierung der Pharmakotherapie sowie weiterer möglicher Therapie­optionen erfolgen.

Literatur

[1] Mok PLH et al. Multiple adverse outcomes associated with antipsychotic use in people with dementia: population based matched cohort study. BMJ 2024;385:e076268, doi: 10.1136/bmj-2023-076268

[2] Herdegen T. Kurzlehrbuch Pharmakologie und Toxikologie, 3. Auflage 2014, Thieme Verlag

[3] S3-Leitlinie Demenzen. Deutsche Gesellschaft für Neurologie e. V und Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V., AWMF-Reg.Nr. 038 – 013, Stand 28. November 2023

[4] Kheirbek RE, LaFon C. Use of antipsychotics in adults with dementia. BMJ 2024;385:q819, doi: 10.1136/bmj.q819


Anna Carolin Antropov, Apothekerin
redaktion@daz.online


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