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Leitlinienwatch kritisiert Adipositas-Leitlinie
Semaglutid und Co. wirklich dauerhaft einsetzen?
Sie dürfte nach dem 2022 begonnenen Ozempic-Hype mit Spannung erwartet worden sein, die neue deutsche Adipositas-Leitlinie. Auch das Transparenzportal „leitlinienwatch.de“ bezeichnet sie als eine „der wichtigsten Leitlinien in diesem Jahr“ – äußert jedoch speziell an einer Empfehlung darin deutliche Kritik.
Die DAZ hat sich bereits ausgiebig mit der im Oktober neu erschienenen Adipositas-Leitlinie auseinandergesetzt und dabei festgestellt: „Viele Wege führen zur Gewichtsreduktion“ – nicht nur die neuen GLP-1-Agonisten wie Semaglutid und Liraglutid.
Das Transparenzportal für medizinische Behandlungsleitlinien „leitlinienwatch.de“ rät seit dem 22. Oktober zudem zur Vorsicht bei der Lektüre einer „der wichtigsten Leitlinien in diesem Jahr überhaupt“ – insbesondere, wenn es um die „die weltweit gehypten ‚Abnehmspritzen‘“ geht.
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In der Kritik steht vor allem die Empfehlung 5.29B der Leitlinie, welche Leitlinienwatch so interpretiert, dass „bereits jetzt“ empfohlen wird, „die Präparate auch dauerhaft einzusetzen“, „obwohl Langzeitergebnisse zu zentralen Fragen der Sicherheit oder der erneuten Gewichtszunahme nach Absetzen noch fehlen“. Wörtlich lautet die Empfehlung in der Leitlinie:
„Eine medikamentöse Therapie kann bei einem BMI ≥ 27 kg/m2 (mit Orlistat ab BMI ≥ 28 kg/m2) und zusätzlichen Adipositas-assoziierten Risikofaktoren und/oder Komorbiditäten bzw. mit einem BMI ≥ 30 kg/m2 zum Gewichtserhalt (Maintenance) einer erzielten Gewichtsabnahme eingesetzt werden.“
Dabei sollte man jedoch bedenken, dass es sich bei einer solchen „Kann“-Empfehlung, die in der Leitlinie zusätzlich mit dem Empfehlungsgrad 0 gekennzeichnet ist, nach dem Bewertungsschema der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) um eine „offene“ Empfehlung handelt. Die medikamentöse Therapie zum Gewichtserhalt kann also erwogen werden, es kann aber auch auf sie verzichtet werden.
„Meta-Analysen zum Thema Gewichtserhalt durch Arzneimittel fehlen“
Die Qualität der Evidenz für die Empfehlung wird nach dem GRADE-Ansatz (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) zudem zwar mit „hoch“ eingestuft, allerdings bezieht sich diese Einstufung allein auf eine randomisierte kontrollierte von Novo Nordisk finanzierte Studie (STEP 4). In dieser war man zu dem Schluss gekommen, dass die Beibehaltung einer Semaglutid-Therapie im Vergleich zur Umstellung auf ein Placebo zu einem anhaltenden Gewichtsverlust in den folgenden 48 Wochen führt. In der näheren Erläuterung zur Empfehlung heißt es in der Leitlinie, dass man sich zur Empfehlung „kann“ entschlossen habe, weil „Meta-Analysen zum Thema Gewichtserhalt durch Arzneimittel fehlen“.
Es wird also auch ohne die Einschätzung von Leitlinienwatch in der Leitlinie selbst bereits transparent dargelegt, dass es in der medikamentösen Erhaltungstherapie bei Adipositas noch viele Unsicherheiten gibt.
Interessenkonflikte in der Leitlinie
Leitlinienwatch kritisiert darüber hinaus aber, dass „eine Leitlinie, die diese Behandlung wissenschaftlich neutral bewerten soll, nicht 9 Gutachter beteiligen kann, die Honorare von den Herstellern erhalten haben“. Dass es bei der Empfehlung potenzielle Interessenkonflikte gab, wird in der Leitlinie zwar transparent gemacht: „Doppelabstimmung aufgrund potentieller Interessenkonflikte“, heißt es dort. Unter 17 Stimmen gab es konkret sieben Enthaltungen, was zu einer Zustimmung zur Empfehlung von 90% geführt hat. Leitlinienwatch kritisiert jedoch, dass unklar sei, „warum bei Abstimmungen zur medikamentösen Therapie die Zahl der Enthaltungen immer unter 9 bleibt, obwohl 9 Autoren Gelder von Novo Nordisk, einem Anbieter dieser Therapien erhalten“ hätten.
Im Leitlinienreport der AWMF zur Adipositas-Leitlinie heißt es, dass bei der Konsensusfindung zu den einzelnen Empfehlungen sich Mitglieder der Leitliniengruppe mit moderaten Interessenkonflikten bei den Abstimmungen enthalten müssen, während bei geringen Interessenkonflikten Enthaltungen nicht als erforderlich angesehen werden.
Bei Doppelabstimmungen wird so vorgegangen, dass zunächst alle Expert:innen abstimmen, ohne sich zu enthalten, im zweiten Schritt sollten sich die Expert:innen mit Interessenkonflikten enthalten. Von der zweiten Abstimmung wird abgesehen, wenn bereits die erste Abstimmung eine Zustimmung von 100% erbringt, heißt es.
Die Interessenkonflikte finden sich im Anhang zum Leitlinienreport als tabellarische Zusammenfassung. Leitlinienwatch kritisiert insgesamt an der Leitlinie, dass von 38 Autoren 17 relevante Interessenkonflikte angeben. Deshalb erhält das Bewertungskriterium „Zusammensetzung der Leitlinien-Gruppe“ von Leitlinienwatch nur einen von drei möglichen Punkten. Hervorgehoben dabei wird, dass die beiden federführenden Leitlinienautoren relevante finanzielle Interessenkonflikte angeben. Allerdings heißt es in der tabellarischen Zusammenfassung der AWMF, dass sich diese beiden bei Abstimmungen enthalten.
Kritische Lektüre, aber kein Reformbedarf
Zudem kritisiert Leitlinienwatch, dass „eine externe Beratung oder Veröffentlichung einer Konsultationsfassung auf einer Webseite“ nicht stattgefunden habe. Insgesamt werden jedoch die Bemühungen zur Reduzierung von Interessenkonflikten in der Leitlinie als positiv hervorgehoben (drei von drei Bonuspunkten).
Mit insgesamt neun von 18 möglichen Punkten auf der Bewertungsskala von Leitlinienwatch liegt die Adipositas-Leitlinie somit genau im Mittelfeld. Das bedeutet nach der Interpretation von Leitlinienwatch, dass das Portal zwar keinen Reformbedarf für die Leitlinie sieht, aber eine kritische Lektüre („Achtung!“) empfiehlt.
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