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Gesundheitspolitisches Forum: Verschiebebahnhof unter den Sozialversicherungen &
Wenn ein neues Defizit in der GKV ausgemacht wird, haben Sozial- und Gesundheitspolitiker schnell die Ursachen diagnostiziert; grundsätzlich sind es die Leistungsanbieter im Gesundheitswesen (Krankenhäuser, Ärzte, Apotheker, Pharmaindustrie), die wieder einmal dem System tiefe Finanzlöcher zugefügt haben. Meistens wird dem Arzneimittelbereich eine besondere "Schuld" zugesprochen – so auch in den zurückliegenden Monaten. Dabei wird mit großer Regelmäßigkeit übersehen, dass die Ausgabenanteile der einzelnen Leistungserbringer über viele Jahre hinweg recht stabil sind – dies gilt auch für den Arzneimittelbereich, der ca. 15% der Gesamtausgaben der GKV umfasst (Abb. 1).
Es erstaunt immer wieder, dass von den Sozialpolitikern aus allen Lagern stets eine wesentliche Ursache des Defizits in der GKV verschwiegen wird: die Einnahmeseite, die durch politische Entscheidungen seit über zwanzig Jahren geschwächt wurde. Das als "Verschiebebahnhof" bekannte Phänomen führte regelmäßig zu einem Mittelabfluss bei den Trägern der GKV und begünstigte gleichzeitig die Rentenversicherungsträger wie auch die Bundesanstalt für Arbeit. Eine dieser gravierenden Entscheidungen war z. B. der im Jahre 1977 zurückgenommene Beitrag der Rentenversicherungsträger für die Krankenversicherung der Rentner von 17% auf 11,8%. Seitdem ist das jährliche Defizit in der Krankenversicherung der Rentner auf 60 Mrd. DM angewachsen (Abb. 2 und Abb. 3).
Auch die Mitte der 90er-Jahre auf 75% reduzierte Beitragsbemessungsgrenze des Arbeitslosengeldes für die Krankenversicherung verlief nach demselben Strickmuster: die GKV musste einen Mittelabfluss von 4 bis 5 Mrd. DM hinnehmen, damit die Bundesanstalt für Arbeit in gleicher Höhe entlastet werden konnte. Insofern bestand stets Interessenidentität zwischen dem jeweiligen Arbeitsminister und dem Bundesfinanzminister: Der Arbeitsminister musste entweder für die Liquidität der Rentenversicherungsträger geradestehen oder für den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit.
Der Bundesfinanzminister war daran interessiert, den Bundesausschuss für die Rentenversicherungsträger knapp zu halten. Man bediente sich bei der beitragsfinanzierten Krankenversicherung, die ausschließlich über Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile finanziert wird. Dem Gesundheitsminister blieb dann die undankbare Aufgabe, auf die Ausgabenseite der Leistungserbringer hinzuweisen und dort Einsparungen durchzusetzen.
In der Öffentlichkeit wird dieses Jonglieren mit Milliarden kaum wahrgenommen; die bekannten Sachverhalte werden nur in den Fachkreisen diskutiert. So hatte kürzlich auf einem Symposium der Friedrich-Ebert-Stiftung der Vorsitzende des Bundesverbandes der AOK, Dr. Hans-Jürgen Ahrens, darauf hingewiesen, dass den Trägern der GKV in den letzten zehn Jahren 25 Mrd. Euro (50 Mrd. DM) entzogen wurden. Dass dieser Trend ungebrochen ist, zeigt die Analyse der IKK (s. Tabelle).
Auch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichstellung der freiwillig krankenversicherten Rentner mit den pflichtversicherten Rentnern wird bei mehreren hunderttausend Rentnern zu Beitragssenkungen in der Krankenversicherung und damit zu einem Einnahmeausfall bei den Krankenversicherungen von ca. 300 Mio. Euro führen; dieser Effekt wird aus Sicht der GKV kaum diskutiert, mögliche Effekte einer Aut-idem-Substitution finden ein vergleichsweise großes Echo bei etwa identischer Größenordnung.
Die permanente Schwächung der Einnahmeseite der GKV durch sozialpolitische Entscheidungen mit dem Ziel, Rentenversicherungsträger und die Bundesanstalt für Arbeit zu begünstigen, ist nicht weiter tragbar:
- Durch den demographischen Wandel (Abb. 4) und eine hohe Arbeitslosigkeit (Abb. 5) ist die finanzielle Basis der GKV tendenziell "strukturschwach". Wenn diese erheblichen Mittelabflüsse nicht unterbleiben, wird die GKV nicht länger der ausschließlich beitragsfinanzierte Zweig der Sozialversicherung sein.
- Es ist nicht zielführend, wenn in der sozialpolitischen Diskussion der Eindruck einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen erweckt wird, gleichzeitig das Wegbrechen auf der Einnahmeseite weitgehend verschwiegen wird. Dies führt zu Fehlsteuerungen.
- Für das einzelne Mitglied einer Krankenversicherung geht jedes Maß an Transparenz und Identifizierung mit seiner Krankenkasse verloren, wenn sein Solidarbeitrag für die Krankenversicherung der Rentner, bezogen auf den Grundlohn, den größten Ausgabenblock seiner Krankenversicherung ausmacht (Abb. 6).
Völlig unbegründet ist in diesem Zusammenhang die häufig gestellte Forderung, dass auch die Leistungserbringerseite einen Beitrag zur Stabilität der Lohnnebenkosten leisten müsse. Wenn durch politische Entscheidungen der GKV ein immer größerer Leistungsumfang bei tendenziell zurückgehenden Einnahmen zugemutet wird, ist diese Forderung unangebracht.
Es wird bei zukünftigen Reformschritten innerhalb der GKV darauf ankommen, das durch politische Entscheidungen entstandene jährliche Defizit von 60 Mrd. DM im Bereich der Krankenversicherung der Rentner zurückzufahren und zukünftig Rentenreform und Gesundheitsreform zeitgleich zu behandeln. Evtl. muss zukünftig bei Entscheidungen über die Rentendynamisierung auch der gestiegene Wert der Sachleistung "Gesundheit" angemessen berücksichtigt werden.
In unserem gesundheitspolitischen Forum, einem offenen Diskussions- und Meinungsforum, nehmen Vertreter aus Industrie, Verbänden und Organisationen Stellung zu gesundheits- und berufspolitischen Fragen. Im Beitrag in dieser Ausgabe macht Dipl.-Kfm. Günther Sauerbrey, Bereichsleiter Health Care Relations bei der Firma Merz Pharma GmbH & Co. KGaA, auf den Verschiebebahnhof unter den Sozialversicherungen aufmerksam, einem Jonglieren mit Milliarden, das in der Öffentlichkeit nur wenig wahrgenommen wird.
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