Phase-2-Studie mit Muskarinrezeptor-Antagonist

Schafft PIPE-307 die Remyelinisierung bei MS?

Stuttgart - 12.09.2024, 10:45 Uhr

Mäusen konnte PIPE-307 bei der Remyelinisierung helfen, klappt es auch beim Menschen, die Nervenfasern gesunden zu lassen? (Foto: IMAGO / Depositphotos)

Mäusen konnte PIPE-307 bei der Remyelinisierung helfen, klappt es auch beim Menschen, die Nervenfasern gesunden zu lassen? (Foto: IMAGO / Depositphotos)


PIPE-307 klingt eher nach einer Jeans-Brand. Tatsächlich verbirgt sich hinter dem Akronym Hoffnung für viele Menschen mit multipler Sklerose: Es geht um Remyelinisierung. In vitro und im Mausmodell hat der selektive Muskarinrezeptor-Antagonist schon überzeugt, und eine Phase-II-Studie läuft bereits.

Bei manchen Menschen mit multipler Sklerose (MS) verzögern die derzeit verfügbaren krankheitsmodifizierenden Arzneimittel (Disease modifying Therapies, DMT), zum Beispiel CD20-Antikörper wie Ocrelizumab oder Ofatumumab, die fortschreitende Behinderung. Remyelinisierende Arzneimittel, die neuronale Schäden reparieren, sodass Erkrankte verlorene Körperfunktionen wiedererlangen könnten, fehlen jedoch. Bislang untersuchte Wirkstoffe, wie z. B. Clemastin oder Biotin, haben versagt. Ein neuer remyelinisierender Wirkstoffkandidat ist PIPE-307. Er soll Myelinscheiden im Zentralnervensystem wieder aufbauen, die bei der neurodegenerativen Erkrankung verloren gehen.

Muskarinrezeptor-Antagonist zur oralen Einnahme

PIPE-307 ist ein oral verfügbarer, ZNS-gängiger Muskarinrezeptor-Antagonist, der selektiv den M1-Rezeptor blockiert [1]. Doch was hat das cholinerge System mit Remye­linisierung zu tun?

Ende August 2024 erklärten Wissenschaftler im Fachjournal PNAS, dass der Gq-gekoppelte und im ZNS vorkommende M1-Muskarinrezeptor bereits in früheren Arbeiten als „negativer Regulator der Oligodendrozytendifferenzierung und der Myelinisierung identifiziert“ worden sei. Einfach gesagt: M1-Rezeptoragonisten hemmen die Oligodendrozytendifferenzierung. Zur Erinnerung: Oligodendrozyten gehören zu den Gliazellen und bilden im Zentralnervensystem (ZNS) die Myelinscheiden der Axone. Sollen ZNS-­Läsionen remyelinisiert werden, müssen Oligodendrozyten-Vorläuferzellen (Oligodendrocyte Precursor Cells, OPC) rekrutiert werden und sich differenzieren. Das konnten Wissenschaftler bereits vor Jahrzehnten in Tiermodellen zeigen [2, 3]. In ZNS-Läsionen, in denen Remyelinisierung stattfindet, lassen sich vermehrt Vorläuferzellen von Oligodendrozyten nachweisen. Das gilt zumindest bei frühen Stadien der multiplen Sklerose. Der Nachweis deutet auf eine Rekrutierung und Differenzierung dieser Vorläuferzellen hin [4, 5]. Unglücklicherweise scheint mit fortschreitender Erkrankung das Rekrutierungspotenzial für OPC in den geschädigten ZNS-Bereichen abzunehmen [6 - 9] und damit vielleicht auch die Fähigkeit zur Reparatur der zerstörten Myelinscheide.

Wer PIPE-307 entwickelt

PIPE-307 wird von Contineum Therapeutics entwickelt. Das biopharmazeutische Unternehmen hat sich auf die Entwicklung neuartiger, oral verabreichbarer niedermolekularer Verbindungen (small Molecules) zur Behandlung neurologischer, entzündlicher und immunologischer Erkrankungen spezialisiert. Die Entwicklung läuft in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Neurologie des „Weill Institute for Neurosciences“ an der Universität Kalifornien (San Francisco). Zudem gibt es eine globale Lizenz- und Entwicklungsvereinbarung mit Janssen Pharmaceutica NV, einem der pharmazeutischen Janssen-Unternehmen von Johnson & Johnson. Neben PIPE-307 forscht Contineum an PIPE-791, einem LPA1-Rezeptorantagonisten (LPA = Lysophosphatidinsäure), zur Behandlung der idiomatischen Lungenfibrose und der progredienten MS.

Differenzierung der Oligodendrozyten fördern

Wichtig für die Remyelinisierung ist nach aktuellem Stand der Wissenschaft folglich, dass sich Oligodendrozyten-Vorläuferzellen zu Oligodendrozyten differenzieren. Die Aktivierung von zentralen M1-Rezeptoren hemmt diesen Prozess, während Antagonisten die Differenzierung fördern. Für die Differenzierung scheint vor allem die M1-Selektivität essenziell: Forscher konnten bereits vor Jahren den M1-Muskarinrezeptor als den kritischen Rezeptor bei der Differenzierung von Oligodendrozyten identifizieren, verglichen mit M2- bis M5-Rezeptoren [1, 10]. Das fanden sie in Studien mit Benzatropin heraus, einem Anticholi­nergikum mit hoher Affinität zu zentralen M1-Rezeptoren, das früher bei Parkinson eingesetzt wurde. Auch kamen sie in Untersuchungen mit dem H1-Antihistaminikum Clemastin, das zudem anticholinerg wirkt, zu diesem Ergebnis [1, 10].

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Mit dem Wissen um die Bedeutung des M1-Rezeptors wird PIPE-307 als ZNS-gängiger und selektiver M1-Rezeptorantagonist – zumindest theoretisch – zu einem vielversprechenden remyelinisierenden Kandidaten.

Welche Daten gibt es bereits?

PIPE-307 hat bereits die ersten In-­vitro- und In-vivo-Studien überstanden. Die in PNAS veröffentlichenden Studienautoren konnten zeigen, dass PIPE-307 die Differenzierung von Oligodendrozyten-Vorläuferzellen zu Myelin-exprimierenden Oligodendrozyten fördert. Sie konnten zudem in Gehirnschnitten von Mäusen (akut demyelinisiert) beobachten, dass PIPE-307 die Konzentration der Myelin-mRNA sowie des Myelinbasisproteins erhöhte und es zu einer Zunahme der Ranvier-Schnürringe kam. Das bestätige eine „funktionelle Remyelinisierung in einem komplexen System“, erklären die Studienautoren.

Mehr Oligodendrozyten auch beim Menschen

Auch in menschlichen Gehirnschnitten erhöhte PIPE-307 die Zahl der Oligodendrozyten (CC1+-Oligodendrozyten; CC1 = Cingulärer Cortex Area 1). Selbst in einer Probe eines älteren Menschen (über 50 Jahre) gelang es, dass sich durch PIPE-307 Oligodendrozyten-Vorläuferzellen differenzierten. Die Studienautoren nehmen an, dass der M1-Rezeptorantagonist auch bei älteren Menschen wirkt. Ob das „Mehr“ an Oligodendrozyten im menschlichen ZNS sodann auch Myelin erhöht, dieses eingebaut wird und die Patienten klinisch relevante Verbesserungen, z. B. beim Gehen, erfahren, gilt es noch zu zeigen.

PIPE-307 in MS-Mäusen erfolgreich

Zumindest in Mäusen konnten die Wissenschaftler die ersten solcher Daten erheben: In In-vivo-Studien an Mäusen, die an multipler Sklerose erkrankt sind (EAE = experimentelle Autoimmun-Enzephalomyelitis, Mausmodell für MS), trieb PIPE-307 in Dosen von 3 oder 30 mg/kg für 22 Tage die Remyelinisierung voran, und die Mäuse erholten sich auch funktionell. Die Behinderungswerte stiegen zwar auch unter PIPE-307, jedoch weniger stark als in der Kontrollgruppe.

­Kognition nicht beeinträchtigt

Interessant ist bei Muskarinrezeptor-Antagonisten ihre Wirkung auf die Kognition. Schließlich ist bekannt, dass Anticholinergika die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen können [11], weswegen sich die Studienautoren auch auf diese Frage konzentrieren. Die bisherige Botschaft mutet positiv an: In Dosen, welche die Remyelinisierung fördern können, stellten die Studienautoren unter PIPE-307 keine signifikante kognitive Beeinträchtigung fest.

Remyelinisierung zusammen mit Immunmodulatoren

Sollte PIPE-307 weiter „performen“ und der Wirkstoff es vielleicht irgendwann zur Zulassung schaffen, sehen die Studienautoren den Wirkstoff nicht als alleinige Therapie für Menschen mit multipler Sklerose. Vielmehr gehen sie von einer Kombination des zentralen M1-Rezeptorblockers mit Immunmodulatoren aus. Denn es bleibe essenziell, weitere Schübe und neue demyelinisierende Ereignisse durch krankheitsmodifizierende Arzneimittel zu verhindern, während gleichzeitig bereits demyelinisierte Bereiche sich durch PIPE-307 erholen könnten [1].

Phase-II-Studie läuft

Das forschende Unternehmen hinter PIPE-307 hat bereits zwei klinische Phase-I-Studien an gesunden Freiwilligen mit PIPE-307 abgeschlossen [12, 13]. Derzeit rekrutieren sie Probanden für eine randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte klinische Phase-II-Studie (VISTA). Die 30-wöchige Studie (vier Wochen Screening, 26 Wochen Behandlungsphase) vergleicht zwei Dosen von PIPE-307 mit Placebo an insgesamt 168 Patienten im Alter zwischen 18 und 50 Jahren in den Vereinigten Staaten. Einschlusskriterium ist, dass die Probanden an einer schubförmig remittierenden MS erkrankt sind, der häufigsten initialen Form, bei der sich die schubbedingten Symptome ganz oder teilweise zurückbilden [14, 15]. Es gibt zwei primäre Endpunkte: behandlungsbedürftige Nebenwirkungen und die Veränderungen der Sehschärfe auf beiden Augen. Bei den sekundären Endpunkten interessieren sich die Studienautoren unter anderem dafür, ob PIPE-307 im Magnetresonanztomografen (MRT) sichtbar die Myelinscheiden verändert und zudem, ob sich die Gehfähigkeit der Patienten verbessert [14].

Literatur

[1] Poon Michael M. Targeting the muscarinic M1 receptor with a selective, brain-penetrant antagonist to promote remyelination in multiple sclerosis, PNAS, 2024 vol. 121 | No. 32 August 6, 2024

[2] Targett M et al. Failure to achieve remyelination of demyelinated rat axons following transplantation of glial cells obtained from the adult human brain. Neuropathol Appl Neurobiol 1996;22:199-206

[3] Keirstead HS, Blakemore WF. Identification of post-mitotic oligodendrocytes incapable of remyelination within the demyelinated adult spinal cord. J Neuropathol Exp Neurol 1997:56:1191-201

[4] Raine CS, Scheinberg L, Waltz JM. Multiple sclerosis. Oligodendrocyte survival and proliferation in an active established lesion. Lab Invest 1981;45:534-46

[5] Lucchinetti C et al. Quantitative analysis of oligodendrocytes in multiple sclerosis lesions. A study of 113 cases Brain 1999;122:2279-95

[6] Chang A, Tourtellotte WW, Rudick R, Trapp BD. Premyelinating oligodendrocytes in chronic lesions of multiple sclerosis. New Engl J Med 2002;346:165-73

[7] Reynolds R et al. The response of NG2-expressing oligodendrocyte progenitors to demyelination in MOG-EAE and MS. J Neurocytol 2002;31:523-36

[8] Wolswijk G. Oligodendrocyte precursor cells in the demyelinated spinal cord, Brain 2002;125:338-49

[9] Wilson H, Scolding N, Raine C. Co-expression of PDGF α receptor and NG2 by oligodendrocyte precursor cells in human CNS and multiple sclerosis lesions. J Neuroimmunol 2006;176:162-73

[10] Deleu D, Northway MG, Hanssens Y. Clinical pharmacokinetic and pharmacodynamic properties of drugs used in the treatment of Parkinson‘s disease. Clin Pharmacokinet 2002;41(4):261-309

[11] Anagnostaras SG et al. Selective cognitive dysfunction in acetylcholine M1 muscarinic receptor mutant mice. Nat Neurosci 2023;6: 51–58

[12] Contineum Therapeutics Announces Publication of Encouraging Data in the Proceedings of the National Academy of Sciences on PIPE-307, Its M1 Receptor Selective Inhibitor, in Clinical Development for Relapse-Remitting Multiple Sclerosis. Pressemitteilung vom 31. Juli 2024 von Business Wire

[13] ClinicalTrials.gov: Phase I Study Evaluating Safety and Tolerability of Escalating Single and Multiple Doses of PIPE-307 and Food Effect in Healthy Volunteers (NCT04725175), https://clinicaltrials.gov/study/NCT04725175

[14] ClinicalTrials.gov: Study to Evaluate the Safety and Efficacy of PIPE-307 in Subjects With Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis (VISTA) (NCT06083753), https://clinicaltrials.gov/study/NCT06083753

[15] Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-­Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen. S2k-Leitlinie der Deutsche Gesellschaft für Neurologie e. V. (DGN), Sand: November 2023, AWMF-Registernummer: 030 - 050


Celine Bichay, Apothekerin, Redakteurin DAZ
redaktion@daz.online


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