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Neuordnung der Krankenversicherung: Bürgerversicherung versus Kopfpauschalen
Seit Ulla Schmidt und Horst Seehofer ihre Eckpunkte der Konsensverhandlungen zur Gesundheitsreform vorgestellt haben, werden die Rufe nach einer großen Umstellung des solidarischen Krankenversicherungssystems lauter. Soll das Gesundheitswesen finanzierbar bleiben, muss man sich der Realität stellen: Die Geburtenrate sinkt, die Menschen werden immer älter, der medizinische Fortschritt schreitet nicht zum Nulltarif voran.
Spätestens seitdem die von der Regierung eingesetzte Rürup-Kommission in diesem Frühjahr ihr Y-Modell zur Sanierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vorgestellt hat, sind die Begriffe Bürgerversicherung und Kopfpauschalen als potenzielle Retter des Gesundheitswesen geläufig:
Nachdem eine gewisse Sanierung der GKV durch Kostendämpfung und Strukturmaßnahmen stattgefunden hat, muss die Politik sich entscheiden, welchen Weg sie weiter gehen will, erklärten seinerzeit die beiden sozialdemokratischen Kommissionsmitglieder Bert Rürup und Karl Lauterbach. Seitdem steht Rürup für das Kopfpauschalensystem und Lauterbach für die Bürgerversicherung.
Die Modelle im Vergleich
Die Kopfpauschalen sind gänzlich vom Lohn abgekoppelt. Allein die erwachsenen Versicherten zahlen – und zwar unabhängig vom Einkommen – stets den gleichen Betrag. Im Gespräch sind rund 200 Euro, mal 20 Euro mehr, mal 20 Euro weniger. Geringverdiener sollen einen Zuschuss aus Steuergeldern enthalten.
Nach dem Rürup-Modell soll dieser Fall eintreten, wenn die Prämie 14 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens überschreitet. Der Subventionsbedarf wird – je nach Rechnung – auf zwischen 20 und 29 Mrd. Euro pro Jahr geschätzt. Ein Teil dieser Mehrausgaben soll durch mehr Einkommensteuer kompensiert werden: Da der bisherige Arbeitgeberanteil zur GKV an die Arbeitnehmer ausgeschüttet werden soll, müssten diese mehr Einkommen versteuern.
Bei der Bürgerversicherung bleibt es hingegen beim solidarischen und paritätischen System. Es werden lediglich mehr Menschen und weitere Einkommensquellen in dieses einbezogen: Auch Selbstständige und Beamte sollen künftig Pflichtmitglieder der Versicherung werden.
Ebenso sollen beispielsweise Miet- und Zinseinnahmen sowie Aktiengewinne zur Beitragsberechnung herangezogen werden. Die Versicherungspflichtgrenze von derzeit 3.450 Euro soll auf 5.100 Euro angehoben oder möglicherweise ganz aufgehoben werden.
Seehofer und Schmidt pro Bürgerversicherung
Schmidt und Seehofer haben bereits mehrfach deutlich gemacht, mit welchem Finanzierungsmodell sie liebäugeln: "Meine Sympathie gilt der Bürgerversicherung" sagte Schmidt in einem Interview in der aktuellen Ausgabe des "Focus".
Seehofer erklärte zeitgleich in einem "Spiegel"-Interview, dass auch er diesem Finanzierungsmodell den Vorzug gibt. "Ich weiß nicht, wann, ich weiß nur, dass sie kommen wird. Da gehe ich jede Wette ein", so der Unions-Gesundheitsexperte.
Vorwürfe, bei der Bürgerversicherung handle es sich um eine "Einheitsversicherung" oder "Zwangs-AOK" wies er zurück: An der Bürgerversicherung könnten sich selbstverständlich verschiedene Versicherungstypen beteiligen. "Warum soll eine private nicht mit einer gesetzlichen konkurrieren?", fragt Seehofer.
Tendenz zu Prämienmodell in der Union
Weder Schmidt noch Seehofer spiegeln jedoch die allgemeine Meinung ihrer Parteien wider. So vermag etwa CDU-Chefin Angela Merkel Seehofers Begeisterung für die Bürgerversicherung nicht zu teilen. "Bei einer Bürgerversicherung im Gesundheitssystem sehe ich die eindeutige Gefahr, dass eine Zwei-Klassen-Medizin in Grundsicherung und Zusatzversicherung entsteht und der Weg in die Einheitskasse vorprogrammiert ist", sagte sie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (27. Juli).
Merkel sprach sich stattdessen für eine Weiterentwicklung in Richtung eines "Prämienmodells mit realer Preisbildung für medizinische Leistungen" aus. Auch der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) kann der Bürgerversicherung nichts abgewinnen: Sie werde eher zu einer Verteuerung als zu einer Entlastung des Systems führen, schließlich stiegen mit mehr Mitgliedern nicht nur die Einnahmen sondern auch die Ausgaben.
SPD: Diskussion verfrüht
In der SPD übt man sich in Zurückhaltung. Selbst Bürgerversicherungs-Fan Schmidt bekundete Respekt vor Rürups Kopfpauschalenmodell. Man solle der Schlussbericht der Rürup-Kommission zur GKV abwarten (Vorstellung voraussichtlich am 28. August) und dann "ohne Zeitdruck diskutieren", so Schmidt gegenüber dem "Focus".
Die Ministerin meint ohnehin, dass der nunmehr gefundene Reformkonsens bis 2007 halten wird und die Frage der Finanzierung erst bis spätestens 2010 mit einer weiteren großen Reform beantwortet sein muss. Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Gudrun Schaich-Walch sagte am 25. Juli, in der SPD gebe es bei vielen eine Sympathie für die Bürgerversicherung – eine Festlegung habe es angesichts der "sehr gravierenden Entscheidung" über die künftige Finanzierung des Systems in der Fraktion aber noch nicht gegeben.
Im November soll das Thema bei SPD-Parteitag auf der Tagesordnung stehen. Auch SPD-Fraktionschef Franz Müntefering warnte vor "Schnellschüssen". Dass sich derzeit die Stimmen pro Bürgerversicherung mehren, sieht er mit Skepsis. Vielleicht sei es auch der "schöne Begriff", der so viele auf die Bürgerversicherung aufspringen lasse, sagte Müntefering dem Berliner "Tagesspiegel" (Ausgabe vom 27. Juli): "Einige Grüne sind mir da derzeit ein wenig zu forsch".
Klares Bekenntnis der Grünen
Tatsächlich sieht das Meinungsbild bei den Grünen weitaus klarer aus als bei den großen Parteien. Sie gelten von Beginn an als Verfechter der Bürgerversicherung. In der vergangenen Woche machte ihr prominentester Vertreter, Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer, deutlich, dass er fest mit dem neuen Versicherungsmodell rechne.
Die Koppelung der sozialen Sicherung an die Bruttolöhne sei auf Dauer nicht mehr haltbar – dies sei spätestens seit der Kabinettsklausur Ende Juni in Neuhardenberg klar, sagte Fischer zur Financial Times Deutschland (Ausgabe vom 24. Juli). Die grüne Fraktionschefin Sager erklärte, an einer Entscheidung zur künftigen Finanzierung des Gesundheitssystems noch in dieser Legislaturperiode führe "kein Weg vorbei".
Auch der Parteichef der Grünen, Reinhard Bütikofer will noch vor den nächsten Bundestagswahlen wissen "wie die der Umstieg in der Bürgerversicherung organisiert werden kann".
FDP: Bürgerversicherung ist gleich Einheitsversicherung à la DDR
Einigkeit besteht auch in der FDP: Für sie steht die Bürgerversicherung für ein verstaatlichtes Gesundheitssystem. Daher, so FDP-Gesundheitsexperte Dieter Thomae, sei es Aufgabe der FDP, "die zarten liberalen Pflänzchen im Gesundheitswesen zu retten und wo immer es geht weiter auszubauen". Am besten mit einem Prämiensystem.
FDP-Chef Guido Westerwelle sieht die "Einheitsversicherung" nahen: "Das kennen wir aus der DDR, da hat es auch nicht funktioniert". FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt sagte, "die sozialen Sicherungssysteme werden nicht besser, wenn alle einzahlen müssen". Negative Bestandteile des Systems wie mangelnder Wettbewerb und Intransparenz würden sich damit noch verstärken. Die Bürgerversicherung könne kein einziges Problem lösen.
Das Gesundheitswesen wird auch in den nächsten Jahren eine Baustelle bleiben. Kaum ist ein Reformwerk ausgehandelt, ist bereits der Streit über das nächste im Gange. Politiker aller Parteien sind sich einig: Aus dem gegenwärtigen System kann nichts mehr herausgeholt werden – es muss angesichts der demografischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts von Grund auf neu geordnet werden. Die Schlagworte lauten Bürgerversicherung und Kopfpauschalenmodell.
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